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Warum wir uns oft selbst überschätzen

„Wow, schau dir diese Kurven an, ich sollte Model werden!“ Jeder hat in seinem Umfeld wahrscheinlich diese eine Person, die sich für deutlich hübscher, intelligenter oder witziger hält, als sie es tatsächlich ist. Wer weiß: Vielleicht sind wir ja selbst diese Person, ohne es zu merken. Denn als Menschen neigen wir statistisch gesehen dazu, uns selbst und unser Können deutlich zu überschätzen. Aber warum ist das so? Ist das schlimm? Und was lässt sich dagegen tun?
AMA, 14.02.2024
Symbolbild Selbstüberschätzung

© delihayat, iStock.com

Wir alle haben ein bestimmtes Bild von uns selbst: Wie wir aussehen, welche Charaktereigenschaften uns auszeichnen, was wir besonders gut können. Dieses sogenannte Selbstbild entsteht unter anderem durch den Vergleich mit anderen – zum Beispiel in Form von Notenspiegeln an der Tafel oder Rückmeldungen zu unserem Wesen á la „Mensch, du erzählst echt die besten Witze“. Man könnte meinen, dass dieses soziale Feedback uns ein realistisches Bild unserer Selbst vermittelt, doch tatsächlich ist die Selbstwahrnehmung vieler Menschen trotzdem verzerrt. Sie über- oder unterschätzen sich.

Besser als mein Durchschnitt

Gerade Selbstüberschätzung ist in unserer Gesellschaft relativ weit verbreitet, wie Studien und Experimente zeigen. Das hängt unter anderem damit zusammen, wie unser Gehirn und unsere Wahrnehmung ticken. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte „better-than-my-average effect“,  zu Deutsch in etwa „Besser-als-mein-Durchschnitt-Effekt“. Dieser sorgt dafür, dass wir uns selbst nicht anhand unserer durchschnittlichen Leistungen bewerten, sondern anhand unserer Top-Leistungen.

Schreibe ich zum Beispiel in der Schule die meiste Zeit nur Dreien und ganz vereinzelt mal eine Eins, dann sorgt der Better-than-my-average effect dafür, dass ich mich selbst eher als potenziellen Einserschüler betrachte. Schließlich habe ich dem Lehrer und mir ja schon bewiesen, dass ich den Unterrichtsstoff theoretisch beherrsche. Die vielen Dreien sind lediglich Ausrutscher, bei denen ich mich einfach nicht gut genug konzentriert habe. Ähnlich verhält es sich, wenn wir Fotos von uns selbst betrachten. In Studien gehen Probanden häufig davon aus, dass nur die allerschönsten Aufnahmen ihr Aussehen wiederspiegeln und der Rest ihre wahre Schönheit einfach nur nicht richtig einfängt.

Mit zweierlei Maß

Noch selbstverliebter ist unsere subjektive Wahrnehmung, wenn es darum geht, die Leistung anderer zu bewerten. Dort ziehen wir nämlich in der Regel nur die durchschnittlichen Leistungen heran und blenden die Top-Leistungen einfach aus. Dadurch kann es vorkommen, dass wir andere als schlechter wahrnehmen, obwohl ihre Leistungen eigentlich unseren eigenen ähneln oder sie sogar übertreffen.

Der Better-than-my-average effect geht wahrscheinlich darauf zurück, dass wir uns selbst und andere gezwungenermaßen unterschiedlich wahrnehmen, wie Emily Pronin von der Princeton University erklärt: „Wir neigen dazu, uns selbst durch ‚Introspektion‘ (den Blick nach innen auf Gedanken, Gefühle und Absichten) und andere durch ‚Extrospektion‘ (den Blick nach außen auf beobachtbares Verhalten) wahrzunehmen. Kurz gesagt, wir beurteilen andere auf der Grundlage dessen, was wir sehen, und uns selbst auf der Grundlage dessen, was wir denken und fühlen.“

Wenn wir zum Beispiel zu spät zu einem Vorstellungsgespräch kommen, kann der Personaler das Verhalten lediglich von außen bewerten: Er hält uns für unpünktlich und verantwortungslos. Wir selbst wissen hingegen, dass wir nur wegen eines Staus zu spät gekommen sind und den Job unbedingt haben wollen, doch das ändert nichts daran, dass der gute erste Eindruck bereits verspielt ist.

Inkompetent, aber selbstbewusst

Ein weiteres Phänomen, das unsere Selbstwahrnehmung positiv verzerrt, ist der sogenannte Dunning-Kruger-Effekt. Er besagt, dass inkompetente Menschen sich und ihre Fähigkeiten häufig stark überschätzen und dabei kompetentere Menschen unterschätzen: von dem unsportlichen Onkel, der beim Fußball über die Entscheidungen des Trainers wettert, bis zum selbsternannten Impfexperten auf Social Media, der die Arbeit echter Wissenschaftler infrage stellt.

Studien zufolge sind Männer und Extrovertierte für diese Form der Selbstüberschätzung anfälliger als Frauen und Introvertierte. Doch auch die Nationalität spielt eine Rolle: Menschen aus individualistisch geprägten Ländern wie den USA schätzen ihre Intelligenz im Schnitt deutlich höher ein als Menschen aus kollektivistischen Kulturen wie Japan und China.

Fluch und Segen

Wenn wir uns selbst stets für den Allergrößten halten, obwohl wir es nicht sind, kann das zwar zu Augenrollen in unserem Umfeld führen, aber wirklich schlecht ist diese Eigenschaft nicht für den Verlauf unseres Lebens. Schließlich hilft die Selbstüberschätzung uns dabei, selbstbewusst aufzutreten und damit sowohl bei Vorstellungsgesprächen als auch bei Dates zu punkten. Menschen, die sich selbst überschätzen, neigen außerdem eher dazu, sich selbst mehr zuzutrauen, was sie im Laufe der Zeit tatsächlich an Kompetenz gewinnen lassen kann.

Doch ufert die verzerrte Selbstwahrnehmung zu sehr aus, kann sie auch Nachteile bringen. Zum Beispiel weil wir uns einmal zu oft mit dem Chef angelegt haben und deshalb gefeuert wurden oder weil wir unseren Partnern zu wenig Respekt geschenkt haben und deshalb nun von ihr oder ihm verlassen werden.

Deshalb hat sich in der Forschung auch gezeigt, dass es vor allem Menschen mit realistischem Selbstbild sind, die beruflichen Erfolg haben, gut verdienen und gesund leben. Wer vor diesem Hintergrund seine eigene Selbstüberschätzung ein wenig eindämmen möchte, der sollte sich zunächst der oben genannten Effekte bewusst werden. Erst dann kann er daran arbeiten, sich selbst möglichst objektiv zu reflektieren und eigene Schwächen anzuerkennen. Auch kann es helfen, sich ehrliches Feedback von nahestehenden Personen einzuholen, um mehr über das wahre Ich herauszufinden.

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