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Industrielle Chemie im 21. Jahrhundert: Stoffe für alles

Ist Chemie nur etwas für Chemiker?

Streng genommen, nein. Nur 8 % der Beschäftigten in der Chemieindustrie sind studierte Chemiker, mehr als zwei Drittel dagegen Facharbeiter, Meister und Laboranten. Insgesamt arbeiten in Deutschland knapp 450 000 Menschen in einem chemischen Betrieb, über 25 000 davon sind Auszubildende. Die Gehälter liegen um etwa 20 % über dem Durchschnitt des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland. Allerdings gibt es auch einen Faktor, der das Berufsfeld weniger erstrebenswert macht: Die Lebenserwartung von Chemikern ist einige Jahre niedriger als die von Menschen in anderen Berufen.

Welches sind heute die wichtigsten Produkte der Chemieindustrie?

An der Spitze liegen drei Produktgruppen fast gleichauf: die Arzneimittel, die Kunststoffe und die sog. organischen Grundstoffe, also organische Materialien, die von der chemischen Industrie oder anderen Wirtschaftszweigen als Ausgangsstoffe für weitere Produkte benötigt werden. Eine vierte Gruppe, die Fein- und Spezialchemikalien, hat ebenfalls einen recht großen Anteil an der Jahresproduktion, hierunter fallen u. a. Farben und Lacke.

Insgesamt ist nur knapp ein Drittel aller chemischen Erzeugnisse für den Endkunden bestimmt, kann also direkt im Laden erworben werden. Der Rest wird weiterverarbeitet; dies zeigt die große Bedeutung, welche die Chemieindustrie heute für die gesamte Wirtschaft besitzt.

Welche ist die größte Chemiefabrik der Welt?

Das Gelände der BASF in Ludwigshafen am Rhein. Es nimmt fast ein Drittel des Ludwigshafener Stadtgebiets ein, immerhin eine Großstadt mit über 160 000 Einwohnern. Die Größe des Geländes spiegelt die lange Jahre gültige Firmenphilosophie wider, die Betriebsanlagen an einem Ort zu konzentrieren und nicht auf viele Standorte zu verteilen, wie es bei anderen Firmen üblich ist.

Das Schicksal Ludwigshafens ist untrennbar mit seinem größten Arbeitgeber und Gewerbesteuerzahler verknüpft. Gegründet wurde die Stadt erst im Zeitalter der Industrialisierung, seit 1925 ist sie eine Großstadt, die mit dem mittlerweile weltgrößten Chemiekonzern wuchs und prosperierte, aber auch hart von rückgängigen Steuerzahlungen getroffen wurde. Übrigens wurde die BASF nicht in Ludwigshafen, sondern im badischen Mannheim gegründet, zog jedoch kurze Zeit später auf die damals bayerische linke Rheinseite um.

Welche Rolle spielt die Forschung in der chemischen Industrie?

Eine große, die Aufwendungen der deutschen Chemieindustrie für Forschung und Entwicklung liegen bei 8 Mrd. Euro jährlich und werden im Land nur von denen der Automobil- und der Elektroindustrie übertroffen. Dabei ist das Themenspektrum sehr vielfältig: Sowohl in etablierten Gebieten wie der Pharmazeutik oder der Herstellung von Gebrauchsmaterialien als auch in neuen Fachrichtungen wie Biotechnologie oder Nanotechnik werden laufend neue Produkte oder sogar die Grundlagen für ganz neue Produktbereiche entwickelt. Und nicht nur marktfähige Erzeugnisse stehen im Fokus; auch die Verbesserung der Herstellungsverfahren oder die Etablierung gänzlich neuer Produktionswege stehen auf der Tagesordnung. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf Wirtschaftlichkeit, Sicherheit, Energieverbrauch und Umweltverträglichkeit der Verfahren. Innovationen in diesem Bereich können entscheidend für die Entwicklung der Chemiekonzerne sein und sind oft auch für die Bevölkerung, die in der Umgebung chemischer Fabriken wohnt, bedeutsam.

