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Wie funktioniert die "Fernheizung" Europas?

Warum ist es in Skandinavien so viel milder als in Alaska, obwohl beide Regionen auf den gleichen Breitengraden liegen? Und warum wachsen in Südengland sogar Palmen, im südlichen Kanada dagegen nicht? Die Antwort liefert eine Meeresströmung, die Unmengen warmen Wassers aus dem tropischen Atlantik bis vor die Küsten Europas schwemmt. Diese Nordatlantikströmung wirkt dadurch als "Fernheizung Europas und prägt unser Klima. Doch wie kommt sie zustande? Was genau bewirkt sie? Und was wäre, wenn sie ausfällt?
NPO, 09.08.2024
Symbolbild AMOC

© NASA/ Goddard Space Flight Center Scientific Visualization Studio

Sie ist die Fernheizung Europas: Die Atlantische Meridionale Umwälzströmung (AMOC) zieht sich wie ein gigantisches Förderband durch den Atlantik und bewegt enorme Wassermassen. In jeder Sekunde fließen fast 20 Millionen Kubikmeter Wasser durch dieses Strömungssystem - etwa das Hundertfache des Amazonas-Durchflusses. Dieser von der Karibik bis ins Nordpolarmeer reichende Meeresstrom transportiert warmes Oberflächenwasser aus dem tropischen Atlantik in unsere Breiten und weiter in den hohen Norden. Parallel dazu strömt am Meeresgrund kaltes Tiefenwasser zurück nach Süden.

Wie die Strömung unser Klima prägt

Erst durch diese gigantische Umwälzströmung können wir hier in Europa ein vergleichsweise mildes Klima genießen. Denn ohne diese "Fernheizung" wären weite Gebiete unseres Kontinents weniger regenreich, fruchtbar und vor allem deutlich kälter. Die mittleren Temperaturen lägen mehrere Grad unter den heutigen. Im Winter würden dadurch die Meere bis weit in unsere Breiten zufrieren und mit dickem Meereis bedeckt sein. Schätzungen zufolge läge die Packeisgrenze im Atlantik dann etwa auf der Höhe von Südengland oder der deutschen Stadt Mainz.

Stattdessen profitieren wir von der wärmenden Wirkung des Nordatlantikstroms: In Großbritannien und Irland bringt der direkt an ihre Küsten reichende Warmwassereinstrom zwar viel Regen und Nebel, dafür können selbst südliche Gewächse und sogar Palmen an ihren Westküsten wachsen und den Winter überstehen. Aber Mittel- und Nordeuropa sind deutlich wärmer als Vergleichsregionen in ähnlichen Breiten. So liegen die mittleren Wintertemperaturen im nordnorwegischen Bodø dank der ozeanischen „Fernwärme“ bei relativ gemäßigten minus zwei Grad – obwohl der Ort knapp oberhalb des Polarkreises liegt. In Nome an der Westküste Alaskas, das ähnlich weit im Norden liegt, herrschen dagegen im Winter durchschnittlich minus 15 Grad.

Schema des Nordatlantikstroms
Schema des Nordatlantikstroms

© Goddard Space Flight Center der NASA

Der Motor der Umwälzströmung

Doch wie kommt dieses wärmende Strömungssystem zustande? Was treibt es an? Bei vielen Meeresströmungen, beispielsweise dem Golfstrom, spielen Winde eine entscheidende Rolle. Sie schieben das Oberflächenwasser des Meeres gewissermaßen vor sich her. Über dem Atlantik wehen die Winde jedoch meist von Westen nach Osten und der Nordatlantikstrom fließt nach Norden – größtenteils senkrecht zum Wind. Lange war es daher ein Rätsel, wo der "Motor" der atlantischen Umwälzströmung liegt.

Erst 1987 erkannte der US-Geochemiker Wallace Broecker, was den Nordatlantikstrom antreibt: Nicht der Wind, sondern Unterschiede in Temperatur und Salzgehalt des Meerwassers bringen die Wassermassen in Bewegung. Denn je wärmer und „süßer“ Wasser ist, desto geringer ist seine Dichte. Deshalb steigt dieses Wasser auf und sammelt sich an der Oberfläche des Meeres. Kühlt das Wasser dagegen wieder ab oder wird salziger, nimmt seine Dichte zu, es sinkt in die Tiefe ab. Dieses Absinken findet in einem Meeresgebiet vor der Küste Grönlands statt. Wie ein enormer Wasserfall innerhalb des Meeres fallen dort riesige Wassermassen in die Tiefe. Das erzeugt wiederum einen Sog, der Oberflächenwasser nachzieht – eine Umwälzpumpe kommt in Gang.

