Lügen haben kurze Beine. Wenn dieser Satz der Wahrheit entspräche, wäre wohl die gesamte Menschheit nicht größer als 1,60: Politik und Kirche, PR-Abteilungen und Privatsender, auf der Straße und in den eigenen vier Wänden – jeder dreht hier und da ein bisschen an der Wahrheit, mal mehr und mal weniger. Pinocchio und Baron Münchhausen ebenso wie du und ich! Jeder Mensch lügt angeblich bis zu 200 Mal am Tag. Und jede noch so kleine Flunkerei ist an einen Zweck gebunden. Aber dieser muss nicht immer schlecht sein – und ist auch gar nicht selten unbewusst. Hören Sie also heute Tina Deneckens Beitrag „Warum wir lügen – hier erfahren Sie die Wahrheit, nichts als die Wahrheit“.
Jetzt mal ehrlich: Warum nehmen wir es denn mit der Ehrlichkeit nicht so genau?
“Wie geht´s?“ “Gut.“ “Das freut mich zu hören.“ So der gängige Wortlaut. Ob es dem Einen nun gut geht oder nicht. Ob es den Anderen zu hören freut oder nicht. Dabei wissen wir doch spätestens seit dem wunderbaren Schriftsteller Peter Bichsel: “Die Frage Wie geht’s? bleibt mit dem Wort Gut unbeantwortet.“ Aber in solchen Fällen ist es eben auch eine Frage der Höflichkeit. Und wer wollte eine solche “Lüge“ verurteilen?
“Gewohnheit, Sitte und Brauch sind stärker als die Wahrheit“, erklärte einst Voltaire!
Hinter etlichen “Fast“- oder “Nicht“-Wahrheiten abseits der Regeln eines höflichen Umgangs miteinander aber stecken fein nuancierte niedere Beweggründe:
Wir lügen, um in einem besseren Licht dazustehen, und versichern, grundsätzlich alten Damen den Sitzplatz im Bus anzubieten, dabei haben wir uns heute Morgen schlafend gestellt – es hat ja niemand gemerkt.
Wir lügen, um zu prahlen, und machen aus einem Stichling einen 40-Zentimeter-Dorsch. Dass den auch noch der Nachbar an der Angel hatte, lassen wir getrost unter den Tisch fallen.
Wir lügen, um einen bequemeren Weg einzuschlagen, und reiben uns mit schmerzverzerrter Miene die Schläfen, bevor der Vorgesetzte zur Frage anhebt, ob man heute wohl länger bleiben könne.
Wir lügen, um uns vor Unannehmlichkeiten, Kritik oder Strafe zu bewahren, erkranken ab der fünften Klasse in unregelmäßigen Abständen an “Diktatgrippe“ und lassen Jahre später im Büro knifflige Aufträge immer wieder ganz unten in die Ablage rutschen.
Wir lügen auch, um andere zu schützen. Oder: um andere nicht zu verletzen. Aber Halt! Ist dieser Zweck denn auch immer die Wahrheit? Denn womöglich fühlt es sich noch besser an, eine gute Tat vollbracht zu haben, als die Gewissheit, dass der andere davongekommen ist.
Sind wir wirklich so schlecht? Aber nein. Unsere heutige Konsum- und Leistungsgesellschaft, die stetig wachsende Konkurrenz fordert doch geradezu heraus, zu mauscheln, bereitwillig die eigenen Lügen und die der anderen zu glauben. Wir tun überrascht, wenn Versprechen der sich im Wahlkampf befindenden Parteien am Ende nichts mehr sind als Schall und Rauch. Dabei kannten schon etliche Generationen vor uns das Hauptinstrument der Macht: die Lüge!
Angst und Scham sind die Hauptantriebsfedern des Prinzips Lüge, ob Kanzlerkandidat oder Lieschen Müller, ob drohender Machtverlust oder ein versehentlich heruntergefallener Joghurt im Supermarkt.
“Was manche Menschen sich selber vormachen, das macht ihnen so schnell keiner nach.“ Weise Worte des Mediziners und Aphoristikers Gerhard Uhlenbruck.
Wir lügen nicht nur vor Publikum, sondern ebenso in die eigene Tasche: “Doch, wieso, ich studier‘ doch “Geschichte der Medizin“, weil mein Studiengang so großartige Perspektiven bietet!“ und – die eine unglückliche Freundin zur anderen – “Er hat mir neulich Rosen mitgebracht. Wir sind sooo glücklich!“
Hört man es sich oft genug selbst sagen, fühlt es sich nach Wahrheit an. Lieber gucken wir in die Luft als auf die eigenen Füße, man könnte ja feststellen, dass man sich auf dem Holzweg befindet. Denn diesen zu verlassen, zieht vielleicht unbequeme Konsequenzen nach sich.
Wie viele Arten gibt es, sich von der Wahrheit zu entfernen? Lass mich lügen – es sind viele!
Weiß oder vermutet der Redner, dass seine Aussage unwahr ist, darf man ihn einen Lügner nennen. Ist die Aussage nicht korrekt, aber der Redner selbst glaubt an die Richtigkeit seiner Worte, kann man ihn bezichtigen, die “Unwahrheit“ zu sprechen, nicht aber zu lügen! Strafrechtlich von Belang ist eine Lüge nur dann, wenn sie als Verleumdung, Meineid oder – in schriftlicher Form – als amtliche Falschbeurkundung gewertet wird.