Warum ist Kunststoffrecycling schwierig?

Weil es so viele verschiedene Kunststoffe gibt, auch wenn für den Laien alles »wie Plastik« aussieht. Schon die sechs wirtschaftlich bedeutendsten Polymere sind aus jeweils verschiedenen Grundbausteinen aufgebaut, die chemisch nicht immer gut miteinander verträglich sind. Darum ist für eine effektive und ökonomische Wiederverwertung eine sortenreine Sammlung fast immer zwingend notwendig. Ein weiteres Problem ist, dass man viele Kunststoffe nicht einfach einschmelzen und neu gießen kann, wie dies mit Altglas seit langem praktiziert wird. Manche werden dabei durch chemische Reaktionen unbrauchbar, andere reagieren mit winzigen Restverschmutzungen, die nur schwer zu entfernen sind.

Aus all diesen Gründen hat es in den vergangenen 15 Jahren zwar viele Versuchsprojekte zum Recycling von Kunststoffen gegeben, aber es wurde noch kein marktgängiges Verfahren für große Stoffumsätze etabliert. Dies könnte sich allerdings ändern, wenn die Erdölpreise weiter so rasant ansteigen: Je teurer die natürlichen Ausgangsmaterialien werden, desto eher lohnt sich der Aufwand, Altplastik wieder zu verwerten.

Was ist das Besondere an Nylon?

Nylon war die erste vollsynthetische Kunstfaser. Im Jahr 1938 ließ sich die US-amerikanische Firma DuPont eine Kunstseide aus Polyamid patentieren, die vollständig synthetisch produziert werden konnte. Fast zeitgleich stellte der deutsche Großkonzern I. G. Farben unter dem Namen »Perlon« eine sehr ähnliche Polyamidfaser vor. 1940 wurden die ersten Damenstrümpfe aus Nylon sofort ein Renner – innerhalb weniger Stunden sollen allein in New York vier Millionen Paar verkauft worden sein.

Erst Ende der 1940er Jahre etablierten sich »Nylons« auch in Deutschland: als Ersatzwährung auf dem Schwarzmarkt. In den 1950er und 1960er Jahren erlebte die Nylon- und Perlonproduktion einen rasanten Aufschwung: Modische Kleidung aus den preiswerten und pflegeleichten Synthesefasern, etwa Strümpfe, Miederwaren, Damenoberbekleidung und Hemden, prägte das Lebensgefühl einer Epoche.

In der DDR wurde Perlon unter dem Namen »Dederon« produziert. In den 1970er Jahren ging die Nylonherstellung v. a. im Westen zurück. In neuerer Zeit sind Synthetikstoffe jedoch als »Funktionskleidung«, etwa für Jogger und Nordic Walker, wieder gefragt.

Was sind Mikrofasern?

Als Mikrofasern werden im Allgemeinen solche Fasern bezeichnet, die noch feiner als Seide sind. Im Vergleich zu Baumwolle sind sie dreimal, zu Wolle sechsmal und zu einem menschlichen Haar 60-mal feiner. Mikrofasern gewinnt man unter anderem aus Polyamid (Meryl, Silky Touch, Amaretta), Polyester (Trevira), Viscose (Danufil Mikro) oder Teflon (Polytetrafluorethylen bzw. PTFE, Gore-Tex®). Stoffe aus Mikrofasern tragen sich angenehm und haben einen weichen Griff. Mikrofasergewebe aus Polyester und Polyamid werden von Wasser schlecht benetzt, sind also auch ohne Beschichtung wasserdicht. Wasserdampf hingegen lassen sie passieren, sie sind also »atmungsaktiv«. Damit sind sie besonders geeignet für Sport- oder Wanderbekleidung. Problematisch ist, dass Mikrofaserstoffe praktisch nicht verrotten. Es gibt allerdings erste Versuche, durch Mikrofaser-Recycling den Mikrofaseranteil im Hausmüll zu reduzieren.

