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Das 20. Jahrhundert – vom Expressionismus bis zur Popliteratur
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bleibt das Erbe des 19. Jahrhunderts tonangebend, bis der Erste Weltkrieg die Sichtweisen radikalisiert. Besonders deutlich ist diese Tendenz in der Lyrik, wo die Kriegsteilnehmer Gottfried Benn und Georg Trakl zu einer extrem subjektiven und ausdrucksstarken Sprache gelangen: Der literarische Expressionismus ist geboren. Gleichzeitig wagt der Dadaismus die Sprachzertrümmerung und Verhöhnung der bürgerlichen Werte, was im Surrealismus nachwirkt.
Gleichfalls in den 1920er Jahren treten die Autoren der Neuen Sachlichkeit auf den Plan, die, wie Alfred Döblin, Gesellschaft und Politik kritisch beleuchten, in dieser Haltung gefolgt von Bertolt Brecht und seinem Konzept des Epischen Theaters. Richtungweisend für den modernen Roman wird die Technik des inneren Monologs: Marcel Proust, James Joyce und Virginia Woolf setzen eine subjektive über die äußere Realität. Daneben werden realistische Erzähltraditionen fortgeführt, von Thomas Mann etwa in vollendeter Virtuosität.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt sich aus der Erfahrung einer zunehmend als unerklärlich empfundenen Welt der Existenzialismus Jean-Paul Sartres, der in den Pessimismus Albert Camus' und in den französischen Nouveau Roman mündet sowie in das absurde Theater von Samuel Beckett und Eugène Ionesco. In Deutschland findet die Bewältigung der Vergangenheit Niederschlag in der »Gruppe 47«, aus der Autoren wie Heinrich Böll und Günter Grass hervorgehen.
Mit Hemingways Shortstorys beginnt der weltweite Einfluss der US-Literatur, der über die Theaterstücke von Tennessee Williams, die Romane von William Faulkner oder John Updike bis heute anhält. Aus Lateinamerika kommt ein wesentlicher Impuls durch den Magischen Realismus, mit Gabriel García Márquez als populärstem Vertreter. An der Wende zum 21. Jahrhundert präsentiert sich die Literatur als Sammelbecken unterschiedlichster Strömungen, in dem traditionelle und »postmoderne« Erzählweisen gleichberechtigt nebeneinander existieren.
Conrads Herz der Finsternis: Eine Reise in seelische Abgründe
Welches Anfangsszenario entwirft der Roman?
In Zentralafrika bricht Ende des 19. Jahrhunderts Kapitän Marlow im Auftrag einer belgischen Handelsgesellschaft an Bord des Flussdampfers »Nellie« zu einer geheimnisvollen Mission auf: Er soll ein marodes Dampfschiff zurückbringen, das irgendwo im Dschungel gestrandet ist. Und er soll nach dem berüchtigten Elfenbein-Agenten Kurtz forschen, der auf seinem Handelsposten ein autokratisches Schreckensregime errichtet hat ... Für den Freund von Abenteuerromanen hört sich das vielversprechend an. Joseph Conrad (1857–1924) gehörte zu den populärsten Autoren seiner Zeit und wird heute noch begeistert gelesen.
Was zeichnet »Das Herz der Finsternis« aus?
Die Erzählung »Das Herz der Finsternis« und all die anderen großen Werke des englischen Schriftstellers polnischer Herkunft bieten sehr viel mehr als nur die Spannung und exotische Szenerie herkömmlicher Abenteuerromane. Ihre psychologisch exakte Darstellung von Menschen in Grenzsituationen macht sie zu einem bedeutenden Teil der Weltliteratur. Um die bestechende Klarheit seines Stils hoch genug einzuschätzen, muss man wissen, dass Joseph Conrad die englische Sprache, in der er seine Werke schrieb, erst mit 19 Jahren erlernte.
Gibt es autobiografische Bezüge in Conrads Werk?
Ja, die exotischen Schauplätze zwischen Südamerika, Schwarzafrika und der südostasiatischen Inselwelt, an denen seine hochdramatischen Erzählungen und Romane spielen, kannte Conrad aus eigener Anschauung. Das verleiht seinem Schreiben hohe Authentizität und Glaubwürdigkeit. Auch die Erzählung »Das Herz der Finsternis«, neben dem Roman »Lord Jim« (1899) wohl Conrads bedeutendstes Werk, hat autobiografische Wurzeln: eine lebensgefährliche Kongo-Reise als Kapitän eines »Seelenverkäufers«. 1899 erschien »Heart of Darkness« in Fortsetzungen in einer Illustrierten, 1902 dann in Buchform und 1926 erstmals in deutscher Übersetzung.
Welchen Effekt hat die Reise auf die Hauptfigur?
Für den jungen Kapitän Marlow entwickelt sich die Fahrt auf dem Kongo in die Tiefen des Dschungels, in das Herz des Schwarzen Kontinents, zu einer Reise in sein innerstes Selbst. Eine faszinierende Reise, die aber alle Illusionen zerstört. Die Natur erscheint als bedrohtes, gleichzeitig bedrohliches Paradies: »Diesen Fluss hinaufzufahren, war wie eine Reise zurück zu den frühesten Anfängen der Welt, als noch die Pflanzen zügellos die Erde überwucherten und die großen Bäume Könige waren. Ein leerer Strom, ein großes Schweigen, ein undurchdringlicher Wald.«
Resignation verbreiten die trostlosen Spuren der so genannten Zivilisation: die europäischen Handelsstationen am Fluss mit ihren korrupten, verwahrlosten Glücksrittern.
Gelingt Marlows Mission?
Nein, Marlow scheitert. Er kann den Elfenbeinhändler Kurtz, der sich von einer ehemals hochherzigen Künstlerpersönlichkeit zu einem unmenschlich brutalen, größenwahnsinnigen Tyrannen entwickelt hat, nicht aus seiner tödlichen Verstrickung befreien. Für Kurtz kommt jede Hilfe zu spät. Schwer erkrankt übergibt er Marlow kurz vor seinem Tod ein Bündel Papiere mit einem Foto, das der junge Kapitän am Ende seiner Reise in London der Frau aushändigt, die den charismatischen jungen Kurtz einmal abgöttisch geliebt hat. Dessen letzten »flüsternden« Aufschrei »Das Grauen! Das Grauen!« lässt er stillschweigend als Absage an die Mächte der Finsternis gelten.
Woran übt Conrad Kritik?
Er greift den Kolonialismus an. Viele Details der Erzählung basieren auf Notizen aus Conrads Kongo-Tagebuch. Es spiegelt sein Entsetzen über die Ausbeutung der Kolonie durch das belgische Mutterland und die Heuchelei der christlichen Missionare, die der Misshandlung der Einheimischen tatenlos zusehen. In der Figur des Kurtz sehen manche Interpreten ein kaum verfremdetes Porträt des belgischen Königs Leopold II. (1835–1909), der den Kongo als Privatbesitz betrachtete und es verstand, seine persönliche Bereicherung als philanthropische Aktion zu verkaufen.
Wie wurde der polnischstämmige Conrad zum englischen Bestsellerautor?
Conrads Leben war durch die Exilerfahrung bestimmt. Grenzsituationen sah sich Józef Teodor Konrad Nalecz Korzeniowski, so der polnische Geburtsname des in der Ukraine geborenen Schriftstellers, in seinem häufig ausgesetzt. Lange Jahre fuhr der am 3.12.1857 geborene Conrad, der als Kind seine polnischen Eltern in die Verbannung nach Sibirien begleiten musste, zur See, zunächst als einfacher Matrose, schließlich als Kapitän. 1874 emigrierte Conrad nach Frankreich, 1886 nahm er die britische Staatsbürgerschaft an. 1894 nahm er Abschied von der Seefahrt und 1896 gelang ihm mit »Der Verdammte der Inseln« der Durchbruch als Schriftsteller. Weitere Erfolge waren die Romane »Lord Jim« (1900) sowie »Nostromo« (1904). Conrad starb am 3.8.1924 in der Nähe von Canterbury.
Welche Verfilmungen gibt es?
Conrads Erzählung »Das Herz der Finsternis« wurde 1993 unter ihrem Originaltitel von Nicolas Roeg mit Tim Roth und John Malkovich in den Hauptrollen für das Fernsehen verfilmt. Berühmter ist die Hollywood-Adaption unter Regie von Francis Ford Coppola (1979): »Apocalypse Now« verlegt die Story in das von den Amerikanern besetzte Vietnam. Aus dem riesigen Staraufgebot, unter anderen mit Martin Sheen, Robert Duvall und Dennis Hopper, ragt Marlon Brando heraus, der einem Alter Ego des Elfenbeinhändlers Kurtz tragisch-dämonische Konturen verleiht. Er hat im Dschungel Kambodschas eine Diktatur errichtet und soll im Auftrag der US-Armee liquidiert werden.
Else Lasker-Schülers Gedichte: Eine fantastische Gratwanderung
Warum beginnt Else Lasker-Schüler ein neues Leben?
Die 1869 in Wuppertal geborene Jüdin zieht mit ihrem Mann, dem Arzt Bertold Lasker, 1894 nach Berlin. Dort lernt Else Lasker-Schüler den Dichter Peter Hille kennen, der ihr zum Schreiben rät und sie in die Berliner Boheme einführt. In diesen Kreisen wird sie ermutigt, mit den Regeln des bürgerlichen Establishments zu brechen, um vorbehaltlos ihrer Bestimmung als Künstlerin zu folgen. Lasker-Schüler beginnt, sich von allen gesellschaftlichen Zwängen zu lösen, auch von ihrem Mann. Mit einem unehelichen Sohn – den Namen des Vaters wird sie nie verraten – lebt sie fortan ohne Einkünfte in völliger Armut. 1902 erscheint ihr erster Gedichtband »Styx«, in dem sie euphorisch die Freude am Leben preist: Sie selbst wohnt in dieser Zeit in einem dunklen Kellerraum.
Wie findet sie zum Expressionismus?
Dank Hille kommt sie in der Künstlerkolonie »Neue Gemeinschaft« unter, wo sie sich mit Schriftstellern wie Gottfried Benn, Richard Dehmel und Georg Trakl anfreundet. Hier trifft sie auch Herwarth Walden, den sie 1903, unmittelbar nach der Scheidung von ihrem ersten Mann, heiratet. Walden gibt die Zeitschrift »Der Sturm« heraus, die neben Franz Pfemferts »Aktion« zum wichtigsten Organ des Expressionismus in Deutschland wird. Zahlreiche Gedichte Lasker-Schülers erscheinen im »Sturm«. Ihr zweiter Gedichtband »Der siebente Tag« (1905) enthält das berühmte »Mein Volk«, das als das erste deutsche expressionistische Gedicht gilt. Mit »Meine Wunder« (1911) manifestiert sich die Liebe als das zentrale Thema ihrer Lyrik und ihre eigene Stellung als führende Repräsentantin des Expressionismus.
Warum stürzt sich die Lyrikerin in Traumwelten?
1912 lässt Walden sich von ihr scheiden. Lasker-Schüler stürzt in eine tiefe Krise, die sie durch eine Flucht in Traumwelten überwindet. Traumwelten beherrschen auch ihre folgenden Veröffentlichungen (vor allem »Hebräische Balladen«, 1913), in denen sie sich selbst als »Jussuf, Prinz von Theben« stilisiert und mystifiziert. Diese Rolle spielt sie auch nach außen; so lässt sie sich die Haare kurz schneiden und spaziert, als orientalischer Prinz verkleidet, in weiten Männerhosen und mit Fußglocken durch Berlin. In diesen exzentrischen Aufmachungen und wegen ihrer unkonventionellen Lebensweise als allein erziehende Mutter und Künstlerin wird sie zu einer stadtbekannten Persönlichkeit. Die »Gesammelten Gedichte« (1917) und eine zehnbändige Gesamtausgabe ihrer Werke (1919/1920) markieren den Höhepunkt ihrer Karriere.
Wie kommt es zur zunehmenden Vereinsamung?
Trotz ihres Erfolgs befindet sich Else Lasker-Schüler stets in Geldnöten und kann sich nur durch Lesungen und Auftragsarbeiten über Wasser halten. Nach dem Tod ihres Sohnes 1927 zieht sie sich aus der Öffentlichkeit zurück und vereinsamt völlig. 1933, mit 64 Jahren, verlässt sie nach einem brutalen Nazi-Überfall Deutschland. Sie emigriert zunächst in die Schweiz, dann nach Palästina. Am 22. Januar 1945 stirbt die Frau, die »Prinz Jussuf« war, einsam und völlig verarmt in einem Jerusalemer Krankenhaus. Ihr letzter und vielleicht schönster Gedichtzyklus »Das blaue Klavier« (1943) zeugt von ihrer Trauer um Verlorenes, aber auch von ihrer so oft enttäuschten und doch ungebrochenen Liebe.
Was charakterisiert das lyrische Werk?
Die Gedichte dieser provozierenden Lyrikerin sind stets auf ein imaginäres Du gerichtet – hoffend, mit diesem Du eine harmonische Einheit zu erlangen. In einfachen Sätzen und kaum verschlüsselten Bildern erschafft sie von intensiven Gefühlen bestimmte (Traum-) Welten, die Sinn und Schönheit stiften und in denen die Mangelhaftigkeit des wirklichen Lebens aufgehoben wird. ELse Lasker-Schülers Gedichte stellen einen einzigen Fluchtversuch vor der realen Welt dar, in der sie so sehr nach einem dauerhaften Glück suchte und doch nur bittere Enttäuschung fand.
Was bewirkte der literarische Expressionismus?
Er radikalisierte die Ausdrucksformen. Der Naturalismus, die dominierende Strömung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer Vielzahl neuer Richtungen abgelöst. Der Expressionismus machte es sich zum Ziel, durch eine ausdrucksstarke, »expressive« Dichtung zum »Wesen« des Menschen vorzudringen. Die Expressionisten verstanden sich als Weltverbesserer, die auf eine radikale »Erneuerung der Menschheit« zielten. Diese Strömung entstand um 1910 und erlebte vor dem Ersten Weltkrieg eine intensive Blüte; nach den desillusionierenden Kriegserfahrungen wandten sich die meisten Expressionisten von ihren früheren Idealen und den damit verbundenen Ausdrucksformen ab. Die bedeutendsten deutschen Expressionisten waren Gottfried Benn, Georg Heym, Georg Trakl und Else Lasker-Schüler.
Wussten Sie, dass …
Karl Kraus Else Lasker-Schüler die »stärkste und unwegsamste lyrische Erscheinung des modernen Deutschland« genannt hat?
Else Lasker-Schüler auch zeichnerisches Talent besaß? Ihr »Selbstbildniß im Sternenmantel«, das wahrscheinlich ihren Kopfputz als König von Theben zeigt, hat sie Franz Marc gewidmet. Es ist in der Pinakothek der Moderne in München ausgestellt.
Rilkes Aufzeichnungen des Laurids Brigge: Poetische Innenschau
Was ist das zentrale Thema des Werks?
Die zum Teil autobiografisch geprägten, zwischen 1904 und 1910 entstandenen »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« von Rainer Maria Rilke (1875–1926) sind ein sprachgewaltiges Musterbeispiel der Sprachlosigkeit. Nur einmal versucht sich Rilkes 28-jähriger Titelheld – der übersensible Spross eines zerfallenden dänischen Adelsgeschlechts, den es nach Paris verschlagen hat– an einem »Briefentwurf«. Dann gibt er die Korrespondenz zugunsten von Tagebucheinträgen gänzlich auf: »Wozu soll ich jemandem schreiben, dass ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, dass ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.«
Wie ist das Verhältnis von äußerer und innerer Handlung?
Eine fortlaufende »äußere« Handlung ist im Roman nicht mehr auszumachen; die einzelnen Abschnitte der »Aufzeichnungen« nähern sich bisweilen dem Prosagedicht: »Dass man erzählte, wirklich erzählte, das muss vor meiner Zeit gewesen sein.« Das Schreiben wird zu einem introspektiven Dialog mit sich selbst: »Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste.«
Wodurch sind Gegenwart und Vergangenheit charakterisiert?
Die Gegenüberstellung von urbaner Gegenwart und ländlicher Vergangenheit ist ein zentrales Moment der Erzählung: In den »Aufzeichnungen« ist Paris der Ort der Krankheit und der Ängste: »So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier«, lautet der erste Satz des Romans. Demgegenüber lässt Malte seine Kindheit auf dem Familiensitz Schloss Ulsgaard im »Zurückdenken« wieder auferstehen. Wird im industrialisierten Paris »fabrikmäßig« gestorben, so hatte auf Ulsgaard jeder (namentlich der Kammerherr Detlev August) seinen eigenen, »bösen, fürstlichen Tod«. Diese Personifizierung des Untergangs korrespondiert mit spiritistischen Sitzungen auf dem Familiensitz, bei denen die Toten wieder in den Kreis der Lebenden kommen. Das Diesseits in Paris ist gespenstisch, das Jenseits auf Ulsgaard real.
Im zweiten Teil der »Aufzeichnungen« weitet sich Maltes Bewusstsein mit der Vergegenwärtigung von Persönlichkeiten der Weltgeschichte (Karl der Kühne, Karl VI., die Päpste in Avignon). Privates und Kollektives mischen sich in immer handlungsärmeren Reflexionen.
Welchen geistigen Prozess durchläuft Brigge?
Der in der Großstadt verlorene Adelssohn begibt sich auf die Suche nach seiner »ungetanen Kindheit«, der die »Aufzeichnungen« eine neue (poetische) Heimat geben. Darüber hinaus nimmt der sensibilisierte Malte Paris und seine Bewohner mit neuen Augen wahr. Er »lernt sehen«. Es gelingt ihm, unter die »Oberfläche des Lebens« und der Dinge (etwa einer isoliert übrig gebliebener Hauswand) zu schauen, hin auf einen Wesenskern, das »Dahinter« der Fassade auch jener »verschütteten Gesichter« der »Fortgeworfenen« von Paris. Aus poetischer Sicht wird das Ganze (»Häuser, die nicht mehr da waren«) rekonstruierbar. Hugo von Hofmannsthal hatte schon 1902 davon gesprochen, dass man »mit dem Herzen denken lernen« müsse. Rilkes Malte richtet den »Scheinwerfer seines Herzens« nach innen und beginnt, mit dem Herzen zu sehen.
Hat Lyrik noch Sinn?
Ja, durch ihre poetische Innenschau legitimieren die »Aufzeichnungen«, die mit der Absage an die Korrespondenz mit der Außenwelt begannen, die Rolle des Dichters: »Denn die Erinnerungen sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, erst dann kann es geschehen, dass in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.« Diese Wende hat Rilkes Roman, der sich mit seiner lyrischen Sprache vom Realismus des 19. Jahrhunderts verabschiedet, seinen Platz in der Weltliteratur gesichert.
Wie entwickelte Rilke seinen individuellen lyrischen Ausdruck?