Zwischen “Geflunker“ und “Intrige“, zwischen Aprilscherz und Betrug erstreckt sich eine beachtliche Grauzone. Schon etwas zu verheimlichen, kratzt bedenklich nah an der Lüge. Und wie steht es mit Ausreden, die niemandem wehtun? Natürlich ist das gemütliche Sofa verantwortlich dafür, dass man eine Verabredung absagt. Offiziell aber dauert es heute länger im Büro. Schon der Begriff Notlüge lässt einen Großteil an Zündstoff verpuffen. Wir alle tun es – da wollen wir mal nicht so sein. Die soziale Lüge, die der Leistungsmotivation und der Harmonie einer Gruppe dient, wird unter günstigen Umständen sogar zur Heldentat.
Und ein gebrochenes Versprechen – kommt dieses einer Lüge gleich? Es heißt doch “Bis das der Tod uns scheidet.“ Ja, aber hat man damals ahnen können, dass die kleinen Differenzen eines Tages unüberbrückbar würden?
Und schlummert nicht in uns allen ein Meister der Anpassung? Schließlich geht es meist darum, gute – und vor allem “glaubwürdige“ Geschichten zu erzählen! Wie oft gibt man stolz “Gesagtes“ wider, das doch in Wirklichkeit nur “Gedachtes“ war. Im Nachhinein sieht der verbale Gegner vor Dritten eben noch “dusseliger“ aus, wenn er trotz diesem einen, unschlagbaren Argument nicht klein beigeben wollte. Blöd nur, wenn uns dieses Argument erst auf der Heimfahrt eingefallen war. Aber das braucht der beeindruckte Dritte ja nicht zu erfahren! In der Erinnerung verweben sich eben die Gedankenstränge. Und kleine Erinnerungslücken werden mit dem Klebstoff der Phantasie verdichtet.
Zitiert man eine andere Person korrekt, also wörtlich, hat man sich nichts vorzuwerfen. Aus dem Zusammenhang gerissen aber begibt man sich leicht auf dünnes Eis!
Und schon Martin Luther sprach die warnenden Worte: “Die Lüge ist wie ein Schneeball: Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er.“
Aber: Max Frisch hat auch nicht Unrecht, wenn er sagt: “Die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand.“
Der Schwager meines Kollegen hat erzählt…
Eine wirkungsvolle Einleitung für eine urbane Legende. Und umso peinlicher, wenn der Adressat schon mindestens eine Version dieser Geschichte zu Ohren bekommen hat! Eine der Wahrheiten über das Lügen ist nämlich auch die Tatsache, dass fast alle früher oder später entlarvt werden. Trotzdem werden wir des Mogelns nicht müde. Für manchen gehört es sogar zum Job. Aber Werbeagenturen, Yellow-Press, Image-Berater und Schönheitschirurgen liefern letztendlich genau das, was wir bestellen: Make-up, gefälschte Markenware und Silikondekolletees, hübsch verpackt und mit einem künstlichen Lächeln überreicht. Und immer daran denken: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Im Grunde genommen, steht und fällt alles damit, ob man sich erwischen lässt, oder nicht.
“Der beste Lügner ist der, der mit den wenigsten Lügen am längsten auskommt“, sagte der englische Schriftsteller und Philosoph Samuel Butler.
Aus Mangel an Beweisen
Vermeiden von Augenkontakt, ein rotes Gesicht, Stammeln, häufiges Blinzeln, Wanken mit dem Oberkörper, Lächeln, auch wenn es nicht zur Situation passt – vor uns sitzt offensichtlich jemand, der lügt. Beweisen kann man das allerdings nicht. Bis jetzt! “MRT“, die funktionelle Magnetresonanztomografie, lässt sich im Gegensatz zu bisherigen Lügendetektortests nur schwer überlisten. Denn hier wird sichtbar: Beim Lügen werden gleich mehrere Hirnareale aktiv und ringen den Neuronen eine erhöhte Leistung ab. Während die Unwahrheit ausgesprochen wird, wird die Unwahrheit in einem anderen Areal gedacht und einem weiteren zugleich unterdrückt. Die Kernspin-Aufnahmen zeigen sogar, dass sich die Hirnstruktur eines notorischen Lügners von der eines aufrichtigen Menschen unterscheidet. Einige Experten vertreten die Theorie, die Vergrößerung des Hirns resultiere aus dem wachsenden evolutionären Druck, immer raffinierter lügen zu müssen.
Also, wie lautet die Wahrheit über das Lügen?
Männer, Frauen, Kinder, Tiere, Pflanzen – alle tun es! Männer, wenn es um den Job geht. Frauen, wenn es um ihr Alter geht. Kinder, wenn es um den Pudding geht, der aus dem Kühlschrank verschwunden ist. Wissenschaftler sind sich übrigens einig: Lügen zu lernen ist ein wichtiger Part unserer geistigen Entwicklung. Fängt man an, sich in andere hineinzudenken, fängt man auch schon mit dem Lügen an.
Tierisch gut schwindeln kann zum Beispiel das Pfauenauge: Die “Scheinaugen“ auf den Flügeln des Schmetterlings gaukeln gefräßigen Vögeln eine weitaus bedrohlichere Körpergröße vor. Und bestimmte Orchideen duften wie ein Wespenweibchen. Männliche Wespen fallen darauf herein und leisten brav ihre Bestäubungsarbeit. Feinde und
Beute austricksen oder Sexualpartner anlocken – hinsichtlich der Motive sind sich also irgendwie alle einig.
Und machen wir uns nichts vor: “Wenn alle Menschen immer die Wahrheit sagten, wäre das die Hölle auf Erden“, so das Fazit des französischen Schauspielers und Chansonniers Jean Gabin. Der eine oder andere hätte deutlich weniger Freunde und unter Umständen auch keinen Job mehr. Ehrlich währt am längsten – daran halten wir tapfer fest, aber eine Heuchelei hier, ein Flunkern da, wenn´s der Sache dient, dann bitte…
Tina Denecken, wissen.de-Redaktion