Verdanken wir die Teflonpfanne der Raumfahrtforschung?

Dieser viel zitierte Mythos ist falsch, in Wirklichkeit wurde Teflon 1938 von Roy Plunkett (1910–1994), einem Mitarbeiter des Chemiekonzerns DuPont, entdeckt. 1954 wurde erstmals eine Pfanne mit dem Material beschichtet – in die Raumfahrt gelangte es noch später als Isoliermaterial für Kabel, etwa in den Apollo-Mondlandekapseln.

Dass die Entdeckung dieses Polymers der Raumfahrtforschung zugeschrieben wurde, liegt wohl an dem allgemeinen großen Aufsehen, das 1969 die erste Mondlandung und alles, was damit zu tun hatte, erregte. Im selben Jahr entwickelte der US-amerikanische Chemiker und Industrielle Bob Gore durch Erhitzen und Strecken aus Teflon ein heute fast noch bekannteres Material: das Kunstgewebe Gore-Tex®, eine wasserfeste Membran, die jedoch für Wasserdampf durchlässig ist. Sie wird u. a. für wetterfeste Bekleidung oder künstliche Arterien eingesetzt. Einige Jahre nach seiner Erfindung wurde Gore-Tex® auch für die Herstellung von Raumanzügen verwendet. Heute kommt das fluorhaltige Teflon zu neuen Ehren: Als Beschichtung von Glasplatten senkt es deutlich die Anlagerung von Fetten und Stäuben aus der Umwelt.

Übrigens: Plunketts Entdeckung war eher ein Zufallsprodukt. Er hatte eine Flasche mit Fluor enthaltenden Gasen einige Tage auf seinem Schreibtisch stehen lassen. Als er sie wieder inspizierte, hatte sich ein weißes Pulver gebildet: Polytetrafluorethylen.

Wussten Sie, dass …

die Mineralölindustrie der wichtigste Lieferant der chemischen Industrie ist? Über 30 000 unterschiedliche Waren und Stoffe entstehen aus Erdöl und dessen Folgeprodukten.

10 km Mikrofaserfaden nur ein Gewicht von 0,1 bis 1 g aufweisen?

zwei der vier größten Chemiekonzerne der Welt ihren Sitz in Deutschland haben?

in der chemischen Industrie die Einhaltung von Sicherheitsstandards sehr wichtig ist? Trotzdem kommt es immer wieder zu Unfällen, zu den verheerendsten zählen die Katastrophe von Seveso (Italien 1976) und vor allem das Unglück von 1984 im indischen Bhopal, an dessen Folgen mehrere Tausend Menschen starben.

die Firmen Agfa, BASF, Bayer, Hoechst (später Aventis), Wacker-Chemie und andere alle Nachfolgeunternehmen der I. G. Farben sind bzw. waren, des größten Chemiekonzerns der deutschen Geschichte? Die I. G. Farben wurde 1946 von den Alliierten wegen ihrer Verstrickung in die Kriegswirtschaft der Nationalsozialisten zwangsweise aufgelöst.

Arbeiten Industriechemiker immer in der Chemieindustrie?

Nein, auch wenn es etwas paradox klingen mag: Sowohl die Herstellung von Arzneimitteln als auch die Verarbeitung von Rohöl wird offiziell nicht zum Wirtschaftszweig der chemischen Industrie gezählt. Erstere gehört zur pharmazeutischen Industrie, Letztere zur Petrochemie. Natürlich sind aber die Übergänge fließend, in beiden Branchen sind auch viele Chemiker beschäftigt.

Wussten Sie, dass …

Teflon selbst von sog. Königswasser, einer der aggressivsten Säuren, nicht angegriffen wird?

bei der Herstellung der ersten Atombombe das gefährliche Uranhexafluorid in teflonbeschichteten Behältern aufbewahrt wurde?

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