Der am 4.12.1875 in Prag geborene Rainer Maria Rilke war zunächst vom Symbolismus beeinflusst, entwickelte aber um 1900 eine ausgeprägt eigenständige poetische Bildlichkeit. In den Gedichtbänden »Das Buch der Bilder« (1902) und »Das Stunden-Buch« (1905) trat das lyrische Ich zugunsten des Gegenständlichen zurück. Der Begegnung mit dem Bildhauer Auguste Rodin verdankte Rilke die Auffassung von Dichtung als religiöser Handlung. Die »Duineser Elegien« und »Die Sonette an Orpheus« (1923) gelten als seine Hauptwerke. In den Elegien beschrieb Rilke den Tod als Übergang in einen Zustand nicht sichtbarer, doch absoluter Substanz der inneren Wahrheit, in den Sonetten pries er Leben und Tod als kosmische Erfahrung. Er starb am 29.12.1926 in der Nähe von Montreux.
Wussten Sie, dass …
Rilke, der eigentlich René hieß, seinen Vornamen in Rainer änderte, weil seine Freundin Lou Andreas-Salomé den Namen für einen Schriftsteller passender fand?
die wesentlich ältere und verheiratete Lou, die Rilke 1897 in München traf, auch nach dem Ende ihrer mehrjährigen Beziehung eine enge Vertraute und seine wichtigste Ratgeberin blieb?
Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Erinnerung retten
Von welchem Impuls getrieben, machte sich der Autor auf die »Suche nach der verlorenen Zeit«?
In seinem breit angelegten Panorama verfallender Aristokratie und dekadenter Bourgeoisie kämpft Marcel Proust um seine Erinnerung und damit um den Zusammenhalt seiner Persönlichkeit – im Wettlauf mit einer immer schneller verrinnenden Lebenszeit.
1907, als er bereits an schwerem Asthma litt, kehrte Proust an eine Stätte seiner Kindheit zurück: in den Küstenkurort Cabourg. Dort hatte er als Zehnjähriger eine glückliche Zeit verbracht. Von dort aus berichtete er zwei Jahre später nach Hause, er habe gerade ein »ganzes langes Buch begonnen – und beendet«. Eine der größten Übertreibungen der Weltliteratur: Proust wird noch 13 Jahre an dem Zyklus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« schreiben, ohne es jemals abzuschließen. Danach verlässt Proust sein schalldichtes Pariser Zimmer kaum mehr und schreibt, sogar noch auf dem Totenbett, wie manisch gegen die vergehende Zeit an seinem umfangreichen Meisterwerk, das auf sieben Teile anwächst und zwischen 1913 und 1927 erscheint.
Wonach sucht der Ich-Erzähler in dem Roman?
Nach seiner Vergangenheit. In seinem Zyklus versuchte Proust, sein »Vorleben« als Repräsentant der Pariser High Society wieder gegenwärtig zu machen: Seinem zu Beginn dieser »Suche« zehn Jahre alten und später durch Krankheit empfindsam gemachten Ich-Erzähler sind autobiografische Züge eingeschrieben. Auch die eigene Außenseiterposition als jüdischer Homosexueller wird thematisiert. Als Gesellschaftspanorama um die Familien Swann und Guermantes beleuchtet der Roman das Salondasein der Pariser Oberschicht; ihrer Dekadenz stellt Proust die ästhetische Dauer des Kunstwerks entgegen.
Was macht den besonderen Reiz des Werks aus?
Da ist das komplexe Romangeschehen, das sich mit seinen zahlreichen Motiven und verzahnten Handlungssträngen, seinen verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ebenen und epischen Reflexionen kaum nacherzählen lässt. Der eigentümliche Reiz des Romans liegt aber weniger in Wissenswertem zu Prousts Leben begründet, sondern verdankt sich der künstlerischen und philosophischen Bewältigung der Thematik: vor allem die komplexe, wenn auch weitgehend psychologische Erzählperspektive wirkt hier extrem modern.
Woher kommen die Erinnerungen?
Aus den Tiefen (und Untiefen) des sich erinnernden Bewusstseins: »Was wir Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen Empfindungen und Erinnerungen, die der Schriftsteller wiederfinden muss.«
Oftmals wird diese Erinnerung im Roman bewusst provoziert. Manchmal aber kommt sie unwillkürlich als eine Art imaginäres Déjà-vu: Beim Anblick dreier Bäume bei Balbec etwa, dem Betasten einer Serviette oder dem Klang eines an Porzellan geschlagenen Löffels. Diese Passagen einer »mémoire involontaire« haben Prousts Meisterwerk berühmt gemacht.
Was bewirkt ein Keks?
Der bekannteste Auftritt einer solchen »unwillentlichen Erinnerung« stellt die »Madeleine-Episode« dar, in der der Geruch eines in Lindenblütentee getauchten Gebäckstücks plötzlich lange vergessen geglaubte Jugenderlebnisse heraufbeschwört. In dieser Erfahrung fließen Jetzt und Früher unentwirrbar ineinander. Bei seiner Zeitvorstellung griff Proust auf Gedanken des französischen Philosophen Henri Bergson zurück, dessen Schriften auch andere Darstellungen von »mémoire involontaire« in der Moderne prägten.
Warum zog sich der Dandy und Lebemann in seine Wohnung zurück?
1871, zur Zeit der Pariser Kommune, kam Marcel Proust als Sohn eines Arztes aus der französischen Provinz und einer Jüdin in Auteuil zur Welt. Seit seinem neunten Lebensjahr litt Proust an Asthma, weswegen er den Schulbesuch oft unterbrechen musste. Nach seinem Jurastudium arbeitete er kurze Zeit als Anwalt. Finanziell unabhängig widmete er sich aber bald nur noch dem Pariser Gesellschaftsleben.
Nach dem Tod seiner Eltern begann Proust eine Beziehung mit seinem Chauffeur und späteren Sekretär Alfred Agostinelli, der 1914 bei einem Flugzeugabsturz starb. Wegen seiner Krankheit musste sich der Autor aus dem Leben der mondänen Salons in seine mit Kork austapezierte Wohnung zurückziehen. Hier schrieb er an seinem mehrbändigen Monumentalwerk, das die Erlebnisse seiner frühen Jahre verarbeitete. 1919 erhielt er dafür den renommierten Prix Goncourt, im Jahr darauf wurde er zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.
Wussten Sie, dass …
sich Proust mit einem Kritiker duellierte, der sein erstes Buch kritisiert hatte?
»Eine Liebe von Swann«, der Mittelteil des ersten Bandes, im Gegensatz zu allen anderen Teilen des Werkes in der Er-Form geschrieben ist?
Samuel Beckett in »Krapps letztes Band«, das im Jahr 1958 entstand, Marcel Prousts Vorstellung vom erinnernden Subjekt mit der Notiz des identitätslosen Titelhelden ad absurdum führte? »Hörte mir soeben den albernen Idioten an, für den ich mich vor dreißig Jahren hielt.«
Kafkas Verwandlung: Die Chronik einer alptraumhaften Existenz
Was macht das Leben des Titelhelden zum Alptraum?
»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.« Die Erzählung »Die Verwandlung« – entstanden 1912, erschienen 1915 – ist Franz Kafka (1883–1924) »im Bett eingefallen« und wurde nachts verfasst. Konsequenterweise beginnt die »Verwandlung« im Bett mit dem für Kafka typischen abrupten Erwachen in einen Alptraum. Der Traumlogik gemäß erscheint Gregor die Veränderung seines Leibes nicht weiter verwunderlich. Allein der Umstand, das »möbelerschütternde Läuten« des Weckers überhört zu haben, gibt ihm zu Besorgnis Anlass. Denn Gregor ist Handelsvertreter und der Wecker das wichtige Instrument der Pünktlichkeit.
Erst ist Gregor gewillt, sein Verschlafen auf seinen »anstrengenden Beruf« als Reisender zu schieben: »Der Teufel soll das alles holen!« Die »Verwandlung« ist auch die Geschichte einer (autobiografisch lesbaren) Verweigerung, die schnell aufgegeben wird: Noch bevor die Familie zusammen mit dem ob der Verspätung herbeigeeilten Firmenprokuristen durch die drei Zimmertüren auf Gregor einreden kann (wobei Mutter und Schwester Grete Besorgnis, Vater und Prokurist als Vertreter der Macht Unwillen äußern), will Gregor bereits seine Käferbeinchen »opfern, wenn die geringste Hoffnung bestünde, sich dadurch vom Bett zu befreien«.
Wie weit geht die Metamorphose?
Der Leser erlebt in der Folge die vollständige Tierwerdung Gregors, die einhergeht mit dem Übergang von einer Tag- zu einer Nachtexistenz: Die gesamte Wahrnehmung ändert sich, ebenso Gregors Gefühlsleben, das ins Triebhafte steuert. Symbol hierfür ist ein Illustriertenbild, das Gregor zuvor ausgeschnitten und mit einem Laubsäge-Goldrahmen versehen hatte: das Porträt einer Frau, die sich mit Pelzboa, Pelzhut und Pelzmuff modisch »zurückverwandelt« hat. Gregor wird es später mit dem Einsatz seines Körpers zu verteidigen suchen.
Wie verändert sich das Verhältnis zur Familie?
Als Folge der Verwandlung distanziert sich die Familie immer mehr, nur die Schwester traut sich noch zu dem Eingesperrten. Aber eigentlich ist dieser Zustand nur die logische Weiterführung der Hotelbettexistenz eines Reisenden: ein Ein- und Ausgeschlossensein, das Gregor bereits der Familie entfremdet hatte. Im Verlauf der Geschichte wandeln sich auch die Verhältnisse im Hause Samsa: Die Familie, die vom Einkommen Gregors gelebt hatte, muss sich nun Arbeit suchen. Als der Vater von seiner Stelle als Bankdiener heimkehrt, »bombardiert« er Gregor zur Strafe mit Äpfeln, von denen einer mit tödlicher Wirkung im Panzer stecken bleibt.
Warum gibt Gregor auf?
Er hat keinen Lebenswillen mehr, als sich auch das Verhältnis zur geliebten Schwester ändert: Grete, die voller Mitleid Nahrung brachte, wenn die Eltern schliefen, schiebt nun angeekelt fauliges Obst durch die Tür; endlich plädiert sie für die Verwandlung des Zimmers in eine leere Höhle. Als man einen Raum an drei unheimliche »Zimmerherren« vermieten und das Wohnzimmer als eigentliches Domizil aufgeben muss, wird Gregors Revier zur Abstellkammer. Einen Ausbruchsversuch nimmt die Schwester zum Anlass, die Eltern davon zu überzeugen, dass man versuchen müsse, das »Untier« und »den Gedanken loszuwerden, dass es Gregor ist«. Der endgültige Tod von Gregors Identität: Er zieht sich »zum Sterben traurig« zurück und entschläft.
Was bleibt von Gregor?
Die Erinnerung an ihn ist ausgelöscht. So sehr ist Gregors ursprüngliche Existenz inzwischen vergessen, dass selbst Kafkas Geschichte über ihn hinwegtritt. Der Kadaver wird von der Magd mit dem Besen aus der Wohnung gekehrt. Die Zimmerherren werden vertrieben. Man erhebt sich aus den Betten und fährt erlöst aufs Land; die Eltern bemerken, wie schön die Tochter geworden ist. Als »eine Bestätigung ihrer neuen Träume« will es erscheinen, als Grete »ihren jungen Körper dehnte«: ein letzter Schlag des Erzählers gegen die ungelenken Räkelversuche des Käfers zu Beginn.
Wussten Sie, dass …
Kafkas Darstellung des labyrinthisch gefangenen Menschen zum Synonym für unentrinnbare, bedrückend-absurde, »kafkaeske« Zustände wurde?
nach Kafkas Willen alle Manuskripte, von denen zu Lebzeiten kaum etwas veröffentlicht worden war, vernichtet werden sollten? Max Brod widersetzte sich dem Wunsch des Freundes und rettete damit Werke, die zu den größten der Weltliteratur zählen, darunter die Romanfragmente »Das Schloss«, »Der Prozess« und »Der Verschollene«.
Warum führte Kafka ein Doppelleben als Schriftsteller und Beamter?
Seine anstrengende Doppelexistenz verdankte er seinem dominanten Vater, mit dem er in »Brief an den Vater« (1919) abrechnete. Er fügte sich dessen Willen, studierte entgegen seinen Neigungen Jura und arbeitete von 1907 bis 1922 bei einer Versicherungsgesellschaft. Die literarische Tätigkeit bereitete dem am 3.7.1883 in Prag geborenen Franz Kafka dann schlaflose Nächte. Seine Geschichten beendete er oft erst im Morgengrauen und seine Tagexistenz als Angestellter wurde ihm zusehends verhasst. 1917 erkrankte Kafka an Tuberkulose, die auch zu seinem frühen Tod am 3.6.1924 in der Nähe von Wien führte. Kafka fühlte sich in seinem Leben wohl so verloren wie seine Helden in den labyrinthischen Gebäuden der Romanfragmente »Der Prozess« (1925) und »Das Schloss« (1926).
Heinrich Manns Untertan: Der Prototyp eines Karrieristen
Wer steht im Zentrum des Geschehens?
Es ist der Fabrikantensohn Diederich Heßling, dessen Lebensgeschichte von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter in »Der Untertan«, Heinrich Manns (1871–1950) bedeutendstem Werk, beschrieben wird. Formal wie ein klassischer Entwicklungsroman aufgebaut, stellt das Buch prägende und bezeichnende Stationen seines Werdegangs dar:
Von der Kindheit in einem autoritären Elternhaus ist zunächst die Rede, und schon in dieser ersten Phase seines Lebens zeigt sich der Junge für das Erleiden institutioneller Macht empfänglich, wie sie sein Vater und die Schule auf ihn ausüben. Diederich empfindet die Macht, die Menschen über andere haben, als anziehend und richtet sein Verhalten danach aus, Teil dieser Macht zu sein. So schließt er sich während des Studiums in Berlin einer kaisertreuen schlagenden Burschenschaft an. Hier wie im Militärdienst findet er feste Machtstrukturen, die ihm Halt geben und ihn stolz machen. Denn Teil eines solchen Gefüges zu sein, erlaubt ihm auch, selber Macht auszuüben – und das ist sein Ziel.
Wie gelingt der Aufstieg an die Spitze?
Nach dem Tod des Vaters kehrt Diederich in seine Heimatstadt zurück. Er ist jetzt Oberhaupt der Familie und Leiter der vom Vater ererbten Papierfabrik. Die folgenden Episoden zeigen ihn ganz als Haustyrann und intriganten, opportunistischen Karrieristen, der sich eine bedeutende Stellung aufzubauen versucht. Die Heirat mit einer reichen Erbin ermöglicht ihm die Erweiterung der Geschäftstätigkeit; als Stadtverordneter und bei gesellschaftlichen Ereignissen erweist er sich als geschickter, das politische Ränkespiel beherrschender Lokalpolitiker, der die Dinge stets zu seinem persönlichen Vorteil zu nutzen weiß. Die Schlussepisode zeigt den mittlerweile wohlhabenden und einflussreichen Bürger Diederich Heßling auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Bei der Einweihung eines Denkmals für Kaiser Wilhelm I. wird ihm ein hoher Orden verliehen.
Wie wird der Held durch die Gesellschaft geformt?
An einer Kette von Stationen führt Mann vor, wie das im wilhelminischen Deutschland herrschende politische und gesellschaftliche Gefüge Diederich zu dem gemacht hat, was er ist: kriechender Untertan und zynischer Tyrann zugleich. Einerseits ist der Druck auf ihn so groß, dass er sich dem »unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus« des streng hierarchisch geordneten Staates nur unterwerfen kann. Andererseits ermöglicht die Eingliederung in diese Machtstrukturen die Ausübung eigener Macht: »Wer treten wollte, musste sich treten lassen«, lautet folgerichtig seine Maxime. Diederich wird dabei nicht als »Person« mit individuell entfaltetem Charakter dargestellt, sondern als »Typ«: Er ist ein Repräsentant seiner Zeit, denn jedes politische System formt den Charakter, den es zur Machterhaltung benötigt, und das Kaiserreich braucht feige Untertanen ohne Rückgrat – so die herausfordernde Grundaussage des Buchs.
Weist der Roman über seine Zeit hinaus?
In seiner unerbittlichen Diagnose besitzt der »Untertan« heute noch dieselbe Aktualität wie zum Zeitpunkt seines Entstehens, obwohl es keinen Kaiser und keine Prügelstrafe mehr gibt. Dass es Opportunisten und Mitläufer weit bringen können, war nicht nur zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bittere Wahrheit. Sieht man vom historischen Gewand ab, hätte »Der Untertan« ebenso gut 1933, 1950 oder heute geschrieben werden können.
War Heinrich Mann ein Moralist?
Ja, seine moralische Grundhaltung äußerte sich in der Kritik an der bürgerlichen Doppelmoral und am Kadavergehorsam der wilhelminischen Zeit, wie in den Romanen »Professor Unrat« (1905) und »Der Untertan« (1918). Heinrich Mann wurde am 27.3.1871 in Lübeck geboren und übersiedelte 1893 mit seiner Familie nach München. Das Verhältnis zu seinem Bruder Thomas, in dessen Schatten sein literarisches Schaffen stand, war auch wegen unterschiedlicher politischer Anschauungen nicht konfliktfrei. 1933 floh Heinrich über Frankreich – wo der zweibändige historische Roman über Heinrich IV. (1935/1938) entstand – in die USA. Er starb vor seiner geplanten Rückkehr am 12.3.1950 in Santa Monica, Kalifornien.
Wussten Sie, dass …
»Der Untertan« erst vier Jahre nach Fertigstellung erscheinen konnte? 1914 sollte der Roman in Fortsetzungen in einer Zeitschrift veröffentlicht werden, doch kaum dass die Serie auf den Weg gebracht war, wurde sie abgebrochen – der Erste Weltkrieg hatte begonnen. »Im gegenwärtigen Augenblick kann ein großes öffentliches Organ nicht in satirischer Form an deutschen Verhältnissen Kritik üben«, begründete die Redaktion.
Joyce' Ulysses: Epochales Sprachexperiment
Schildert der Roman wirklich nur einen Tag?
Ja, der »Ulysses« (1922) des Iren James Joyce (1882–1941) spielt am 16. Juni 1904. In einem ständigen Perspektivwechsel beschreibt »Ulysses« (1922) in seinen 18 Kapiteln parallel 24 Stunden im Leben des jüdischen Anzeigenvertreters Leopold Bloom und der verkrachten Künstlerexistenz Stephen Dedalus: Letzterer ein Porträt des Autors als junger Mann, das Joyce bereits um 1900 in seinem Romandebüt »Stephen der Held« gezeichnet hatte. Das vordergründige Hauptthema des Romans, den Hermann Broch als »Welt-Alltag« lobte, ist Blooms banaler Tagesablauf und Dedalus' wachsende Erkenntnis seiner dichterischen Sendung. Eigentlich aber hat Joyce ein überaus realistisches Bild des täglichen Dubliner Straßenlebens entfaltet; die Wege seiner Figuren zog er teils auf Straßenkarten nach. »Als ich am —Ulysses‹ schrieb, versuchte ich, Farbe und Ton von Dublin mit meinen Wörtern wiederzugeben. Die glitzernde Atmosphäre Dublins, sein zerfetztes Durcheinander, die Welt seiner Bars, seine gesellschaftliche Unbewegtheit – sie konnten nur durch die Beschaffenheit meiner Wörter vermittelt werden.«
Was ist experimentell am »Ulysses«?