Inlandeis bei Kangerlussuaq, Grönland 2009
Auch der drastische Eisverlust auf Grönland trägt zur Abschwächung des Nordatlantikstroms bei.

Pumpe mit zwei großen Schwachpunkten

Das Problem jedoch: Dieser Strömungsmotor ist sensibel. Vor allem eines macht ihm zu schaffen und könnte ihn zum Stocken bringen: die steigenden Temperaturen im hohen Norden. Der Grund: Wird es in der Arktis wärmer, tauen die dortigen Gletscher schneller und es entsteht viel Schmelzwasser. Dieses ist jedoch nicht salzig und daher leichter als das Salzwasser des Meeres. Strömt es in den Ozean, bildet es daher ein Barriereschicht auf dem von Süden heranströmenden warmen Wasser. Das bremst dessen Abkühlung und verringert den Salzgehalt – und beides verhindert, dass dieses Warmwasser vor Grönland in die Tiefe sinkt.

Und noch ein Faktor kommt dazu: Durch die Erwärmung der Arktis schwindet das Meereis und zieht sich immer weiter nach Norden zurück. Die nach dem Polarsommer verbliebene Meereisfläche wird immer kleiner und selbst im Winter regeneriert sich dieser schwimmende Eispanzer nur noch unvollständig. Dadurch fehlt dem von Süden heranströmenden Warmwasser ein wichtiges Kühlaggregat. Denn am Rand dieser großen, schwimmenden Eisflächen kühlt sich Oberflächenwasser besonders effektiv ab. Bleibt dies aus, hemmt auch das die Umwälzströmung.

Tatsächlich zeigen Messdaten, dass diese beiden Faktoren schon Wirkung zeigen: In den letzten 150 Jahren ist die Atlantische Umwälzströmung immer schwächer geworden. Heute bewegt sie dadurch rund 15 Prozent weniger Wasser als noch vor Beginn des industriellen Zeitalters und des aktuellen Klimawandels. „In absoluten Zahlen bedeutet das eine Abschwächung der Strömung um drei Millionen Kubikmeter pro Sekunde – eine Menge, die dem Dreifachen des Abflusses aller Flüsse der Erde zusammen entspricht“, erklärt Stefan Rahmstorf vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK).

 Brickell, Miami, während der Überschwemmung im Oktober 2016
Für die Ostküste der USA bedeutete die Abschwächung der AMOC einen deutlichen Anstieg des Meerespiegels – zusätzlich zu der von arktischen Eisschmelze verursachten Erhöhung. Für ohnehin überschwemmungefährdete Städte wie das hier gezeigte Miami wären das keine guten Nachrichten.

Droht ein Ausfall unserer "Fernheizung"?

Doch was bedeutet dies für die Zukunft – und unser Klima in Europa? Noch sind die Auswirkungen dieser leicht schwächeren Meeressströmung kaum spürbar. Meeresforscher befürchten jedoch, dass sich das schnell ändern könnte, falls die Umwälzströmung einen Kipppunkt erreicht. Dabei gerät die Pumpe so stark aus dem Geleichgewicht, dass sie ganz ausfällt oder abrupt auf einen sehr niedrigen Gang herunterschaltet. Als Folge würde dann kaum noch warmes Wasser an unser Küsten gelangen. Den Prognosen des Weltklimarats IPCC zufolge könnte dies passieren, wenn der Klimawandel ungebremst weiter anhält.

Wann die kritische Schwelle für die ozeanische Fernheizung Europas erreicht wird, ist allerdings strittig: Das IPCC prognostiziert ein solches Umkippen erst nach dem Jahr 2100, einige Forschungsteams sehen die Gefahr allerdings schon viel früher. Ihren Modellen zufolge könnte es sogar schon bis 2050 der Fall sein. Einig sind sich die Meeres- und Klimaforscher aber in einem Punkt: Jede weitere Klimaerwärmung und Abschwächung der atlantischen Umwälzströmung wird unsere Lebensbedingungen weiter verschlechtern – auch ohne komplettes Umkippen.

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