Es ist vor allem der Umgang mit der Sprache, der diesen Roman zum Experiment macht. Der Sprachvirtuose Joyce ließ darin sein gewaltiges enzyklopädisches Wissen einfließen: der Wortschatz des voluminösen Buches beträgt nahezu 30000 Wörter, etwa der Wortschatz Goethes. Aufgenommen sind auch Neologismen, die in der Weltliteratur nur einmal vorkommen und die Joyce entlegensten Publikationen entnahm. Überhaupt ist jedes Kapitel des Buchs in einem anderen Stil geschrieben; so werden nicht zuletzt alle nur denkbaren literarischen Traditionen parodiert und persifliert. Die variantenreiche Sprache bezieht die ungeschönte Wiedergabe der Gossensprache mit ein. In manchen Passagen setzt Joyce den so genannten »Stream of Consciousness« (Bewusstseinsstrom) ein: Darin bildet der Text möglichst ungefiltert das ab, was einer Figur durch den Kopf geht – so etwa am Ende des Romans im berühmten Monolog Molly Blooms, der Frau Leopolds.
Woher kommt der Titel?
Der Titel des »Ulysses« und das zentrale Motiv der Irrfahrt gehen auf Homers »Odyssee« zurück. Ursprünglich wollte Joyce jedes Kapitel seines Romans zum Großteil nach einem Motiv oder einer Figur des Vorbilds benennen: etwa Telemach, Kalypso, Hades, Sirenen, Zyklopen, Circe oder Penelope. Er verwarf den Plan erst kurz vor Drucklegung. Trotzdem sind die Bezüge mannigfach, wenn auch zumeist ironisch gebrochen. So schrieb Joyce einmal den Anfang von Homers Epos auf Griechisch auf ein Notizblatt und skizzierte Leopold Bloom mit Knollennase, Weste und Vatermörder daneben. Sein Odysseus ist eher ein kleinbürgerlicher Möchtegern-Macho, seine Penelope/Molly mehr Inbegriff der Wollust denn keuscher Treue.
Wussten Sie, dass …
der 16. Juni, der Tag, an dem der »Ulysses« spielt, von Verehrern in Dubliner Pubs, und nicht nur dort, als »Bloom's Day« wie ein Nationalfeiertag begangen wird?
Milne und Kästner: Klassiker der Jugendliteratur
Seit wann gibt es Jugendliteratur?
Eine eigenständige Literatur für Kinder und Jugendliche entstand erst im 18. Jahrhundert. Seitdem haben große Autoren Werke geschaffen, die zu echten Klassikern des Genres geworden sind und nicht nur junge Leser begeistern. Manche Charaktere haben auf der Leinwand ein zweites Leben entwickelt.
Wer ist Pu der Bär?
Ein Teddybär. Er spielt in »Pu der Bär« (1926) von A. A. Milne neben dem Sohn des Autors, Christopher Robin, die Hauptrolle. Pu und seine Stofftier-Freunde Ferkel, I-Ah, Kaninchen, Eule, Tieger, Känga und Ruh, die alle ihren eigenen Charakter besitzen, erleben in einem Wald aufregende Abenteuer. Retter in der Not ist stets Christopher Robin, der seinen Kuscheltieren gegenüber eine »erwachsene«, väterliche Rolle einnimmt. Trotz dieses didaktischen Moments sind die Erzählungen keineswegs moralinsauer, sondern im Gegenteil von großem Witz, herrlicher Skurrilität und Zärtlichkeit geprägt. Auch wegen der kongenialen Zeichnungen von Ernest H. Shepard ist »Pu der Bär« ein Buch, das mit seiner heiteren Atmosphäre, seinem überbordenden Ideenreichtum und seinen einfachen Weisheiten Kinder jeden Alters ebenso zu faszinieren vermag wie Erwachsene.
Hinter wem sind Emil und die Detektive her?
Hinter einem Erwachsenen, der Emil bestohlen hat. »Emil und die Detektive« (1929) von Erich Kästner (1899–1974) spielt im »Dschungel« der Großstadt Berlin. Mit Mut und Einfallsreichtum und unterstützt von anderen Kindern beschafft sich Emil sein Geld wieder. Das Buch fesselte mit seiner einfachen, dialogreichen und humorvollen Sprache und seiner spannenden Handlung Millionen von Kindern. Kästner nimmt seine jungen Helden ernst, konfrontiert sie mit der fragwürdigen Alltagswirklichkeit der Erwachsenen und erklärt sie zu Hoffnungsträgern für eine bessere Welt. Vielleicht ist diese Parteinahme der Hauptgrund für die ungebrochene Aktualität des Buchs.
Aus welchem Antrieb schrieb Kästner?
Erich Kästner hat sich stets als Moralist verstanden, der den Menschen ihre Schwächen vor Augen hält. Dies wird in seinen an Erwachsene gerichteten Werken ebenso deutlich wie in seinen Kinderbüchern, von denen »Emil und die Detektive« (1929), »Pünktchen und Anton« (1931), »Das fliegende Klassenzimmer« (1933) und »Das doppelte Lottchen« (1949) Weltruhm erlangten. Die jüngsten Verfilmungen mehrerer Kästner-Kinderbücher zeigen, welche Identifikationsflächen seine Figuren immer noch zu bieten vermögen.
Wussten Sie, dass …
Erich Kästner auch für sein literarisches Werk, das nicht für Kinder gedacht ist, hohe Ehrungen erhalten hat? So verlieh man ihm 1957 den Georg-Büchner-Preis, einen der angesehensten deutschen Literaturpreise.
die Walt Disney Company in den Jahren 1966 bis 1983 insgesamt fünf Verfilmungen von Geschichten mit Pu dem Bären produzierte? 1971 und 1972 gab es sogar russische Zeichentrickfilme. Seit 1998 besitzt Walt Disney sämtliche Rechte an den Figuren und realisierte weitere Filme.
Woolfs Leuchtturm: Das Bewusstsein als Spiegel des Geschehens
Was ist die typische Eigenart der Romane Virginia Woolfs?
Vor allem die spezielle Erzähltechnik: Unter Verwendung und gleichzeitiger Weiterentwicklung der Technik des inneren Monologs – einer Abbildung von Gedanken und Bewusstseinsvorgängen in der Art eines Selbstgesprächs – wird das Geschehen nicht durch einen Erzähler geschildert, sondern in der Spiegelung im Bewusstsein der Figuren abgebildet. Damit erklärt Virgina Woolf die Welt im Kopf zur eigentlichen Realität.
Wie lässt sich der Leuchtturm-Roman gliedern?
»Die Fahrt zum Leuchtturm« besteht aus drei Teilen. Um einen kürzeren mittleren Abschnitt, der einen Zeitraum von zehn Jahren zusammenfasst, sind die Schilderungen jeweils weniger Stunden zweier Tage angeordnet. In diesen beiden Teilen herrscht eine multiperspektivische Erzählweise vor; das Geschehen wird in der Sichtweise des Bewusstseinsstroms verschiedener Figuren wiedergegeben. Durch die verschiedenen Perspektiven ergibt sich bei aller Widersprüchlichkeit ein Überblick über das große Ganze.
Was hält die Teile des Textes zusammen?
Der erste Teil des 1927 publizierten Romans spielt an einem Septembernachmittag vor dem Ersten Weltkrieg im Leben der Familie Ramsay. Der Philosophieprofessor Ramsay, seine Frau, ihre acht Kinder, eine Malerin und einige weitere Gäste verbringen im Ferienhaus der Familie auf den Hebriden den Sommerurlaub. Eine Bootsfahrt der Gesellschaft zum nahen Leuchtturm wird geplant, muss wegen schlechten Wetters aber abgesagt werden.
Im zweiten Teil werden die Ereignisse der nächsten zehn Jahre von einem Erzähler skizziert: Mrs. Ramsay und zwei ihrer Kinder sterben, das Ferienhaus verkommt.
Der dritte Teil führt den verwitweten Professor, seine verbliebenen Kinder und auch die übrigen Gäste des zehn Jahre zurückliegenden Urlaubs wieder in das Haus an der Westküste Schottlands. Die einst geplante Fahrt zum Leuchtturm kann nun endlich stattfinden. Dadurch erhält der Roman eine Strukturklammer, die noch dadurch betont wird, dass es der Malerin gelingt, ein Gemälde des Ferienhauses zu vollenden – ein Vorhaben, an dem sie im ersten Teil noch gescheitert war.
Was interessiert Virginia Woolf an ihren Figuren und dem Stoff?
Das Geschehen dieses symbolreichen Romans, in dem Virginia Woolf eigene Kindheitserinnerungen verarbeitet hat, wird von vielen zunächst bedeutungslosen Ereignissen bestimmt: Nicht äußere Vorgänge interessieren die Autorin, sondern eine genaue psychologische Studie der Figuren. Die Familie Ramsay und ihre Gäste bilden eine Art Mikrokosmos, der die ganze Gesellschaft verkörpert.
Wodurch werden die Beziehungen zwischen den Figuren so spannend?
Durch latente Konflikte und unausgesprochene zwischenmenschliche Probleme. Sowohl in der Gegensätzlichkeit der intuitiv handelnden Mrs. Ramsay und ihres rational denkenden Ehemanns als auch im zunächst schwelenden, nach Mrs. Ramsays Tod ausbrechenden und sich erst zum Schluss lösenden Generationenkonflikt zwischen Mr. Ramsay und seinem Sohn John befasst sich Woolf mit allgemeinen zwischenmenschlichen Konstellationen. Ganz der Auffassung verpflichtet, dass sich die Welt nicht durch eine äußerliche, »logische« Handlung, sondern nur als Reflex im Subjekt darstellen lässt, legt sie das Gewicht auf den Augenblick der »Offenbarung«, in dem eine hinter den unzusammenhängenden Eindrücken, in die das Leben zerfällt, verborgene Realität ahnbar wird: Hinter dem Chaos, das unsere Welt ist, können sich in kurzen Momenten Sinn und Ordnung zeigen.
Wussten Sie, dass …
die Autorin mit ihrem Mann zusammen einen Verlag – Hogarth Press – gründete?
Virginia Woolf mit der Schriftstellerkollegin Vita Sackville-West (1892–1962) ein intimes Verhältnis hatte?
sich die Autorin mit zahlreichen Essays in der Frauenbewegung engagierte?
Woolf 1939 den Ehrendoktortitel der Universität Liverpool ablehnte?
Warum beging die erfolgreiche Autorin Selbstmord?
Virginia Woolf scheint eine sehr unglückliche Frau gewesen zu sein. Als Kind wurde sie sexuell missbraucht, wohl von einem ihrer Halbbrüder. Als sie 13 Jahre alt war, starb ihre Mutter, was einen ersten psychischen Zusammenbruch auslöste. Den nächsten erlebte sie 1904 nach dem Tod des Vaters, den dritten 1912 nach dem Heiratsantrag des Literaturkritikers Leonard W. Woolf. Noch im selben Jahr heiratete sie ihn, einen Monat später versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Der Selbstmordversuch scheiterte; 28 wechselhafte Jahre später schied sie endgültig freiwillig aus dem Leben: Virginia Woolf ertrank am 28. März 1941 im Fluss Ouse in Sussex.
Währenddessen wurde sie eine äußerst erfolgreiche Schriftstellerin. Sie schuf Prosawerke in neuartiger Erzähltechnik, die den modernen Roman entscheidend weiterentwickelten. Sie verzichten auf Handlung im herkömmlichen Sinn zugunsten der Abbildung von Bewusstseinsvorgängen.
Hesses Steppenwolf: Schmerzhafter Weg zur Selbsterkenntnis
Wird Hesse noch gelesen?
Ja, vor allem im Ausland. Die Romane und Erzählungen des Literaturnobelpreisträgers wurden in über 50 Sprachen übersetzt; weltweit überschreitet die Auflage seiner Bücher die 100-Millionen-Grenze. Hesse ist der meistgelesene deutschsprachige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Sein berühmtestes Werk, der 1927 erschienene Roman »Der Steppenwolf«, beeindruckte Generationen von Lesern.
Schreibt der Autor auch über sich selbst?
Hermann Hesses Werke können als Autobiografie gelesen werden. »Seelenbiografien« hat er sie einmal genannt, und tatsächlich drehen sich alle seine Romane um die Erforschung der eigenen Seele, um das Problem, zu sich selbst zu finden und in Einklang mit der eigenen Persönlichkeit zu leben.
Was für ein Charakter ist die Hauptfigur?
In der Form dem traditionellen Roman folgend, wagte sich Hermann Hesse mit »Der Steppenwolf« auf Ebenen des Übersinnlichen, Irrationalen, Skurrilen vor. Sein Protagonist Harry Haller ist ein zerrissener, gebrochener Held, ein übersensibler Intellektueller mittleren Alters, der orientierungslos und vereinsamt durch die Gesellschaft der 1920er Jahre irrt. Nach außen ist er zwar angepasst und unauffällig, doch die Menschen sind ihm fremd. Die Errungenschaften und Erfordernisse der Zivilisation erscheinen ihm absurd. Die »Krankheit der Zeit«, die überall vorherrschende Oberflächlichkeit, ekelt ihn an – gerade angesichts der noch nicht lange zurückliegenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs.
Warum ist Harry Haller hin und her gerissen?
Der an seinem Leben und der Gesellschaft leidende Harry kann eine gewisse Hingezogenheit zur irdischen Welt nicht leugnen; auch er sehnt sich bei allem Weltschmerz nach Liebe, Harmonie und Zuwendung. Daher empfindet er seine Persönlichkeit als gespalten: Er ist halb Mensch, den es nach Zugehörigkeit zur Gesellschaft dürstet, und halb Wolf, der die Begrenztheit des bürgerlichen Lebens verabscheut und stattdessen ungebunden, frei und animalisch leben will. An dieser Spaltung seiner Person in Mensch und Tier, in Geist und Trieb, droht er zu zerbrechen.
Was lernt Haller von der Prostituierten?
Dem Selbstmord nahe, begegnet der sich selbst und der Welt entfremdete Harry der Prostituierten Hermine. Indem sie ihn in die Freuden der Sinneslust einweiht, bringt sie seine verdrängten Bedürfnisse zum Vorschein. Hermine begleitet nun Harrys Selbstanalyse und führt ihn in das »Magische Theater« des schönen Jazztrompeters Pablo, wo Harry das Lachen lernen soll – »Mozarts Lachen«. Auf dem Weg dorthin wird ihm ein Heftchen zugespielt, das den Titel »Tractat vom Steppenwolf« trägt und zu Harrys großer Verwirrung seinen Seelenzustand detailliert beschreibt.
Was erfährt der Held im Drogenrausch?
Im »Magischen Theater« gerät der verunsicherte Held in eine Rauschgiftorgie. In surrealen Visionen erlebt er groteske, teilweise schmerzliche Situationen. Nach einer kapriziös-zynischen Rede von Mozart alias Pablo, die durch die Musik der Mozart-Oper »Don Giovanni« eingeleitet wird, ersticht Harry aus Eifersucht – Vision oder Realität? – die Geliebte Hermine, die sich den Tod von seiner Hand wünschte. Und wieder tritt Pablo-Mozart auf und macht sich über die theatralische Aktion lustig: »Nehmen Sie endlich Vernunft an! Sie sollen leben und Sie sollen das Lachen lernen!« Harry erkennt, dass er wieder gescheitert ist. Aber er gibt nicht auf: »Oh, ich … war gewillt, das Spiel nochmals zu beginnen, seine Qualen nochmals zu kosten … die Hölle meines Innern nochmals und oft zu durchwandern … Einmal würde ich das Lachen lernen. Pablo wartet auf mich. Mozart wartet auf mich.«
Wussten Sie, dass …
nicht zuletzt wegen der ausführlichen Schilderung eines exzessiven Drogentrips Hermann Hesses »Steppenwolf« zu einem Kultbuch der Flower-Power-Generation wurde?
die amerikanische Rockband »Steppenwolf«, die sich nach dem Roman benannte, den Hit »Born to be wild« sang?
Was machte die Kindheit des Schriftstellers so unglücklich?
Als Sohn eines ehemaligen Missionars strikt protestantisch erzogen, verlebte Hesse in Calw im Schwarzwald eine freudlose Kindheit. Die unmenschliche Strenge der Internatserziehung, der väterliche Druck, eine kirchliche Laufbahn einzuschlagen – der junge Hermann Hesse war verzweifelt bis zum Selbstmordversuch, der 1892 scheiterte. Die Schwierigkeiten seines Protagonisten Harry Haller aus »Der Steppenwolf«, dieses Nicht-Lachen-Können, hat er am eigenen Leib erfahren. Als Erwachsener konnte sich Hesse den elterlichen Zwängen zwar entziehen und sein eigenes Leben leben, meist sehr zurückgezogen in der Schweiz. Dennoch zeugen »Der Steppenwolf« und seine anderen bekannten Werke – »Siddharta« (1922), »Narziss und Goldmund« (1930), »Das Glasperlenspiel« (1943) – von der lebenslangen Suche nach der eigenen Identität und dem Versuch, Geist und Natur des Menschen zu vereinen.
Döblins Berlin Alexanderplatz: Expressionistischer Großstadtroman
Was bestimmt die Handlung des Romans?
In »Berlin Alexanderplatz« (1929) von Alfred Döblin (1887–1957) wird das Aufeinanderprallen eines kleinen Helden (hier des Proletariers Franz Biberkopf) mit seiner urbanen Umwelt (hier Berlin) als ungleiches Duell ausgetragen. Biberkopf oder die Großstadt hätte zerstört werden müssen, bemerkte der Autor im Jahr 1955 anlässlich einer Neuausgabe seines Romans. Als Strafe empfindet Franz Biberkopf gleich zu Beginn die Tatsache, aus den geordneten Verhältnissen im Gefängnis in ein hektisches Berlin gestoßen zu werden. »Drinnen saßen die anderen, tischlerten, lackierten, sortierten«, denkt Biberkopf, als er nach seiner Haftentlassung an der Haltestelle steht: Draußen »schwirrte es«. Während seiner Haft hat sich die Stadt derart rasant verändert, dass er nichts wiedererkennt: »Die Strafe beginnt.«
Kann Biberkopf im Moloch Berlin überleben?
Franz Biberkopf gelingt es nur mit großer Mühe, sich einigermaßen über Wasser zu halten. Er will als Hausierer am Alexanderplatz »anständig bleiben«, aber die Großstadt macht es ihm nicht leicht. Berlin ist die Hure Babylon, eine urbane Hölle, in der Biberkopf sich die Finger verbrennen muss. Sein Dämon ist der Verbrecher Reinhold, der ihn mit Damen der Unterwelt versorgt und auf der Flucht als gefährlichen Mitwisser unter ein Auto stößt, woraufhin Biberkopf einen Arm verliert. Reinhold entführt und ermordet Biberkopfs Geliebte, das Straßenmädchen Mieze; der Großstadt-Hiob wird zum Hauptverdächtigen. Biberkopf kommt ins Irrenhaus, das er, rehabilitiert, als neuer Mensch verlässt. Er wird Hilfsportier einer Fabrik und steht endlich »nicht mehr allein auf dem Alexanderplatz«.
Wie wird die Großstadtatmosphäre eingefangen?
Das Urbane ist nicht bloß Thema einer realistischen Beschreibung, es wird – in der Art des Expressionismus und Futurismus – in verschiedenen Sprachschichten selbst lebendig. Aus diesem Grund verglich die Literaturkritik den Roman mit dem »Ulysses« (1922) von James Joyce. Walter Benjamin betonte seinen filmisch schnellen »Takt«. Tatsächlich stellte Döblin neben der Geschichte von Franz Biberkopf auch das aus Reklame, Schlagzeilenjargon, Gassenhauern, Statistiken, Slogans und Dialektelementen unverwechselbar geformte »Stimmengewirr« des Molochs Berlin in den Mittelpunkt. In diesem Lärm muss das Versprechen Biberkopfs, ehrbar zu bleiben, ungehört verhallen. Die Hektik der Stadt blitzt durch jeden der parataktischen Sätze.
Wie ist das Ende des Romans gestimmt?
Es zeugt von einer kämpferischen Grundhaltung. Döblin hatte ein waches Auge für die sozialen Verhältnisse der Zeit und wollte die negativen Auswirkungen des Großstadtlebens herausstellen, gegen die man sich wehren muss. Deshalb hat er Biberkopf in der Schlusssequenz eine optimistische Lebensformel zur Seite gestellt: »Man fängt nicht sein Leben mit guten Vorsätzen an, mit Erkennen und Verstehen fängt man es an und mit dem richtigen Nebenmann.« Aus diesem Grund wird der Entwicklungsgang Biberkopfs auch nicht durch die urbane »Mehrstimmigkeit« überlagert. Die »Melodie« Berlins weitet sich nicht zur »Symphonie der Großstadt« in formalästhetischem Sinn, wie etwa in »Manhattan Transfer« (1925) von John Doss Passos.
Warum machte Döblin den Alexanderplatz zum Zentrum des Geschehens?
Der Grund dafür lag in seiner Biografie. Der Armenarzt Alfred Döblin hatte dort seine Praxis. Am Alexanderplatz kannte er sich aus wie kein Zweiter. Döblin wurde am 10.8.1878 in Stettin geboren, mit zehn Jahren zog er nach Berlin. Im bürgerlichen Leben arbeitete er als Arzt, schrieb nebenher Rezensionen und politische Reportagen für Zeitungen, verfasste aber auch Romane. 1918 erschien die Industriegroteske »Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine«, in der wie in »Berlin Alexanderplatz« ein kleiner Held auf eine urbane Umwelt prallt. 1920 folgte der expressionistische Roman »Wallenstein«. Der Jude Döblin floh 1933 über Frankreich in die USA, kehrte 1945 nach Deutschland zurück, war aber über die politische Entwicklung enttäuscht. Döblin starb am 26.6.1957 in Emmendingen.
Wussten Sie, dass …
Döblin zwei Bearbeitungen seines Romans für Rundfunk (1930) bzw. Kino (1931) mitinitiierte? Das zeigt sein Interesse an den damals neuen Medien.
Rainer Werner Fassbinder das Buch 1980 als religiös überhöhte Leidensgeschichte Franz Biberkopfs verfilmte? Günter Lamprecht, Hanna Schygulla, Barbara Sukowa und Gottfried John spielten die Hauptrollen.
Roths Radetzkymarsch: Ein Abgesang auf das Habsburgerreich
Was versinnbildlicht der Titel des Romans?
Der Radetzkymarsch steht in Joseph Roths gleichnamigem Roman von 1932 als Leitmotiv für den Glanz und die militärische Tradition der österreichischen Monarchie, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs bereits dem Untergang geweiht ist. »Einmal in der Woche war Österreich« – so der ironische Kommentar des Erzählers zur Gepflogenheit des Bezirkshauptmanns von Trotta, alle Sonntage wieder den Marsch vor seinem Haus spielen zu lassen, als Beschwörung der Einheit des Vielvölkerstaates. Am Ende des Romans münden die Marschklänge in die Pistolenschüsse von Sarajewo und in die elegische Musik beim Trauerzug zum Begräbnis Kaiser Franz Josephs.
»Radetzkymarsch« erzählt die Familiengeschichte der Trottas über drei Generationen hinweg. Am Beginn rettet Leutnant Trotta in der Schlacht von Solferino (1859) dem Kaiser das Leben. Geistesgegenwärtig schirmt er ihn gegen eine feindliche Kugel ab, wobei er selbst verletzt wird. Zur Belohnung verleiht Franz Joseph ihm den Maria-Theresia-Orden und erhebt ihn in den Adelsstand.
Wie erlebt die Familie den sozialen Aufstieg?
Sie wird in der neuen Gesellschaftsschicht nicht heimisch. Mit dem Bauernsohn aus der Provinz »bricht (zwar) ein neues Geschlecht an«, das jedoch seinen Wurzeln entfremdet ist. Als der »Held von Solferino« im Lesebuch des Sohnes seine Tat in kitschiger Überhöhung wiederfindet, dringt er mit einem Protest bis zum Kaiser vor, muss aber einsehen, dass er ebenso wie dieser machtlos ist gegen den Prozess patriotischer Mythenbildung. Trotta zieht sich aufs Land zurück, versucht, die Lebensweise seiner Vorfahren wieder aufzunehmen, und lässt den Sohn lieber eine Beamten- als eine Offizierslaufbahn einschlagen. Als vorbildlicher Staatsdiener, der bis zum Bezirkshauptmann aufsteigt, verkörpert dieser die zivile Variante unbeirrter vaterländischer Loyalität.
Bietet das Militär eine Lebensperspektive?
Nein, der Enkel Carl Joseph, mit dem die Trottas wieder zum Militär gefunden haben, empfindet Pomp und Ehrenkodex der Donaumonarchie zunehmend als gespenstische Inszenierung eines überalterten Systems. Zudem leidet er unter dem Schatten des Großvaters: »Ich bin nicht stark genug für dieses Bild.« Als fernen Abglanz ungetrübten Soldatenglücks erlebt er früh nur die exemplarische Szene, wie der Bursche, der schon seinem Großvater diente, im Hof mit Hingabe die Stiefel des Herrn wienert. Langsam verfällt Trotta dem Alkohol und dem Spiel. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges findet er an der Front ein unspektakuläres Ende: Er fällt bei dem Versuch, für seine Einheit Wasser zu holen.
Wie werden Privates und Politisches verknüpft?
Durch das Zusammentreffen der Ereignisse stellt Roth eine Parallele zwischen der Familiengeschichte der Trottas und dem Untergang des Habsburgerreiches her. Trottas Vater stirbt 1916 am Tag der Beisetzung des Kaisers – er konnte wie sein Sohn »Österreich nicht überleben«. Roth legt die Schwächen des politischen und gesellschaftlichen Systems bloß, beschwört aber zugleich die morbide Faszination seines letzten Glanzes. In mitreißenden Bildern gelingt ihm dies vor allem in der Schilderung einer Fronleichnamsprozession, die Prunk und Glorie des Herrscherhauses noch einmal opulent entfaltet.
Hat der Roman auch poetische Momente?
Ja, denn die Privatsphäre der Personen erfasst Roth mit differenziertem Gespür für die Poesie des Alltäglichen – beispielhaft dafür steht etwa die Szene, in der der Bezirkshauptmann den »Tafelspitz«, einen Klassiker der Wiener Kochkunst, mit den Augen genießt, bevor er ihm mit Messer und Gabel zu Leibe rückt: »Sein Auge liebkoste zuerst den zarten Speckrand, der das kolossale Stück Fleisch umsäumte, dann die einzelnen Tellerchen, auf denen die Gemüse gebettet waren, die violett schimmernden Rüben, den sattgrünen ernsten Spinat, den fröhlichen hellen Salat, das herbe Weiß des Meerrettichs, das tadellose Oval der jungen Kartoffeln …« Solche Passagen machen deutlich, dass der »Radetzkymarsch« für Roth auch einen wehmütigen Abschiedsblick auf die Lebenskultur seiner Heimat bedeutete.
Wussten Sie, dass …
der bekannte Radetzkymarsch von dem Komponisten Johann Strauß (Vater) stammt? Er widmete ihn dem Heerführer Joseph Wenzel Graf von Radetzky.
der »Radetzkymarsch« 1938 eine Fortsetzung in Joseph Roths Roman »Kapuzinergruft« fand? Im Titel war wieder ein Symbol des alten Österreichs, das mit dem Nationalsozialismus endgültig verschwindet: Dies spürt auch Franz Ferdinand, der Letzte seines Geschlechts, am Tag des Einmarsches der braunen Horden: »Wohin soll ich jetzt, ein Trotta?«
Durch welche Ereignisse wurde Joseph Roth entwurzelt?
Joseph Roth wurde am 2.9.1894 im galizischen Brody geboren, das heute zur Ukraine gehört, damals Teil der k. u. k. Monarchie war. Der Zerfall des Habsburgerreichs nach dem Ersten Weltkrieg bedeutete einen tiefen Einschnitt. Roth musste sein Studium in Wien abbrechen und ging nach Berlin, später wieder nach Wien, von wo er endgültig von den Nazis vertrieben wurde. Er begann seine Laufbahn als Journalist und avancierte mit den Romanen »Radetzkymarsch« (1932) und »Die Kapuzinergruft« (1938) zu einem der bedeutendsten Romanciers deutscher Sprache. Von Depressionen und Alkoholismus geplagt, starb er am 27.5.1939 im Pariser Exil. Der Titel seines letzten, 1939 postum erschienenen Werks, könnte auch über seinem Leben stehen: »Legende vom heiligen Trinker«.
García Lorcas Bluthochzeit: Archetypische Handlungsmuster
Wie sind die Charaktere des Stücks gezeichnet?
Federico García Lorcas (1898–1936) Figuren in der 1933 in Madrid uraufgeführten »Bluthochzeit« (»Bodas de sangre«) sind zu Archetypen stilisiert. Zu sehen ist das schon daran, dass sie keinen Namen tragen (mit Ausnahme des ehemaligen Verlobten der Braut, Leonardo Félix). Mutter und Bräutigam, später auch eine Nachbarin, sprechen über die bevorstehende Hochzeit, wobei auch die einstige Liaison der Braut mit Leonardo zum Thema wird, dessen Verwandten vor Jahren den Bruder und den Vater des Bräutigams ermordet haben. Leonardo ist inzwischen mit einer Cousine der Braut unglücklich verheiratet. Trotz schlechter Vorzeichen und trotz des warnenden Beispiels wird die Hochzeit aus wirtschaftlichen Erwägungen vorangetrieben – gegen den wahren Willen der Braut, die sich nur aus Familienrücksichten in diese Vernunftehe fügt. Selbst der nächtliche Besuch Leonardos kann sie nicht umstimmen.
Was führt zum tragischen Ende?
Während der Hochzeitsfeier flieht die Braut mit Leonardo, verfolgt von der Partei des Bräutigams, in den Wald. In einer allegorischen Szene treten dort der Mond und eine alte Bettlerin als Todesboten auf – die beiden Rivalen entleiben sich gegenseitig mit dem Messer. In der Schlussszene liegen sie aufgebahrt im Hause der Mutter. Der Fluch, der schon von Beginn an über der Verbindung lag, hat sich schicksalhaft erfüllt. García Lorca erhöht seine zentralen Motive – Familienfehde und Blutrache – in den sieben Bildern des Dreiakters ins Zeitlos-Allgemeingültige.
Was ist die treibende Kraft des Geschehens?
Die handelnden Personen haben ihr Geschick nicht selbst in der Hand; sie sind einem unentrinnbaren Schicksal gnadenlos unterworfen – wie in einer antiken Tragödie. In der magisch-archaischen Sphäre der erdverbundenen Menschen Andalusiens, der Lorca selbst entstammte, kann sich dieses Fatum auf ideale Weise entfalten. Alle moralischen Verfehlungen werden letztlich auf archaische Urkräfte wie Erde und Eros zurückgeführt (»die Erde ist schuldig, der Geruch deiner Brüste und Zöpfe«), die den ewigen Zyklus von Werden und Vergehen beherrschen. Werden dessen Gesetze verletzt, wie durch eine Heirat ohne Liebe, heißt die Lösung: gewaltsamer Tod.
Verfügen die Figuren über einen freien Willen?
Nein, die Charaktere agieren auf der Bühne eher als Archetypen denn als Individuen, sie sind bestimmt von ihrer Zugehörigkeit zu Sexus und Familie – im Falle von Mutter und Bräutigam einer Familie »der in der Straßenmitte Erschlagenen«. Auch das Verhältnis der Geschlechter ist von uralten Ritualen bestimmt, deren Unabänderlichkeit in verschiedensten Symbolen Ausdruck findet, ähnlich wie die Vorankündigung des Todes: Das fatale Messer taucht bereits in der ersten Szene des Dramas auf, wenig später in einem Wiegenlied das Motiv des todgeweihten Pferdes, mit dem das Liebespaar flieht.
Welche Farbsymbolik verwendet Lorca?
Die Schauplätze sind durch Signalfarben charakterisiert, vom Rosa für die Weiblichkeit bis zum Weiß der Totenbahre. Die poetische Farbsymbolik hat Lorca durch einen stimmungsvollen Wechsel von Prosa und Lyrik ergänzt, der seinen Höhepunkt im Lied des Mondes findet. Auch die Figurenrede ist von starken lyrischen Bildern durchsetzt, wie in der Bemerkung der Magd, nach der Hochzeitsnacht streife der Atem des Mannes die Schulter der Gattin »wie ein Nachtigallenfederchen«. Und die Frau backt das Brot für ihren Liebsten, »wenn der Morgenstern noch leuchtet«. Nicht zuletzt auf diesem faszinierenden Kontrast des Zarten und Gewalttätigen beruht der Erfolg der »Bluthochzeit«, die noch im Premierenjahr über 100 Aufführungen erlebte und 1982 von Carlos Saura verfilmt wurde.
Blieb Lorca seinem Themenkreis treu?
Ja, die kulturelle Tradition und die Mentalität seiner Heimat spiegeln sich auch in Lorcas übrigem Werk wider. Allerdings geht es in Lorcas letztem, wohl berühmtestem Drama »Bernarda Albas Haus« (1936) weniger symbolbefrachtet und erheblich düsterer zu, es spielt, wie auch »Yerma« (1934), im ländlichen Milieu Andalusiens. Die märchenhaft-lyrischen Elemente, sehr ausgeprägt zum Beispiel in »Don Perlimplín« (1931), treten hier zugunsten einer holzschnittartigen Lakonie zurück, wie man sie eigentlich kaum bei jemandem vermutet, der so ungemein leidenschaftliche, dabei hochartifizielle Gedichte verfasste wie Lorca mit den Sammlungen »Canciones« (1927) oder »Romancero gitano« (1928). Kultur und Mentalität Andalusiens bilden auch dort ein Leitmotiv und geben den Grundton der Lyrik vor.
Warum wurde García Lorca im Spanischen Bürgerkrieg ermordet?
Neben seiner Homosexualität waren den rechten Nationalisten wohl García Lorcas gesellschaftskritische Schriften ein Dorn im Auge. Geboren wurde Federico García Lorca am 5.6.1898 in Granada, er studierte dort sowie in Madrid u. a. Literaturwissenschaften und Philosopie. Er unternahm ausgedehnte Reisen durch seine Heimat, bereiste auch Nord- und Südamerika. 1927 enstand in Madrid sein erster Gedichtband und 1928 sein erstes Theaterstück »Mariana Pineda«. Mit Jorge Guillén, Rafael Alberti und Vicente Aleixandre gehörte Lorca zu den prominentesten Vertretern der »Dichtergeneration von 1927« – benannt nach dem 300. Todesjahr des Barockdichters Luis de Góngora, dessen komplizierter Sprachalchimie die jungen Poeten nacheiferten. Lorca, der auch mit Salvador Dalí und dem Musiker Manuel de Falla befreundet war, wurde am 19.8.1936 im Spanischen Bürgerkrieg von den Falangisten Francos ermordet.
Wussten Sie, dass …
Federico García Lorca die Idee zur »Bluthochzeit« angeblich einer Zeitungsnotiz über eine wahre Begebenheit mit Familienfehde und Blutrache verdankte?
Lorcas Lebensgeschichte im Jahr 1997 unter dem Titel »Lorca – Mord an der Freiheit« mit Andy Garcia in der Titelrolle in die Kinos kam? In den weiteren Rollen waren unter anderem Miguel Ferrer und Jeroen Krabbé zu sehen.
die erste deutschsprachige Aufführung der »Bluthochzeit« 1944 in Zürich stattfand?
Der Ekel von Sartre: Die radikale Freiheit des Individuums
Welche Absicht verfolgte Sartre mit »Der Ekel«?
»Der Ekel« enthält die Kernsätze von Jean-Paul Sartres (1905–1980) Existenzialismus und stellt sie in einer fiktiven Handlung konkret dar. Sartre legte damit 1938 einen Roman über die Problematik der menschlichen Freiheit vor, bevor er die grundlegenden Gedanken seiner Existenzphilosophie in seinem theoretischen Hauptwerk »Das Sein und das Nichts« (1943) formulierte.
Wie geht der Roman vor?
In der Form eins Tagebuchs beschreibt Antoine Roquentin seinen Aufenthalt in der Provinzstadt Bouville (Dreckstadt), in deren Bibliothek er seit drei Jahren historische Studien treibt. Er beginnt, das Tagebuch zu führen, um dem Ekel auf den Grund zu kommen, der ihn immer wieder überfällt. Er empfindet diese Abscheu zunächst bei der Berührung bestimmter Gegenstände, die ihm in seinem gleichförmigen Alltag begegnen, später vor anderen Menschen und schließlich vor sich selbst. In der Reflexion über seinen Ekel vor der Welt, der zum Normalzustand wird, enthüllt sich Roquentin das Wesen der menschlichen Existenz.
Was erkennt der Held?
Roquentin erkennt die grenzenlose Freiheit des Individuums, indem ihm die Überflüssigkeit und Absurdität der Dinge, der anderen Menschen und seiner selbst, also alles Existierenden, bewusst wird. Gleichzeitig muss er aber begreifen, dass der Mensch mit dieser Freiheit ganz auf sich selbst zurückgeworfen wird: Nur sich selbst verantwortlich, ohne jeden transzendentalen Rückhalt, existiert der Einzelne in einer nicht zu überwindenden Einsamkeit: »Aber diese Freiheit ähnelt ein wenig dem Tod.«
Welche Konsequenz zieht die Romanfigur?
Roquentin bricht die sinnlos gewordene Arbeit ab und verlässt Bouville, um einen Roman zu schreiben, wodurch er sein existenzielles Dilemma zu überwinden hofft. Die radikale Erkenntnis der Nichtigkeit, die seinen Ekel ausgelöst hatte, und der Freiheit des Menschen, das Leben eigenverantwortlich nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können, hatte ihn zunächst zu einem Bedürfnis nach Revolution geführt. Er musste aber erkennen, dass er zu unbedeutend ist, um als Einzelner gesellschaftliche Veränderungen bewirken zu können, und allenfalls sich selber ändern kann – doch wegen seines unbeständigen Wesens gelingt ihm nicht einmal das. Am Ende sucht er eine Lösung in der Kunst: Ob ihm das gelingt, bleibt offen, die Tagebuchaufzeichnungen brechen hier ab.
Hält Sartre die menschliche Existenz für sinnlos?
Nein, Sartre leugnet zwar alle transzendentalen Gehalte und damit einen übergreifenden gegebenen Sinn, daraus folgt für ihn aber nicht die gänzliche Sinnlosigkeit allen menschlichen Handelns, sondern die Möglichkeit des Einzelnen, sich als autonomes Ich zu verwirklichen. Indem sich vor dem Menschen das Nichts auftut, eröffnet sich ihm zugleich eine unbegrenzte Freiheit. Die Freiheit besteht in der umfassenden Verantwortung des Menschen für sein Tun; jeder muss sich den Sinn seiner Existenz selbst schaffen und dies ist nur in einem »totalen Engagement« möglich. Für Antoine Roquentin – und für Sartre– geschieht dies im künstlerischen Akt. Ob Roquentin seinen Roman schreibt, wissen wir nicht; Sartre jedenfalls hat seiner Existenz durch »Der Ekel« einen Sinn gegeben.
Was ist existenzialistische Literatur?
Sie versteht sich als künstlerische Gestaltung der Ideen und Fragestellungen der Existenzphilosophie, die sich mit dem konkreten Dasein des Menschen und seiner Bedeutung in der Welt auseinandersetzt. Es geht um die Freiheit des Einzelnen, Entscheidungen über sein Dasein treffen zu können – eine Freiheit, zu der der Mensch verdammt ist und die ihm eine elementare Angst einflößt. Als Begründer der Existenzphilosophie gilt Sören Kierkegaard (1813–1855); wichtige Vertreter waren Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger. In den 1940er Jahren erlebte die Existenzphilosophie durch Sartre, der seine Gedanken theoretisch-abstrakt und auch literarisch-konkret formulierte, einen neuen Höhepunkt.
Was sind die wichtigsten Eckdaten in der Biografie Sartres?
Der am 21.6.1905 in Paris geborene Jean-Paul Sartre arbeitete nach seinem Studium an der Eliteschule École Normale Supérieure zunächst als Gymnasiallehrer in der Provinz. Schon damals lernte er seine spätere Weggefährtin Simone de Beauvoir kennen. Während des Zweiten Weltkrieges engagierte sich Sartre in der französischen Widerstandsbewegung. Nach Kriegsende avancierte er zum tonangebenden Intellektuellen Frankreichs. Zu Sartres Hauptwerken zählen neben dem Roman »Der Ekel« Dramen wie »Die Fliegen« (1943) und »Geschlossene Gesellschaft« (1948) sowie philosophische und essayistische Werke wie das »Das Sein und das Nichts« (1943) und »Was ist Literatur?« (1947). 1947 sorgte Sartre für einen Eklat, als er den Literatur-Nobelpreis ablehnte. Er starb am 15.4.1980 in Paris.
Wussten Sie, dass …
»Der Ekel« Sartre 1938 schlagartig bekannt machte? Der Roman, löste vor allem in Frankreich eine Welle gleichgesinnter Literatur aus. Sartres Lebensgefährtin Simone de Beauvoir befasste sich in ihren erzählerischen Werken ebenso mit den Folgen der Absurdität der menschlichen Existenz wie Albert Camus, mit dem Sartre lange eine enge Freundschaft pflegte.
Brechts Mutter Courage: Theaterstück mit didaktischem Konzept
Was wollte Bertolt Brecht mit seinem Theaterstück zeigen?
Brechts Bühnenstück »Mutter Courage und ihre Kinder« (geschrieben im Jahr 1939, uraufgeführt 1941) führt die katastrophalen Konsequenzen des Kriegs für die »kleinen Leute« vor und setzt die Konzeption des epischen Theaters in höchster Vollkommenheit um.
In welchem historischen Umfeld entstand das Werk?
Es mutet fast gespenstisch an, dass Bertolt Brechts schärfstes und eindrücklichstes Antikriegsstück zu einer Zeit geschrieben wurde, in der der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kurz bevorstand. Der bedeutendste Dramatiker der Weimarer Republik, der seit 1933 im Exil lebte, begann 1938 mit der Arbeit und stellte das Stück nur wenige Monate vor dem Einmarsch Hitlers in Polen fertig.
In welcher Zeit spielt »Mutter Courage«?
Brecht hat die Handlung von »Mutter Courage und ihre Kinder« im Dreißigjährigen Krieg angesiedelt. In zwölf Bildern, die einen Zeitraum von zwölf Jahren umfassen, begleitet der Zuschauer Anna Fierling, die »Mutter Courage«, die als Marketenderin mit den Soldaten durch die Lande zieht, um am Krieg »ihren Schnitt zu machen«. Sie lebt vom Krieg und zieht ihn deshalb dem Frieden vor: »Ich lass mir den Krieg von euch nicht madig machen. Es heißt, er vertilgt die Schwachen, aber die sind auch hin im Frieden. Nur, der Krieg nährt seine Leut besser.«
Die Gräuel des Krieges registriert die Courage nicht, jedes Blutvergießen ist für sie nur in geschäftlicher Hinsicht bedeutsam. Als der Feldherr der katholischen Liga fällt, fürchtet Mutter Courage, der Krieg könnte zu Ende gehen – für sie eine wirtschaftliche Katastrophe, sie hat gerade neue Ware eingekauft.
Was wird aus den Kindern der Hauptfigur?
Mutter Courage hat ihre drei Kinder dabei, die sie durch das Geschäft mit dem Krieg zu ernähren versucht. Alle drei wird sie im Lauf des Geschehens an den Krieg verlieren: Eilif wird zu Beginn des Stücks von Werbern entführt und nimmt im Folgenden am Kriegsgeschehen teil; nach Plünderungen und Schändungen während einer vorübergehenden Friedensphase wird er hingerichtet (im Krieg wurde er dafür noch ausgezeichnet). Der redliche Schweizerkas wird wegen eines Missverständnisses verhaftet; Mutter Courage will ihn auslösen, doch sie feilscht zu lange; Schweizerkas wird erschossen. Die stumme Kattrin, die vergewaltigt und entstellt wurde, warnt eines Nachts die Bürger von Halle vor einem Überfall der kaiserlichen Truppen; die Stadt kann den Angriff zwar abwehren, doch Kattrin kommt bei diesem Zwischenfall ums Leben.
Der tragische Tod ihrer Kinder macht die schlagfertige Mutter Courage stumm, doch Einsicht in die Ursachen ihres Unglücks gewinnt sie nicht. Sie erkennt nicht, dass es ein Trugschluss ist, am Krieg verdienen zu können. Ihre Rechnung mit dem Krieg geht nicht auf, im Gegenteil: Mutter Courage verliert die, die sie durchbringen will, ihr Handeln verliert jeden Sinn. Doch auch nach dem Verlust ihrer Kinder zieht sie weiter, um Geschäfte zu machen. In der letzten Szene schließt sie sich einmal mehr einem vorbeiziehenden Regiment an; ihre Schlussworte lauten: »Ich muss wieder in'n Handel kommen.«
Mit welchen Mitteln überzeugt Brecht das Publikum?
Vor allem mit den Mitteln des so genannten epischen Theaters. Brecht war der Überzeugung, dass der Krieg »eine Fortführung der Geschäfte mit anderen Mitteln ist«. Doch das Geschäft mit dem Krieg wird nicht von den kleinen Leuten gemacht, die können nur verlieren – das ist die Grundaussage des Stücks. Unter Einsatz verfremdender, das heißt, Distanz schaffender Mittel (Einschub von kommentierenden Songs, Heraustreten des Schauspielers aus seiner Rolle, Verzicht auf durchgängigen Handlungsablauf und anderes), hat Brecht mit »Mutter Courage« die überzeugendste Umsetzung seines dramaturgischen Konzepts geschaffen. Der Zuschauer steht der Handlung gegenüber, anstatt sich in sie hineinzuversetzen, und soll zu der Einsicht »gezwungen« werden, dass der Krieg den einfachen Menschen zerstört und deshalb bekämpft werden muss.
Brecht wurde oft vorgeworfen, er schade mit dem Schluss des Stücks, der die Hauptfigur auch nach dem Verlust ihrer Kinder uneinsichtig zeigt, seiner Wirkung: Die Courage müsse doch begreifen, dass der Krieg kleine Leute wie sie zerstöre; nur so könne auch der Zuschauer von dieser Einsicht überzeugt werden. Brecht antwortete darauf: Es gehe ihm nicht darum, die Figur am Ende sehend zu machen, sondern das Publikum. Besser kann man die Idee des epischen Theaters nicht auf den Punkt bringen.
Wussten Sie, dass …
der Autor schon 1929 drei Kinder von drei Frauen (Paula Banholzer, Marianne Zoff und Helene Weigel) hatte?
der Name der Courage dem »Trutz Simplex« (1669) von Grimmelshausen entnommen ist?
Brecht seit 1951 österreichischer Staatsbürger war, obwohl er in Ost-Berlin lebte? Seine Stücke wurden in Österreich allerdings bis 1962 boykottiert.
Wie wurde der Augsburger Bürgersohn zum Ostberliner Theatergründer?
Brecht wurde 1898 als Sohn des Direktors einer Papierfabrik in Augsburg geboren. Hier besuchte er das Gymnasium und studierte anschließend in München unter anderem bei Artur Kutscher, dem Begründer der Theaterwissenschaft, Literatur. 1920 befreundete er sich mit dem Kabarettisten Karl Valentin.
1924 zog Brecht nach Berlin und arbeitet als Dramaturg bei Max Reinhard. 1929 heiratete er in zweiter Ehe die Schauspielerin Helene Weigel, die sich zeitlebens für sein Werk einsetzte.
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten musste der überzeugte Kommunist ins Exil gehen, zunächst nach Dänemark, schließlich in die USA. 1949 trat er dort vor dem Mc-Carthy-Ausschuss auf; über die Schweiz reiste er nach Ost-Berlin, wo er mit Helene Weigel das Berliner Ensemble gründete. 1956 starb er in Berlin an einem Herzinfarkt.
Orwells 1984: Vision des totalitären Überwachungsstaates
Wie ist die dargestellte Welt strukturiert?
London 1984. Die Welt ist in die drei Supermächte Ozeanien, Eurasien und Ostasien aufgeteilt. Diese Staaten führen permanent Krieg gegeneinander, das wird zumindest erzählt. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Scheinkrieg, der es den in ihrer Struktur und Ideologie identischen Pseudo-Weltmächten erlaubt, mangelnde Versorgung der Bevölkerung, Gewaltmaßnahmen gegen die Einwohner und andere Repressalien zu legitimieren.
Wer herrscht in dem Staat Ozeanien?
Ganz Ozeanien wird von der »Partei« beherrscht: Die Mitglieder der »inneren Partei« bilden die politische Führung, die der »äußeren Partei« stellen die Schicht der Intelligenz dar; daneben gibt es noch die »Proles«, das unmündige Volk. An der Spitze steht der »Große Bruder« (»Big Brother«), der gottähnlich verehrt wird. Seine Augen scheinen dem Betrachter überallhin zu folgen: »Big Brother is watching you.«
In jedem Zimmer, in jedem Treppenhaus, an jeder Ecke der Stadt sind »Teleschirme« installiert, die die Menschen mit politischen Parolen indoktrinieren, mit denen sie aber auch ununterbrochen überwacht werden können. Jede Intimsphäre ist dem Menschen geraubt.
Wie werden Bewusstsein und Sprache manipuliert?
Das unentwegte Eintrichtern von Leitsätzen gleicht einer Gehirnwäsche: »Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.« Menschliche Grundwerte wie Freiheit und Gerechtigkeit, Wissen und Wahrheit werden vom Staat unbarmherzig bekämpft; der Propagandaapparat ist ganz darauf ausgerichtet, das individuelle Bewusstsein des Einzelnen zu zerstören. Dabei werden auch systematisch Geschichtsfälschung (das »Wahrheitsministerium« erfindet die Vergangenheit je nach Bedarf neu) und rigorose Sprachreglementierung betrieben: Mithilfe der bereinigten Staatssprache »Neusprech« soll jedes abweichlerische Denken bereits im Keim erstickt werden.
Gibt es Widerstand gegen das Überwachungssystem?
Ja: Im Zentrum des Romans steht Winston Smith, dessen Aufgabe als Angestellter des Wahrheitsministeriums es ist, das Zeitungsarchiv und damit die Geschichte im Sinne der Parteiwahrheit zu fälschen. Nach außen hin verhält sich Winston dem System gegenüber loyal; mit der Arbeit an einem Tagebuch, in dem er verlorene (also vom Staat geraubte) Erinnerungen an bessere Zeiten wiederzuerwecken versucht, begibt er sich aber in heimliche Opposition gegen das autoritäre System.
Mit Julia, die wie er ein Mitglied der »äußeren Partei« ist, beginnt Winston eine leidenschaftliche Liebesbeziehung: ein Kapitalverbrechen, denn Lust ist verboten, und Sexualität wird nur zum Zweck der Arterhaltung geduldet. Die heimlichen Treffen der beiden, in denen sie sich ihrer Lust hingeben, werden für sie zu einem rebellischen Akt.
Um etwas gegen die verhasste Partei zu unternehmen, versuchen die beiden, über einen Verbindungsmann namens O'Brien Anschluss an die Widerstandsbewegung Emmanuel Goldsteins zu bekommen. Doch eben dieser O'Brien entpuppt sich als Mitarbeiter der Gedankenpolizei und Goldstein als ein Konstrukt der Partei, mit dem sie die Aggressionen ihrer Mitglieder kanalisiert und kontrolliert. Winston wird verhaftet und durch Folter zum Verrat an Julia getrieben. Eine brutale Gehirnwäsche bricht seine Individualität, so dass er am Ende als linientreuer Bürger freigelassen wird.
Was inspirierte Orwells negative Utopie?
Orwell schrieb den Roman unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs. Viele Anspielungen auf die nationalsozialistische Diktatur, die stalinistische UdSSR und auch auf Demokratien wie England zeugen davon, dass er mit seiner Anti-Utopie sehr konkret auf Entwicklungen seiner Zeit Bezug nahm. »1984« ist als Warnung vor politischen Systemen zu verstehen, die eine umfassende Kontrolle, Beherrschung und damit Zerstörung des Individuums umzusetzen versuchen. Das Jahr 1984 ist vorbei und der totale Überwachungsstaat noch nicht Wirklichkeit geworden – in seiner Datierung hat sich Orwell geirrt.
Wussten Sie, dass …
Orwell sich bei seiner Hochzeit mit Eileen O'Shaughnessy im Jahr 1936 nicht einmal Trauringe leisten konnte?
der Roman »1984« auch Erfahrungen widerspiegelt, die Orwell bei seiner Arbeit für die BBC – damals dem Ministerium für Information unterstellt – machte?
der nach dem Autor benannte George-Orwell-Platz in Barcelona 24 Stunden am Tag von Kameras überwacht wird?
Konnte der Schriftsteller von seiner literarischen Arbeit leben?
Erst am Ende seines Lebens. 1903 als Sohn eines Kolonialbeamten in Indien geboren, kam Orwell 1904 mit seiner Mutter nach England. Als guter Schüler konnte er die Eliteschule in Eton besuchen. 1922 ging er zur Kolonialpolizei nach Burma.
Abgestoßen von deren Vorgehen gegen die Einwohner, kehrte Orwell 1927 nach England zurück, um Schriftsteller zu werden. Nur mit Unterstützung von Freunden konnte er sich die nächsten Jahre einigermaßen über Wasser halten. 1937 nahm er auf Seiten der linkskommunistischen POUM am Spanischen Bürgerkrieg teil. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Kriegsberichterstatter für den englischen »Observer«.
Erst 1945 gelang Orwell mit dem Roman »Die Farm der Tiere« der literarische Durchbruch – wie das vier Jahre später erschienene »1984« eine zeitkritische Analyse in fiktionaler Verkleidung, hier als Tierfabel. 1950 starb der Schriftsteller an Tuberkulose.
Hemingways Der alte Mann und das Meer: Sieg in der Niederlage
Wie lautete Hemingways Lebensphilosophie?
Ernest Hemingway (1899–1961) sah das Leben als einen andauernden Kampf, der mit Zähigkeit, Fairness, Mut und vor allem Würde geführt werden muss. Dabei ist nicht entscheidend, Siege davonzutragen, denn es kann im Leben nicht nur Siege geben. Entscheidend ist die Haltung im Kampf, wie auch immer dieser ausgeht: Die Größe und Würde des Menschen ermisst sich laut Hemingway darin, wie er sich in der Niederlage behauptet. In keinem seiner Werke setzte Hemingway sein Credo so eindrucksvoll um wie in dem Kurzroman »Der alte Mann und das Meer« (1952).
Worum geht es in der Geschichte?
Im Mittelpunkt steht der alte kubanische Fischer Santiago, der 84 Tage hintereinander in seinem kleinen Boot aufs Meer hinausgefahren war, ohne einen einzigen Fang zu machen. Anfangs hatte ihn ein Junge begleitet, doch nach 40 erfolglosen Tagen fährt er auf Geheiß seiner Eltern in einem anderen Boot mit. Seitdem segelt Santiago alleine.
Am 85. Tag beißt ein Fisch an: ein riesiger Schwertfisch, länger als Santiagos Boot – der Fang seines Lebens. Ein Kampf beginnt, der zwei Tage und zwei Nächte dauert. In endlosen Selbstgesprächen macht sich Santiago Mut, er erinnert sich an vergangene Bewährungsproben, bekämpft seine Erschöpfung. Und am Ende besiegt er den Fisch: Santiago kann ihn harpunieren und längsseits am Boot vertäuen.
Bleibt der Fischer am Ende Sieger?
Nein, der alte Mann hat den Kampf gegen das Tier zwar gewonnen, verliert aber doch: Auf der Heimfahrt attackieren Haie Santiagos Fang, von dem er monatelang hätte leben können. Zuletzt nur noch mit einem Ruder bewaffnet, kämpft er erbittert gegen die Raubtiere, doch diesmal ist er der Unterlegene: Die Haie fressen seine Beute bis auf das Gerippe auf. Dem körperlichen Zusammenbruch nahe, landet der Fischer schließlich in seinem Heimathafen mit nichts als einem zerfetzten, wertlosen Fischskelett im Schlepptau. Der Junge ist zur Stelle und umsorgt den zerschundenen und müden alten Mann. Santiago legt sich schlafen und beginnt, von Löwen in der freien Wildbahn zu träumen – obwohl »etwas in seiner Brust zerbrochen ist«, wird er am nächsten Morgen unverdrossen wieder auf die See hinausfahren.
Resigniert der alte Mann?
Nein, Hemingway lässt den Fischer sagen: »Aber der Mensch darf nicht aufgeben. Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.« In einer schlichten, klaren, fast lapidaren und scheinbar emotionslosen Sprache voller Symbole und Metaphern erzählt Hemingway von einem einsamen Menschen, der sich im Zweikampf mit der Natur misst, der Sieger und Unterlegener zugleich ist und sich schließlich auch in der Niederlage nicht besiegen lässt. Der leidenschaftliche Glaube an die Würde des tragischen Helden, die Schönheit des Kampfes, die Willenskraft des Einzelnen und die metaphysische Unbesiegbarkeit des Kämpfers spricht aus dem gesamten Roman.
Welche Botschaft hat der Roman?
Das Credo könnte lauten, man darf sich dem Schicksal nicht kampflos überlassen. Das Schicksal des alten Fischers Santiago ist ein Sinnbild des Menschen in seinem Leben. Siege und Niederlagen, Glück und Unglück, Triumph und Schmach kommen und gehen – all das ist vergänglich. Wichtig ist, um das Glück zu kämpfen, sich der Herausforderung zu stellen. Auch wenn man diesen Kampf verliert, gilt es, Würde und Stolz zu bewahren. Das weiß der Fischer, deshalb segelt er mit der gleichen Sorgfalt, die er aufgebracht hätte, wenn er gesiegt hätte, in den Heimathafen zurück, und deshalb bricht er erneut auf, um den großen Fang zu machen.
War Hemingway ein Draufgänger?
Nach außen hin schien es so. Zeit seines Lebens scheute er keine Gefahr, war Kriegsreporter, liebte das Abenteuer, das er als Großwildjäger und Hochseefischer suchte. Andererseits hatte er mit Depressionen zu kämpfen. Geboren wurde Ernest Hemingway am 21.7.1899 in Oak Park/Illinois. Er begann als Lokalreporter, bevor er sich 1918 an die italienische Front meldete. In den 1920er Jahren teilte er sein selbst gewähltes Exil in Paris mit anderen Schriftstellern der »Lost Generation« wie F. Scott Fitzgerald. 1927 wurde er mit »Fiesta« berühmt. Nach seinem 1939 veröffentlichten Epos »Wem die Stunde schlägt« setzten Schreibhemmungen ein. Er benötigte über ein Jahrzehnt für »Über den Fluss und in die Wälder«. Der Roman wurde böse verrissen, doch Hemingway schwang sich noch einmal zu einer Höchstleistung auf: »Der alte Mann und das Meer« (1952) wurde enthusiastisch gefeiert, 1954 erhielt er den Nobelpreis. Am 2.7.1961 erschoss sich der unheilbar kranke Hemingway in seinem Ferienhaus in Idaho.
Wussten Sie, dass …
Hemingways Bemerkung, dass »kein Hurensohn, der den Nobelpreis gewonnen hat, jemals wieder etwas Lesenswertes geschrieben hat«, sich auch für ihn bewahrheiten sollte? Hemingway verfiel nach der Preisverleihung in Depressionen, seine Schreibfähigkeit erlosch. »Der alte Mann und das Meer«, neun Jahre vor seinem Tod geschrieben, blieb sein letztes vollendetes Werk.
Becketts Warten auf Godot: Faszination des Absurden
Was passiert in dem Stück?
Auf den ersten Blick nichts. An einem unbestimmbaren Ort, unter einem Baum an einer Landstraße, warten die Clochards Wladimir und Estragon auf den ihnen unbekannten Godot, mit dem sie eine Verabredung haben. Allerdings sind sie unsicher, ob es sich um den richtigen Tag handelt. Godot zeigt sich nicht, dafür taucht der tyrannische Pozzo mit seinem schwer bepackten Diener Lucky auf und unterhält sich mit Wladimir und Estragon. Immerhin erscheint am Ende des Tages ein Junge, der den beiden Landstreichern mitteilt, dass Godot »heute Abend nicht kommt, aber sicher morgen«. Der nächste Tag, der nächste Akt, bringt den beiden Wartenden wieder eine Begegnung mit dem inzwischen erblindeten Pozzo und dem nun verstummten Lucky. Wie schon im ersten Akt versuchen sich Wladimir und Estragon angesichts der Sinnlosigkeit ihres Wartens vergeblich umzubringen. Am Ende des Tages und des Stückes erscheint erneut der Junge, der die beiden wieder auf den nächsten Tag vertröstet.
Gibt es eine Erlösung?
Eher nicht. Für den Namen »Godot« hat Beckett mehrere Deutungen nahegelegt – darunter auch die, dass es sich um eine Verballhornung des Argot-Worts für Stiefel (godillot beziehungsweise godasse) handle. So beginnt »Warten auf Godot« damit, dass Estragon versucht, seine Stiefel auszuziehen: eine Reminiszenz an Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, wo den Erzähler beim Öffnen der Schuhe die »göttliche Gegenwart« der Erinnerung überfällt. Beckett aber haben die großen Gesten nur mehr zur Parodie gedient: Nach Auschwitz und Hiroshima konnte er an einen tieferen Sinn nicht mehr glauben.
Deshalb gelingt die Vergegenwärtigung des Göttlichen, für das Godot (= God, Dieu, Gott?) vielleicht ein Symbol sein könnte, nicht. Bezeichnenderweise tritt der »Erlöser« während des Stücks gar nicht auf und lässt die beiden Wartenden am Ende durch den Boten – einen Engel? – auf später vertrösten. Auch Pozzo kann Godot nicht sein.
Ändert sich überhaupt irgendetwas?
Kaum. Das Bild vom Schuh strukturiert refrainartig das Stück und unterstreicht dessen zyklische Struktur. Zu Beginn des zweiten Akts sind Estragons Versuche von Erfolg gekrönt: Hier stehen die Stiefel mit abgespreizten Spitzen in Chaplin-Manier an der Rampe (Beckett bewunderte Chaplin und nicht nur die Anfangsszene von »Godot« ist reiner Slapstick). Auch der Baum, der das karge Bühnenbild beherrscht, trägt nun einige Blätter. Ansonsten aber spielt alles »um dieselbe Zeit, an derselben Stelle«, im raum-zeitlosen Nirgendwo. »Die Zeit ist stehengeblieben«, im Grunde ändert sich nichts. Wo keine Zeit ist, ist keine Erinnerung. Becketts Helden haben ein »schwaches Gedächtnis«. Was sie gestern gemacht haben, bleibt ihnen unbekannt. Schnell haben sie alles vergessen, sogar das Aussehen der eigenen Stiefel: »Das sind nicht meine.«
Was kennzeichnet die Figuren des Stücks?
Den Figuren fehlt eine von Gott zu errettende Seele. Nicht einmal ein eindeutiger Name ist ihnen geblieben: »Wladimir« und »Estragon« nennt sie nur die Regieanweisung; sie selbst sprechen sich als »Didi« und »Gogo« an, Estragon nennt sich »Catull«. Ihre sinnlosen Dialoge dienen offenbar allein dem Zweck, sich »einzureden, dass wir existieren«.
Wo bleibt der Sinn?
Oberflächlich betrachtet hat das Stück keinen Sinn. Der Verlust der Schuhe verweist darauf, dass man die Bühne nicht verlassen kann. Sogar Selbstmord ist ausgeschlossen: Der Baum wäre nicht stabil genug. Und die Regieanweisung führt Estragons »Gehen wir!« ad absurdum: »Sie gehen nicht von der Stelle.«
Von ähnlichem Stillstand ist auch Becketts »Endspiel« (1956) geprägt. Jenseits der Bühne gibt es kein Dasein. So fürchten auch hier die Figuren nichts mehr, als »etwas zu bedeuten«. »Ich hätte genau das Gegenteil behauptet«, sagt Wladimir in »Godot« einmal: Alles bleibt in der Schwebe.
Was prägte die Kindheit und Jugend des irischen Schriftstellers?
Die Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten in seiner Heimat. Geboren 1906 in Dublin, ging Beckett nach einem Studium der Sprachen Französisch und Italienisch als Englischlehrer nach Paris, wo er unter anderem seinen Landsmann James Joyce kennenlernte.
1930 kehrte er als Universitätsdozent nach Dublin zurück, kündigte jedoch zwei Jahre später, um Schriftsteller zu werden.
1937 siedelte Beckett endgültig nach Paris über. 1940 schloss er sich der Résistance an und ging 1942 in den Untergrund.
Nach der Befreiung 1944 kehrte er nach Paris zurück. 1961 heiratete er seine Partnerin im Widerstand, die Pianistin Suzanne Deschevaux-Dumesnil. Inzwischen war Beckett ein erfolgreicher Erzähler und Dramatiker – 1969 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. In seinen letzten Lebensjahren wurde es still um den Autor. Seit seinem Tod 1989 ist er vor allem mit seinen Bühnenwerken öffentlich immer noch präsent.
Wussten Sie, dass …
Beckett abwechselnd in Englisch und Französisch schrieb und seine eigenen Texte auch in die jeweils andere Sprache übersetzte?
der Autor in den 1930er Jahren mehrere längere Reisen nach Deutschland unternahm?
Beckett nach einem Überfall, bei dem er durch einen Messerstich verletzt wurde, seine spätere Ehefrau Suzanne kennenlernte?
Pasternaks Doktor Schiwago: Liebe in den Zeiten der Revolution
Wie ist der Roman »Doktor Schiwago« entstanden?
Boris Pasternak (1890–1960) betrachtete seine Lyrik nur als Fingerübung für das ganz große Prosawerk. Bereits 1934 suchte er nach einer Idee für einen »gewöhnlichen Roman«, in den auch »einige unansehnliche und armselige Worte des Alltags« Eingang finden sollten. Unter dem Arbeitstitel »Jungen und Mädchen« begann Pasternak zehn Jahre später mit dem Schreiben. Weitere zehn Jahre später war »mein erstes echtes Werk« beendet. Pasternak hatte sein Ziel erreicht: Denn »Doktor Schiwago« (1956) ist ein sprachlich und kompositorisch einfaches Buch im Stil des russischen Realismus geworden, das vom Gewöhnlichen des Alltagslebens ebenso berichtet, wie es Resümee des eigenen Lebens und ein Panorama russischer Zeitgeschichte ist.
Wer steht im Zentrum des Geschehens?
»Doktor Schiwago« erzählt die Leidensgeschichte des bürgerlichen Arztes und Dichters Juri Schiwago, der am »proletarischen« Fortschritt Russlands im 20. Jahrhundert keinen Anteil hat. Er arbeitet fern aller Ideologien und getragen von reiner Nächstenliebe. Im Ersten Weltkrieg lernt er die Lehrerin Lara kennen, die ihm als Krankenschwester assistiert; sie ist mit einem kommunistischen Idealisten verheiratet, der später als berüchtigter Zugführer der Roten Armee mordend und brandschatzend durch Russland zieht, bevor die Partei ihn zum Selbstmord zwingt. Lara ist die große Liebe Schiwagos, trotzdem heiratet er die grundgütige Tonja.
Wie wirken sich die politischen Ereignisse auf Schiwagos Schicksal aus?
Schiwagos hoffnungsvoll begonnene Karriere nimmt eine jähe Wende. Seine Gedichte werden als reaktionär verunglimpft; er muss Moskau verlassen und siedelt auf sein Familiengut Warikino über, um hier in bäuerlicher Idylle fernab revolutionärer Tumulte zu leben. Allerdings muss er im Gesindehaus wohnen, da das Haupthaus inzwischen enteignet wurde und verfällt: Die Revolution hat das flache Land längst erreicht. Als Schiwago im Nachbarort Lara wieder trifft, verlässt er seine hochschwangere Frau, verliert aber in einem Akt des Stolzes auch Lara wieder.
Es scheint Schiwagos Schicksal zu sein, an den Zeitumständen zu zerbrechen. Am Ende erliegt er in der Straßenbahn, während er Lara auf der Straße gehen sieht, einem Herzanfall: das banale Ende eines Menschen, den die Zeit überrollt hat und der durch private Fehler und gesellschaftliche Umstände sein Lebensglück nicht verwirklichen konnte.
Warum erschien der Roman zuerst in Italien?
Pasternaks Roman wurde aufgrund seines nicht systemkonformen Inhalts von sowjetischen Verlagen abgelehnt. 1957 wurde er in italienischer Sprache veröffentlicht und zum Sensationserfolg; zahlreiche weitere Übersetzungen folgten. Nach einer beispiellosen Hetzkampagne und der Androhung seiner Ausbürgerung musste Pasternak ein Jahr später auf die Annahme des Nobelpreises verzichten, wurde aber dennoch aus dem Schriftstellerverband der Sowjetunion ausgeschlossen. Erst 1987 konnte »Doktor Schiwago« in der UdSSR veröffentlicht werden; im Zuge der Perestroika-Politik Michail Gorbatschows wurde Pasternak offiziell rehabilitiert.
Was stellt David Leans Romanverfilmung in den Vordergrund?
David Leans Film von 1965 mit Omar Sharif, Julie Christie und Geraldine Chaplin engt Pasternaks politische Geschichte stark auf das Dreiecksverhältnis der Protagonisten ein. Die innovative Ästhetik des Films (und die eingängige Filmmusik) trug wesentlich dazu bei, die Parabel über künstlerische Rastlosigkeit, geistige Isolation und »ewige« Liebe in Zeiten von Revolution und politischer Unterdrückung im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu halten.
Schadete die Ächtung durch die Kulturbürokratie Pasternaks Popularität?
Nein, Boris Pasternak zählte trotz der Repressalien durch die Partei zu den bedeutendsten und beliebtesten literarischen Persönlichkeiten der Sowjetunion. Er wurde am 10.2.1890 nahe Moskau in eine gebildete jüdische Familie geboren, beschäftigte sich mit Philosophie und Musik, begann, unter dem Einfluss von Symbolismus und Impressionismus Lyrik zu schreiben. Mit ihrer ungewöhnlichen Metaphorik weist sie stark modernistische Tendenzen auf, ist aber auch stark philosophisch geprägt. Nachdem Pasternak beim sowjetischen Regime und den Verfechtern des Sozialistischen Realismus in Ungnade gefallen war, verdiente er seinen Lebensunterhalt als (ausgezeichneter) Übersetzer etwa von Shakespeare, Goethe und Rilke. Pasternak starb am 30.5.1960 in der Nähe von Moskau.
Wussten Sie, dass …
Boris Pasternak, bevor er 1956 seinen einzigen Roman »Doktor Schiwago« vollendete, bereits zahlreiche hoch gelobte Gedichte veröffentlicht hatte? Er war damals allerdings auch schon als Vertreter einer »formalistischen« Moderne bei der Sowjetregierung in Ungnade gefallen.
der junge Boris in einem ausgesprochen künstlerisch geprägten Umfeld aufwuchs? Sein Vater war Professor für Kunst, seine Mutter Pianistin.
Pasternak seinen Schulabschluss am Deutschen Gymnasium in Moskau machte und später ein Semester lang an der Universität Marburg studierte?
Die Blechtrommel von Grass: Verweigerung eines Außenseiters
Was ist so außergewöhnlich an Oskar Matzerath?
Der Held von Günter Grass' großem Roman aus dem Jahr 1959 ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Am Anfang von Oskars von ihm selbst erzählter Biografie begegnet ihm der Leser in einem psychiatrischen Krankenhaus, wo Oskar schreibend und trommelnd in seiner Zelle sitzt. Bereits von der ersten Seite an ist klar, dass mit diesem Ich-Erzähler etwas nicht stimmen kann, und Grass bestärkt das Urteil noch, indem er den Trommler von seiner merkwürdigen Geburt in Danzig berichten lässt, die ihn als echte Kunstfigur ausweist: »Ich gehörte zu den hellhörigen Säuglingen, deren geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist und sich fortan nur noch bestätigen muss.«
Welche Geschichte erzählt Oskar?
Oskar erzählt die Geschichte seines Lebens und die seiner Familie. Mithilfe seiner Blechtrommel kann er sich auch Geschehnisse lange vor seiner Existenz vor Augen rufen und so erfahren wir von der Zeugung seiner Mutter im Jahr 1899 auf einem kaschubischen Kartoffelacker – die Szene, mit der der Roman beginnt. Der Autor lässt nun ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte Revue passieren, viel erfahren wir über das Zusammenleben von Deutschen, Polen und Kaschuben in Danzig, dem Hauptschauplatz des Romans.
Welche Funktion hat die Trommel im Roman?
Sie steht für Oskars Verweigerungshaltung. An seinem dritten Geburtstag bekommt er eine Blechtrommel, die er künftig als Zeichen seiner Unabhängigkeit vor sich herträgt. Oskar weigert sich, in dieser Welt mitzumachen, und beschließt, das Wachstum einzustellen. Mit seiner Trommel wirkt er immer wieder als Störfaktor in einer spießigen und verlogenen Welt, stellt die Ordnung auf den Kopf, wenn er zum Beispiel die Blaskapelle eines Naziaufmarschs mit anarchischem Rhythmus durcheinanderbringt.
Handelt Oskar moralisch?
Oskar unterliegt nur bedingt moralischen Kriterien. Man kann ihn also kaum tadeln, wenn er den Geliebten seiner Mutter, Jan Bronski, einen seiner beiden Väter, 1939 in die von deutschen Truppen belagerte Danziger Polnische Post und damit in den sicheren Tod schickt, nur um an die begehrte Trommel zu gelangen. Oder wenn er, unter Zuhilfenahme seines »Musikinstruments«, den als Koitus interruptus gedachten Verkehr seines anderen Erzeugers Alfred Matzerath mit dem Hausmädchen Maria zum vollendeten Beischlaf einschließlich Zeugungsvorgang macht, um auf diese Weise seinerseits zum »zweiten Vater« eines Sohnes zu werden. Als er den Mitläufer Alfred beim Einmarsch der Russen 1945 an dessen NSDAP-Abzeichen ersticken lässt, ist das zwar schwärzester Protest gegen dessen Lebensweg, keineswegs aber jener von Kritikern immer wieder gern konstatierte obszöne Zynismus eines nihilistischen Autors.
Wie lässt Grass Geschichte lebendig werden?
Er versucht, »genauere Fakten zu erfinden als die, die uns als angeblich authentisch überliefert werden«, wie im Roman »Der Butt« (1977), wo Grass abermals Danzig als Mikrokosmos wählte. Dieses Konzept ist schon der »Blechtrommel« eigen: Reichspogromnacht, Zweiter Weltkrieg und Wirtschaftswunder bekommen schärfere Konturen im Scheinwerferlicht eines Erzählers, der dem Euthanasieprogramm der Nazis als Zirkus- und Frontunterhalter nur knapp entging. Erst im sprachlich schwächeren dritten Buch der »Blechtrommel«, in dem sich Oskar in Westdeutschland als Steinmetz verdingen muss und mit Jazzplatten zu Reichtum kommt, versagt Grass' Kompositionstalent. Dem Gesamteindruck seines brillanten Romans allerdings tut das keinen Abbruch.
Im Roman »Die Rättin« aus dem Jahr 1986 betritt der gealterte Oskar noch einmal die Bühne – und in »Mein Jahrhundert«, einer sehr persönlichen Bestandsaufnahme des 20. Jahrhunderts mit Aquarellen des Autors, darf sich die Figur neben historischen Gestalten tummeln und der Welt ein letztes Mal den Marsch trommeln.
Wussten Sie, dass …
Grass mit der Novelle »Katz und Maus« (1961) und dem Roman »Hundejahre« (1963) seine »Blechtrommel« etwas gewollt zur »Danziger Trilogie« zusammenfasste?
die 1979 entstandene Verfilmung der »Blechtrommel« von Volker Schlöndorff mit einem Oscar für den besten nicht englischsprachigen Film ausgezeichnet wurde?
Konnte sich Grass vom Schatten der »Blechtrommel« befreien?
Er hat zwar immer dagegen anzuschreiben versucht, doch bis heute steht sein Roman monolithisch als eines der aufregendsten Werke der deutschen Nachkriegsliteratur da. Günter Grass (geb. 16.10.1927 in Danzig) lernte Steinmetz, studierte Grafik und Bildhauerei in Düsseldorf und Berlin. 1956 bis 1959 lebte er in Paris. 1957 wurde er Mitglied der Schriftstellergemeinschaft »Gruppe 47«, 1959 schaffte er mit seinem Romandebüt »Die Blechtrommel« auf Anhieb den internationalen Durchbruch.
Updikes Rabbit-Romane: Psychogramm eines Durchschnittsbürgers
Wer ist Rabbit?
Der Protagonist des 1960 begonnenen und 1990 abgeschlossenen »Rabbit«-Zyklus heißt Harry Angstrom. Wegen seiner kurzen Nase trägt er den Spitznamen Rabbit, Kaninchen. Schauplatz der vier Rabbit-Romane ist das Provinznest Brewer. Dort begegnet der Leser in »Hasenherz« erstmals dem 26-jährigen Harry, der nichts Rechtes mit sich anzufangen weiß. Daran ändert sich im Grunde nichts, trotz sozialem Aufstieg, 30 Jahren Ehe, Kindern, Liebschaften, großer persönlicher Katastrophen und kleiner peinlicher Niederlagen. Als ihn Updike im letzten Roman sterben lässt, ist sein Tod banal: ein Herzinfarkt, nachdem er beim Basketballspielen noch einmal den Ehrgeiz zu siegen gespürt hatte.
Warum ist Harry mit seinem Leben unzufrieden?
Harry langweilt sich, im Job, mit seiner alkohol- und fernsehsüchtigen Ehefrau Janice und dem verunsicherten Sohn Nelson. Einst gefeierter Baseballstar seiner Schule, glaubt er, dass das Leben Lohnenderes für ihn bereithält. Er fühlt sich seinem spießigen Umfeld überlegen und hat trotzdem Angst, ihm nicht zu genügen. Harry will ständig »raus hier«, aber seine Fluchtversuche scheitern regelmäßig auf absurde Weise.
Wie verläuft Harrys Fluchtversuch?
Er ist zum Scheitern verurteilt. Harrys junge Ehe mit Janice ist bereits von ziemlichem Überdruss gezeichnet, als sie ihrem Ehemann eröffnet, dass sie das zweite Kind erwartet. Die panische nächtliche Flucht des Protagonisten mit dem Auto endet in den Armen der Amateurhure Ruth, mit der er sich mit schlechtem Gewissen eine sexuell ungehemmte Auszeit von der Ehe gönnt. Zur Geburt des Kindes kehrt er zu Janice zurück, aber der Neubeginn mündet schnell wieder in Entfremdung. Das Fluchtmotiv trägt der erste Roman »Hasenherz« schon im englischen Originaltitel »Rabbit, run«, also »Hase, renn«.
Wie kommt es zur Katastrophe?
Harry verlässt seine Frau abermals, die daraufhin verzweifelt und betrunken den Tod des Babys verursacht. Von der Familie wird Harry als der eigentlich Schuldige geächtet. Seine Beziehung zu Ruth zerbricht, als auch sie von ihm schwanger wird. So tritt Harry die Flucht ins Ungewisse an. Radikal bricht er mit seiner bisherigen Existenz, kündigt den Job, löst sich von allen persönlichen Verpflichtungen. Die Hoffnung jedoch, die unsichtbaren Fesseln des »modernen Niemandslandes« wirklich abstreifen zu können, ist gering.
In der Tat zeigt sich in den weiteren Romanen des Zyklus – »Unter dem Astronautenmond« (1971), »Bessere Verhältnisse« (1981) und »Rabbit in Ruhe« (1990) – die Aussichtslosigkeit seiner Befreiungsversuche. Harry sitzt in der Falle. Zutiefst unzufrieden mit seinem Leben, aber zu passiv, um es grundlegend zu ändern, bleibt ihm nur, aus Opposition den einen oder anderen Haken zu schlagen, wie ein Hase auf der Flucht vor den Jagdhunden.
Was ist das Besondere am Autor Updike?
John Updike, der für die beiden letzten Rabbit-Romane mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, zeigt sich insgesamt in seinem umfangreichen Erzählwerk als unbestechlicher Chronist des American Way of Life. Dabei interessieren ihn besonders die zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht zuletzt deren erotische Aspekte, und das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. Trotz seiner manchmal beißenden Ironie begegnet Updike seinen Figuren immer mit Fairness und Respekt. Da ist bei aller Kleinheit, zu der sie durch die Banalität des Alltags verdammt sind, immer auch Platz für menschliche Größe. »Keine Kritik kann dieser Fülle gerecht werden«, stand in der Rezension von »Rabbit in Ruhe« in der »Washington Post« zu lesen. »Lesen Sie ihn! Es ist der seit langem beste Roman über Amerika aus Amerika.«
Trifft Updike den Nerv der Zeit?
Ja, er gehört mit seinen hellsichtigen Betrachtungen des Alltagslebens zu den meistgelesenen amerikanischen Romanautoren der Gegenwart. Am 18.3.1932 in der neuenglischen Provinz geboren (Updikes Geburtsort Shillington, Pennsylvania, stand Pate für das öde Brewer der »Rabbit«-Tetralogie) und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, schaffte es Updike zum Harvard-Absolventen und preisgekrönten Autor. Nach seinem Abschluss arbeitete er 1957–1959 für den »New Yorker«, bevor er sich ganz auf die Schriftstellerei verlegte. Das Personal seiner Romane sind Durchschnittsamerikaner, die sich bei genauem Hinsehen als vielschichtige Charaktere entpuppen.
Wussten Sie, dass …
Updike mit seiner entlarvenden Analyse der amerikanischen Gesellschaft an den Kulturpessimismus seiner Generationsgefährten J. D. Salinger (»Der Fänger im Roggen«, 1951) und Thomas Pynchon (»Die Enden der Parabel«, 1971) anknüpft? Allerdings vermeidet Updike deren unerbittliche Rigorosität.
Márquez' Hundert Jahre Einsamkeit: Fantastisches Familienepos
Welche Elemente des magischen Realismus finden sich im Roman?
Typische Merkmale des magischen Realismus lateinamerikanischer Prägung sind das Nebeneinander verschiedener Zeit- und Wirklichkeitsebenen und die Omnipräsenz der Gewalt. In der Schlusssequenz des Romans zeigen sich diese Elemente besonders deutlich: »Macondo war bereits ein von der Wut des biblischen Taifuns aufgewirbelter wüster Strudel aus Schutt und Asche, als Aureliano in den Pergamenten elf Seiten übersprang … und begann den Augenblick zu entziffern, den er gerade durchlebte, und enträtselte ihn, während er ihn erlebte, und sagte sich im Akt des Entzifferns selber die letzte Seite der Pergamente voraus, als sähe er sich in einem sprechenden Spiegel.«
Wo ist die Geschichte der Familie Buendía angesiedelt?
Der isoliert im Urwald gelegene Schauplatz – das Dorf Macondo, das der Stammvater José Arcadio Buendía Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet hat – ähnelt nicht nur dem Geburtsort des Verfassers (Aracataca), sondern ist zugleich eine ins Magische überhöhte Metapher für die Mentalität und Geschichte Kolumbiens. Ihre wesentlichen Stationen, von der Kolonialzeit über Bürgerkrieg und Bananenboom bis zu den späteren Diktaturen, bilden den historischen Rahmen des im Jahr 1967 erschienenen Romans »Cien años de soledad«.
Woran erinnern die Figuren des Romans?
Die kaum entwirrbare Genealogie der Buendía liest sich wie die Kontrafaktur einer gutbürgerlichen europäischen Dynastie: Ausgehend von der halbmythischen Stammmutter Ursula pflanzen sich diese skurrilen, übervitalen Menschen durch Schändung und Blutschande fort, sieben Generationen lang geschlagen von einem rätselhaften Fluch innerer Einsamkeit und äußerer Maßlosigkeit. Am apokalyptischen Ende erweist sich, dass dieser Fluch auf einer alten Prophezeiung beruht, niedergelegt in den Pergamenten eines mysteriösen Zigeuners, die der Letzte der Sippe im Augenblick seines Todes entziffert.
Welche Funktion haben die fantastischen Züge?
Die sich stetig wiederholende Relativierung des Geschehens durch ein zyklisches Element und die Durchbrechung von realistischen Schilderungen mit fantastischen und allegorischen Zügen sind ganz typische Erzählstrategien des magischen Realismus. Was zunächst nur als Übertreibung erscheint – die Namenspermanenz der männlichen Buendía (die fast allesamt Aureliano heißen), die schier endlosen Gelage und die üppigen Schlachtfeste, sexuelle Raserei und ein immenser Kindersegen –, entpuppt sich als fast unmerklicher Übergang in eine andere, traumhafte Realität. Márquez bringt zum Beispiel die naive Haltung der Urwaldeinwohner gegenüber technischen Innovationen ins Spiel (die Eisenbahn etwa wirkt auf sie »wie eine Art Küche, die ein Dorf hinterdreinschleppt«) und durchwebt die Szene geschickt mit märchenhaften Ereignissen und Figuren: ganz besonders hervorstechend etwa derjenige Aureliano, dem stets ein Schwarm von gelben Schmetterlingen folgt, oder die biblische Gestalt des Zigeuner-Propheten Melquíades. So entsteht ein faszinierendes, mitunter ironisch akzentuiertes Panoptikum eines scheinbar chaotischen Kosmos, in dem doch alles durch geheimnisvolle Kräfte vorherbestimmt ist.
Welche Vorbilder hat der Autor für seine Romane?
Fantastische Elemente kannte bereits die Literatur der Antike (etwa in der Menippeischen Satire), mit kongenialen Nachfolgern wie Rabelais und den Romantikern (Hoffmann, Poe), die sie aus der rein logischen und realistischen Funktion herauslösten und ihren poetischen Reiz entdeckten. Der magische Realismus lateinamerikanischen Typs war jedoch erst eine Schöpfung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Begriff geht zurück auf den kubanischen Autor Alejo Carpentier, der die Geschichte seines Kontinents als eine Art »Chronik des Wunderbaren im Wirklichen« empfand und mit dem Roman »Das Reich von dieser Welt« (»El reino de este mundo«, 1949) die Tradition des Genres begründete.
Ist die Idee von der Realität hinter der Realität neu?
Die Auffassung der Realität als Folie einer eigentlichen, dahinter verborgenen Wirklichkeit war kein neuer Gedanke, er fand jedoch im Zusammenhang mit der Welt Südamerikas, die von einem komplexen Ineinandergreifen moderner westlicher und archaischer Zivilisation geprägt ist, eine gänzlich neue Bedeutungsebene und zugleich ein unerschöpfliches Arsenal von Szenarien und Typen.
Wie kam der Enkel eines kolumbianischen Obersts nach New York?
In einer Kleinstadt im Norden Kolumbiens geboren, wuchs Gabriel García Márquez bei seiner Großmutter mütterlicherseits auf. Der Großvater hatte um die Jahrhundertwende als Oberst am Bürgerkrieg teilgenommen. Márquez studierte mithilfe eines Stipendiums am Jesuitenkolleg in Zipaquirá. Das von den Eltern gewünschte Jurastudium in Bogotá brach er im Jahr 1950 ab.
Zunächst arbeitete der politisch engagierte García Márquez als Journalist und lebte als Korrespondent in verschiedenen Städten wie Rom, Paris, New York, Barcelona und Mexico.
Erst als Romancier fand er seine Bestimmung und internationales Renommee. Der literarische Durchbruch gelang ihm mit dem Roman »Hundert Jahre Einsamkeit«. Im Jahr 1982 wurde er dafür mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt und sein Roman »Chronik eines angekündigten Todes« (1981) erfolgreich verfilmt.
Wussten Sie, dass …
der Roman in 35 Sprachen übersetzt und weltweit 30 Millionen Mal verkauft wurde?
sich neben Márquez unter anderem der Guatemalteke Miguel Ángel Asturias (»Der Herr Präsident«, 1946), der Mexikaner Carlos Fuentes (»Terra nostra«, 1975) und der Kubaner José Lezama Lima (»Paradiso«, 1966) als bedeutende Repräsentanten des magischen Realismus profilierten?
2006 ein Referendum zur Umbenennung des Geburtsorts des Autors in Aracataca-Macondo an zu geringer Wahlbeteiligung scheiterte?
Solschenizyns Archipel GULag: Anklage gegen den Lagerterror
Woher kannte Solschenizyn das Terrorsystem?
Die erste Hälfte des Lebens von Alexander Solschenizyn (geb. 1918) war von Aufenthalten in Straf- und Arbeitslagern geprägt: 1945 wurde er wegen kritischer Äußerungen über Stalin verhaftet und zu acht Jahren Straflager verurteilt, die er größtenteils in Spezialgefängnissen verbrachte. Nach dem Ende seiner Haft 1953 wurde er keineswegs freigelassen, sondern auf Lebenszeit nach Kasachstan verbannt. Zwar wurde er 1957 rehabilitiert, nach der Veröffentlichung systemkritischer Bücher musste er aber weitere Repressalien erdulden: 1966 erhielt er Publikationsverbot in der UdSSR, sodass seine Bücher in seiner Heimat nur noch im »Samisdat« in Umlauf kamen. Weltweit fanden seine Werke inzwischen massenhafte Verbreitung und große Anerkennung. Bester Ausdruck dafür ist der Literatur-Nobelpreis, der ihm 1970 verliehen wurde (in seiner Abwesenheit, da er die Sowjetunion nicht verlassen durfte). 1974 wurde er verhaftet, ausgebürgert und des Landes verwiesen; erst 20 Jahre später, nach der Perestroika, kehrte er in seine Heimat zurück.
Wie verarbeitete Solschenizyn seine Erlebnisse?
Seine Lagererfahrungen in der stalinistischen Schreckenszeit wurden zu Solschenizyns zentralem Thema. Schon seine erste Erzählung »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« (1962) beschreibt den Alltag in einem Straflager. Auch der Roman »Der erste Kreis der Hölle« (auch »Im ersten Kreis«, 1969) greift auf eigene Erlebnisse zurück: Er schildert die Zustände in einem Sondergefängnis für hoch qualifizierte Häftlinge.
Auf welche Quellen stützt sich »Archipel GULag«?
Im »Archipel GULag« (1973–1975) hat sich Solschenizyn dem Thema der Arbeitslager mit dokumentarischen Mitteln genähert: Gestützt auf eigene Erinnerungen und Berichte von Überlebenden, schuf er das bis heute umfassendste Werk über das komplexe System des sowjetischen Strafvollzugs zwischen 1918 und 1956. Die monumentale Arbeit versteht sich als »Versuch einer künstlerischen Bewältigung« der Vorgänge in der sowjetischen »Gefängnisindustrie«: Das Buch verbindet wissenschaftlich-dokumentarische Elemente (Statistiken, Karten, Tabellen) mit Augenzeugenberichten und erzählerisch aufbereiteten eigenen Erinnerungen.
Was beschreibt das Werk?
»Archipel GULag« schildert eine vom »normalen« Leben in der Sowjetunion völlig isolierte Inselwelt (»Archipel«) von zahllosen Straflagern, die nach der Oktoberrevolution errichtet worden waren. Sie dienten der Bestrafung von »Staatsfeinden« und zugleich der Gewinnung von kostenlosen Arbeitssklaven. Millionen willkürlich Verhafteter wurden nicht nur systematisch mit brutalen Methoden gefoltert, sondern vor allem zur Arbeit gezwungen: »Vernichtung durch Arbeit« hieß das erklärte Ziel.
Alexander Solschenizyn beleuchtet das System der stalinistischen Gefangenenlager, in denen bis zum Jahr 1959 Millionen von Menschen ihr Leben ließen, von verschiedenen Seiten. Er widmet sich der historischen Entwicklung der Straflager-»Industrie« ebenso wie dem volkswirtschaftlichen Zweck der Häftlingsarbeit, den unmenschlichen Lebensbedingungen in den Lagern ebenso wie der Herkunft der rechtlosen Opfer, der Massenvertreibung ganzer Volksgruppen und den auch nach Stalins Tod unverminderten Aktivitäten der Verfolgungsorgane. Als Ergebnis gelang ihm dabei ein aufrüttelndes Zeugnis eines gigantischen Terrorapparates, von dem die Welt bis dahin kaum Notiz genommen hatte.
Welche politische Tragweite entfaltete das Buch bei seinem Erscheinen?
Das Erscheinen von »Archipel GULag« hat in zweierlei Hinsicht weit reichende Reaktionen hervorgerufen. Zum einen sahen sich die sowjetischen Machthaber nach der Veröffentlichung dazu veranlasst, Solschenizyn aus der UdSSR auszuweisen, womit sie seine Darstellung der Sowjetunion als Unrechtsstaat schlechthin bestätigten. Zum anderen hat dieses Buch das Bild der Sowjetunion im Westen nachhaltig geprägt: Die einen wurden in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Kommunismus bekräftigt, der die Menschenrechte nicht erkämpft, sondern mit Füßen getreten habe; die anderen, die zuvor mit Moskau sympathisiert hatten, mussten in der Folge mit dem Verlust einer großen Utopie fertig werden.
So viel Wirkung in außerliterarischen Bereichen hatte ein Buch selten; der »Archipel GULag« hat gezeigt, was Literatur immer noch zu leisten imstande ist. So ist Alexander Solschenizyns Monumentalwerk vielleicht nicht in literarischer Hinsicht, sicher aber weltpolitisch eines der wichtigsten Bücher des vergangenen Jahrhunderts.
Was ist Samisdat-Literatur?
Der Begriff steht für im Untergrund publizierte Literatur. Als nach Stalins Tod Meinungs- und Pressefreiheit in der Sowjetunion nicht, wie erhofft, vergrößert, sondern die staatlichen Zensurmaßnahmen sogar noch verschärft wurden, entwickelte sich ein Netz illegaler Privatverlage, die offiziell unerwünschte Werke veröffentlichten und im Untergrund in Umlauf brachten. Die Literatur des so genannten Samisdat (russisch für »Selbstverlag«) konnte nur durch Schreibmaschinen-Abschriften vervielfältigt werden, da private Fotokopierer oder ähnliche Geräte verboten waren.
Wussten Sie, dass …
Solschenizyn im Straflager einen später ebenfalls prominenten Dissidenten kennen lernte, den ebenfalls inhaftierten Lew Kopelew (1912–1997)?
Solschenizyn im Exil nicht heimisch wurde? Nachdem er 1974 ausgewiesen wurde, nahm ihn zunächst Heinrich Böll auf. Später lebte er 17 Jahre in den USA, allerdings ohne die Sprache zu erlernen. Nachdem er seine russische Staatsbürgerschaft zurückerhalten hatte, kehrte er 1994 nach Russland zurück.
Ecos Der Name der Rose: Ein philosophischer Klosterkrimi
Welche Geschichte wird in dem Roman erzählt?
Das Geschehen von Umberto Ecos (geb. 1932) »Der Name der Rose« (1980) ist im Spätmittelalter angesiedelt, in der Welt gelehrter Mönche. Eco bedient sich der Technik ineinander verschachtelter Fiktionen. In einem mit 1980 datierten Vorwort berichtet ein Erzähler, wie er in den Besitz einer im 14. Jahrhundert entstandenen lateinischen Handschrift gekommen sei, die er übersetzt habe und nun veröffentliche. Die Schrift selbst beginnt wiederum mit einer Rahmenerzählung, in der der Ich-Erzähler, der Benediktinermönch Adson von Melk, am Ende seines Lebens niederschreibt, was er 1327 als junger Novize erlebt hat. Die Binnenhandlung, die sieben Tage umfasst, setzt ein, als der weise Franziskanermönch William von Baskerville und sein junger Begleiter Adson (die Namen spielen auf Sherlock Holmes und seinen Gehilfen Watson an) eine Benediktinerabtei im Apennin erreichen. William ist in politischer Mission unterwegs, er soll im Auftrag des Kaisers ein Treffen zwischen Gesandten des Papstes und Mitgliedern des vom Kaiser unterstützten Franziskanerordens organisieren, bei dem das Verhältnis des Ordens zur Kirche geklärt werden soll.
Welche Wendung nimmt das Geschehen?
Noch bevor die Legationen in der Abtei eintreffen, ereignet sich ein Todesfall: Ein Bruder ist unter mysteriösen Umständen von einem Turm gestürzt. Der für seinen Scharfsinn berühmte William wird vom Abt gebeten, den vermutlichen Mord aufzuklären. Dazu erhält er Zutritt zu allen Teilen des Klosters, jedoch mit Ausnahme der labyrinthisch angelegten, riesigen Bibliothek. Während die beiden »Detektive« durch Befragungen und Beobachtungen Einblicke in das gar nicht so fromme Klosterleben gewinnen, geschehen weitere Morde.
Wohin weisen die Spuren?
Sie führen direkt zu der mysteriösen Klosterbibliothek. William ist mittlerweile davon überzeugt, dass die Vorfälle mit der verbotenen Bibliothek und einem offenbar darin versteckten Buch in Zusammenhang stehen. Nachdem inzwischen das Treffen der Abordnungen stattgefunden hat und die Verhandlungen gescheitert sind, nähert sich die Handlung ihrem Höhepunkt: William und Adson gelangen in das Herz der Klosterbibliothek, wo sie die Lösung des Rätsels vermuten. Dort treffen sie auch tatsächlich den blinden Jorge von Burgos an.
Wer steckt hinter den Morden?
Der blinde Jorge von Burgos stellt sich als der Mörder heraus; allerdings entpuppt sich der erste Todesfall als Selbstmord. Alle Opfer waren einem Buch zu nahe gekommen, das Jorge unter keinen Umständen der Welt preisgeben wollte: das einzige Exemplar des verschollenen zweiten Teils der »Poetik« von Aristoteles. Diese Schrift erhob das Lachen zum ästhetischen Prinzip – für Jorge ein den christlichen Glauben zersetzender Gedanke, von dem niemand je lesen sollte. Nach seiner Entdeckung versucht Jorge, das Buch zu vernichten, indem er es aufzuessen beginnt. In dem Tumult bricht ein Feuer aus; die beiden Protagonisten können sich retten, doch das Buch, Jorge und schließlich die gesamte Abtei werden Opfer der Flammen.
Handelt es sich um einen gewöhnlichen Krimi?
Nein, »Der Name der Rose« ist vordergründig zwar ein historischer Detektivroman, aber die Muster des Genres werden am Ende ironisch umgekehrt: Williams scheinbar logische Schlussfolgerungen erweisen sich als verfehlt, denn seine grundlegende Prämisse, dass das erste Todesopfer ermordet worden sei, war falsch; die Mordfälle werden letztlich nicht durch rationale Überlegung, sondern durch den Zufall gelöst.
Doch der Roman ist mehr als die Parodie eines Detektivromans: Er ist ein Universum von Anspielungen, Verweisen und Zitaten, die von der Bibel bis Aristoteles, von Ludwig Wittgenstein bis Jorge Luis Borges reichen. So bleibt es jedem Leser selber überlassen, Bezüge zu anderen Texten aufzudecken und sich eine eigene Interpretation des Werkes zu erschaffen.
Ist Umberto Eco ein weltabgewandter Universitätsgelehrter?
Nein, der Semiotikprofessor aus Bologna ist in der materiellen Welt sehr wohl zu Hause. Er ist einer der meistgelesenen zeitgenössischen italienischen Schriftsteller. Mit »Der Name der Rose« gelang ihm ein anspruchsvoller Bestseller. Auch in »Das Foucaultsche Pendel« (1989), »Die Insel des vorigen Tages« (1995) und »Baudolino« (2001) unternahm Eco philosophische Exkursionen in die Vergangenheit, die allesamt auf großes Publikumsinteresse stießen. Geboren wurde Umberto Eco am 5.1.1932 im Piemont, er studierte Pädagogik und Philosophie. Anschließend arbeitete er in den 1950er Jahren als Kulturredakteur für das Fernsehen und lehrte in den 1960ern als Professor an verschiedenen Hochschulen. Seit 1975 ist er Professor für Semiotik an der Universität Bologna.
Wussten Sie, dass …
Eco seinen Nachnamen der Geistlichkeit verdankt? Dieser wurde seinem Großvater, der als Baby ausgesetzt wurde, von Priestern verliehen. Sie bildeten aus den Anfangsbuchstaben von »ex caelis oblatus« (der vom Himmel gefallene) den Namen Eco.
Eco mit Auszeichnungen geradezu überhäuft wurde? Er besitzt über 30 Ehrendoktortitel; 2003 wurde er vom französischen Staatspräsidenten Chirac sogar in die französische Ehrenlegion aufgenommen.
Bernhards Auslöschung: Ein literarisches Vermächtnis
Was bezweckt der Erzähler der »Auslöschung«?
Der Ich-Erzähler, Franz-Josef Murau, »geboren 1934 in Wolfsegg, gestorben 1983 in Rom«, wie es gegen Ende des Romans »Auslöschung. Ein Zerfall« (1986) von Thomas Bernhard (1931–1989) lapidar heißt, will mit seiner Herkunft brechen.
Insbesondere Schloss Wolfsegg, wo er aufgewachsen ist, will Murau nicht nur vergessen, sondern völlig auslöschen. Auch alles, was dazu gehört, die Eltern, die katholische Erziehung, die Geistlosigkeit, das falsche elitäre Bewusstsein, das nationalsozialistische Gedankengut, Jagden und Abendgesellschaften, Heuchelei und Angstmacherei … Um diesen radikalen Kahlschlag ins Werk zu setzen, beginnt er, darüber zu schreiben. Der Akt des Schreibens gerät ihm, wie der des Lesens, zu einer Expedition ins Unerforschliche der eigenen Natur: »Mein Bericht löscht Wolfsegg ganz einfach aus. ... Wir tragen alle ein Wolfsegg mit uns herum und haben den Willen, es auszulöschen zu unserer Errettung.« So wird seine Lebensgeschichte, die Franz-Josef Murau in einem schier endlosen Monolog akribisch genau ausbreitet, zur Umkehrung des klassischen Bildungsromans, der ja schildert, wie einer in einem positiven Sinne zu dem geworden ist, der er ist.
Welches Leitmotiv beherrscht den Roman?
»Auslöschung« steht unter dem Leitmotiv des Todes, wie es der französische Philosoph Montaigne im 16. Jahrhundert ausdrückte: »Ich fühle, wie der Tod mich beständig in seinen Klauen hat. Wie ich mich auch verhalte, er ist überall da.« Bernhard hat über Jahre hinweg an diesem »Opus magnum« geschrieben, das stark autobiografische Züge trägt und wie die Quintessenz seiner gesamten Schriftstellerexistenz wirkt. Ein Jahr nach Veröffentlichung des Romans ist Thomas Bernhard auf seinem Vierkanthof im oberösterreichischen Gmunden gestorben. So kann »Auslöschung« denn auch als literarisches Vermächtnis dieses österreichischen Erzählers, Lyrikers und Dramatikers gelten. Der programmatische Titel steht dabei auch für seine radikale Haltung.
Warum gilt der österreichische Autor als ein Nestbeschmutzer?
Vielen Österreichern gilt der Schriftsteller Thomas Bernhard als solcher. 1968 erhielt er zwar den Österreichischen Staatspreis, doch im Lauf der Jahre wuchs der gegenseitige Hass. Denn radikal pessimistisch, verzweifelt, verbittert und voller Verachtung setzte sich Bernhard in seinem Werk mit seinem Land Österreich auseinander. In provokantem Ton analysierte er politische, gesellschaftliche und ökologische Zustände, vor allem »die fortlebende österreichische Liaison« mit dem Nationalsozialismus. In seinem Testament verfügte Bernhard das Verbot aller Neuinszenierungen von Bühnenstücken sowie Publikationen bisher unveröffentlichter Texte in Österreich. Doch 1998, neun Jahre nach seinem Tod, hob eine private Thomas-Bernhard-Stiftung das Verbot wieder auf. Noch im selben Jahr kamen in Wien drei Kurzdramen zur Aufführung.
Jugendliteratur: Rowling, Ende, Lindgren
Lesen Jugendliche gerne Fantasievolles?
Offensichtlich. Der große Erfolg zahlreicher Werke wie der »Harry Potter«-Romane, aber auch früherer Bücher wie Endes »Unendlicher Geschichte« oder Astrid Lindgrens Werke zeigt dies.
Haben die »Harry Potter«-Romane zu Recht Erfolg?
Die »Harry-Potter«-Bücher von Joanne K. Rowling sind sicher in erster Linie Unterhaltungsromane. Doch der Erfolg verdankt sich nicht nur dem Marketing; mit ihrem Sprachwitz und ihrer spielerischen Fantasie haben die Romane die Bestsellerlisten der ganzen Welt zu Recht erobert. Die Romane über den Waisenjungen Harry Potter, der in einer parallelen Fantasiewelt ein Zauberer ist, stellen der tristen und oft verletzenden Wirklichkeit eine magische Welt gegenüber, in der Harry zwar stets in Gefahr ist, letztlich aber immer heldenhaft siegt. So erfährt er im ersten Band der Reihe, »Harry Potter und der Stein der Weisen« (1997), durch seine Einladung in die Zauberschule Hogwarts, dass er zaubern kann und seine Eltern von dem bösen Lord Voldemort getötet wurden. Der Roman gipfelt in einem Kampf des guten gegen den bösen Zauberer, den Harry selbstverständlich gewinnt. Insgesamt lebt Harry seinen jungen Lesern vor, was diese durch die Lektüre vollziehen: die Flucht aus der Wirklichkeit in eine aufregende imaginäre Welt kraft der Fantasie.
Ist »Die unendliche Geschichte« ein Kultbuch?
Ja, denn mit »Die unendliche Geschichte« (1979) schuf Michael Ende eine Hymne auf das Lesen und die Kraft der Fantasie. Das Werk strotzt von skurrilen Figuren, atemberaubenden Szenarien und höchst originellen Einfällen und wurde so zum Kultbuch einer Generation, die sich dem Eskapismus der Fantasy-Literatur verschrieb. Die Fantasiewelt in »Die unendliche Geschichte« braucht sich hinter der eines J. R. R. Tolkien nicht zu verstecken. Held des Romans ist der Junge Bastian Baltasar Bux, der in einem Buch namens »Die unendliche Geschichte« von dem vom Untergang bedrohten Land »Fantásien« liest. Bastian wird langsam in die Handlung seines Buches hineingezogen und rettet schließlich das Reich der Fantasie für die Menschen. Michael Ende, der in seinem ersten Kinderbuch »Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer« (1960) bereits eine Abenteuerhandlung mit fantastischen Elementen verknüpfte, verfasste übrigens 1973 mit »Momo« einen auch von Erwachsenen mit Begeisterung aufgenommenen Roman.
Was kann man von Pippi Langstrumpf lernen?
»Pippi Langstrumpf« (1945), Astrid Lindgrens erster großer Erfolg, ist als ein warmherziges Plädoyer für den Respekt vor kindlichen Bedürfnissen und Fantasien zu lesen. Das anarchische Märchen handelt von einem Mädchen, das alleine mit einem Pferd und einem Affen in einem Haus, der »Villa Kunterbunt«, lebt und sich erfolgreich den Versuchen der Erwachsenenwelt widersetzt, sie zum Schulbesuch zu zwingen, dem Sozialamt zu übergeben oder sonstwie zu »zivilisieren«. Die traumhafte, irreale Figur Pippi wird in die durchaus reale Lebenswirklichkeit gesetzt, eine Gegenüberstellung, aus der sich immer wieder absurd-komische Effekte ergeben. Astrid Lindgrens von Humor und Wärme geprägte Serien über Pippi Langstrumpf, Kalle Blomquist, die Kinder aus Bullerbü, Karlsson vom Dach und Michel aus Lönneberga erreichten wie die Einzelromane »Mio mein Mio«, »Die Brüder Löwenherz« und »Ronja Räubertochter« weltweit ein Millionenpublikum.
Literatur um 2000: Quantität statt Qualität
Wie lässt sich die aktuelle Literatur charakterisieren?
Sie ist vor allem durch ein Merkmal gekennzeichnet: äußerste Disparität. Es gibt kaum erkennbare literarische »Strömungen« mehr, die »Demokratisierung« der Literatur scheint auf die Spitze getrieben.
Welche neuen Publikationsformen gibt es?
Die Disparität der aktuellen Literatur zeigt sich nicht nur in inhaltlicher Hinsicht, sondern auch in einer neuen Vielfalt von Publikationsformen. Neben der klassischen Veröffentlichung haben Digitalisierung und Internet ganz neue Wege geschaffen, auf denen ein Autor sein Publikum erreichen kann. So gibt es Book on Demand, bei dem ein Werk in digitaler Form vorliegt und nur auf Bestellung gedruckt wird. Autoren können aber auch ins Internet gehen und dort ihre Werke weltweit verfügbar machen. Die technischen Möglichkeiten haben schließlich mit der Netzliteratur auch eine neue Art der Literatur hervorgebracht, die sich durch eine ganz neue formale wie inhaltliche Gestaltung auszeichnet.
Ist die Literatur schlechter geworden?
Nein, es wird nur mehr schlechte oder überflüssige Literatur gedruckt. Gute Literatur gibt es ohne Frage immer noch, es ist nur schwieriger geworden, sie aus dem Gesamtangebot herauszufischen.
Gibt es überhaupt noch prägende Trends?
Literarische Trends ausmachen zu wollen, scheint angesichts des gigantischen Ausstoßes ein hoffnungsloses Unterfangen. Außerdem hat die Postmodernismus-Debatte seit den 1980er Jahren gelehrt, dass wirklich originär Neues ohnehin nicht mehr zu schaffen ist. Die postmoderne Literatur von Schriftstellern wie Umberto Eco, Italo Calvino, Thomas Pynchon oder Paul Auster setzt so auf eine Collagierung unterschiedlichster textueller Versatzstücke. Diese Literatur will auf hohem Niveau unterhaltsam sein und dabei aufzeigen, dass die Realität nur ein Konstrukt ist, das jeder Einzelne für sich selbst aus seinen Erfahrungen heraus erschaffen hat.
Womit beschäftigt sich die Popliteratur?
Auch die so genannte Popliteratur will unterhalten. Junge Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre (»Soloalbum«, »Livealbum«), Alexa Hennig von Lange (»Relax«), Selim Özdogan, Christian Kracht und Eckhard Nickel versuchen, mit ihren Büchern aber auch dem Zeitgefühl ihrer Generation nachzugehen. Thematisch geht es um die moderne Konsumkultur und die mit ihr verbundene Krise der Identitätsfindung.
Was bedeutet die Entwicklung des Internets für die Literatur?
Zunächst mal neue Vertriebswege. Mit der Etablierung des World Wide Web (WWW) hat sich eine Internet-Literatur in verschiedenen Ausprägungen entwickelt. So nutzen Verfasser »herkömmlicher« Literatur das Medium als zusätzliches Veröffentlichungsmittel: Für unbekannte Autoren ist die Internet-Präsentation eine gute Möglichkeit, an die Öffentlichkeit zu treten; für etablierte Autoren bietet eine Online-Publikation die Chance, mit Lesern in direkten Kontakt zu treten und neue literarische Formen auszuprobieren (wegweisend sind die Homepages von Douglas Coupland und das von Februar 1998 bis Januar 1999 täglich aktualisierte Online-Tagebuch »Abfall für alle« von Rainald Goetz).
Was unterscheidet die Literatur im Internet von der herkömmlichen?
Die neuen technischen Möglichkeiten. So ist mit der Internet-Literatur eine ganz neue literarische Gattung entstanden, die für das Internet erstellt wurde und ohne es nicht gelesen werden kann. Merkmal der »Hyperfiction« ist der Einsatz der technischen Möglichkeiten für kreative Zwecke. Die neuen literarischen Erscheinungsformen reichen von Textapparaten, durch die man sich in beliebiger Richtung bewegt, bis zu Werken, die durch multimediale Elemente ergänzt sind; von »Abenteuer-Literatur«, in der sich der Leser wie in einem Adventure-Game interaktiv bewegt, bis zu kollaborativen, also von mehreren Autoren verfassten Schreibprojekten, in die oft die Leser eingreifen dürfen. Damit wird auch die Rolle des Autors neu definiert.
Was wollen die Verlage?
Die Überproduktion der Verlage, eines der größten Strukturprobleme der Buchbranche in den 1980er und 1990er Jahren, ist noch nicht vom Tisch. Der Markt wird nach wie vor mit Büchern überschwemmt, die in mittelgroßer Auflage hergestellt, mit der Hoffnung auf einen Überraschungserfolg halbherzig beworben werden und dann – nachdem dieser (soll man sagen natürlich?) ausgeblieben ist – bald in den Wühltischen, im Modernen Antiquariat oder gleich auf der Müllhalde landen. Denn auch das ist eine bittere Wahrheit: Wegen hoher Lagerkosten ist es unter dem Strich billiger, Bücher gleich wegzuwerfen, als sie zum halben Preis zu verkaufen.
Wussten Sie, dass …
Paul Auster auch als Drehbuchautor – u. a. für die beiden Filme »Smoke« und »Blue in the Face« – erfolgreich ist?
Rainald Goetz vor allem durch seinen spektakulären Auftritt beim Literaturwettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis 1983 in Klagenfurt berühmt wurde, bei dem er sich während der Lesung mit einer Rasierklinge die Stirn aufritzte?
Alexa Hennig von Lange ihre Karriere beim Fernsehen begann und für die Serie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« schreibt?
Heilsbringer oder Teufelszeug?
Die einen halten das Pflanzenschutzmittel Glyphosat für unabdingbar, die anderen verfluchen es. Was in Studien dazu steht. von PETER LAUFMANN Das schmerzt selbst einen Riesen wie den Bayer-Konzern: Ein Gericht in Philadelphia verurteilte das Unternehmen im Januar 2024 zu 2,25 Milliarden US-Dollar Schadensersatz. Die Geschworenen...
Flug in die Zukunft
Der Luftverkehr gilt als sehr schädlich für das Klima. Doch es gibt vielversprechende Konzepte, um das zu ändern. von HARTMUT NETZ In Norwegen beginnt bald eine neue Ära das Fliegens – wenn auch zunächst nur in einem recht bescheidenen Maßstab. In vier Jahren soll in dem skandinavischen Land das erste vollelektrische...