Lexikon

Liberalsmus

im weiteren Sinn die Autonomie des Individuums in den Mittelpunkt stellende Welt-, Staats- und Wirtschaftsanschauung.
Der politisch-soziale Grundbegriff Liberalismus entstand aus dem Spannungsfeld zwischen der altständischen Gesellschaft (Absolutismus) und den seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (Aufklärung) einsetzenden politisch-konstitutionellen und sozial-ökonomischen Umwälzungen. Dabei steht Liberalismus zunächst für einen elementaren Traditionszusammenhang, ohne den die Entwicklung der modernen Demokratien in Westeuropa und Nordamerika nicht vorstellbar ist. Hier bezeichnet Liberalismus in ideengeschichtlicher Perspektive einen Katalog politisch-konstitutioneller Errungenschaften. Dazu zählen sowohl die parlamentarische Demokratie als auch der moderne gewaltenteilige Verfassungs- und Rechtsstaat westlichen Typs. Im Zentrum dieser ideengeschichtlichen Begriffsbestimmung stehen langfristige Konzepte politischer Theoretiker wie C. de Montesquieu, J. Locke und J.-J. Rousseau sowie die mit der Unabhängigkeit der USA 1776 und der Französischen Revolution 1789 verbundene Umsetzung vor allem naturrechtlich begründeter Freiheitskonzepte. Vor dem Hintergrund einer solchen ideengeschichtlichen Kanonisierung werden dem Liberalismus grundlegende konstitutionelle und ökonomische Elemente der Modernisierung wie Parlament, Verfassung, Gewaltenteilung, Menschen- und Bürgerrechte, Gewerbefreiheit und Freihandel zugeordnet.
Angesichts der prägenden Erfahrungen totalitärer Diktaturen und des Ost-West-Konflikts im 20. Jahrhundert ließen sich solche Wertvorstellungen aus US-amerikanischer Sicht zur Gegenkultur einer Liberal Tradition der USA oder aus europäischer Perspektive zu einem modellhaften liberalen System verdichten, das in Abgrenzung zu Bolschewismus und Faschismus bestimmt werden konnte. Nach einer solchen Bestimmung hat das liberale System nicht nur wesentlich zum Selbstverständnis der modernen westlichen Demokratien beigetragen. Von diesem System erwartete man nach den epochalen Umwälzungen von 1989/90 auch eine Anziehungskraft als universell übertragbares Modell, da die politisch-konstitutionelle Erfolgsgeschichte des westlichen Liberalismus mit dem Zusammenbruch der Staaten des realexistierenden Sozialismus die Richtigkeit seiner Prämissen erwiesen zu haben schien.
Neben diese klassisch ideengeschichtliche Sichtweise, die nicht von ihrer systemlegitimierenden Funktion zu trennen ist, tritt das ideologiekritische Verständnis von Liberalismus im Spannungsfeld von Programm und sozialer Praxis des europäischen Bürgertums. Dies lehnt sich an ideengeschichtliche Fragen an, geht aber über sie hinaus, indem einer nicht hinterfragten Erfolgsgeschichte von Aufklärung und Modernisierung der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aufbrechende gesellschaftliche Interessenpluralismus mit seinen Konfliktpotenzialen entgegengesetzt wird. Diese Sichtweise fragt nach den Wirkungsrichtungen von Ideen und Programmen und konkreten politisch-sozialen Interessenlagen und konfrontiert den Ideenbegriff Liberalismus mit seiner realhistorischen Gestalt. In enger Anlehnung an diese Sichtweise läßt sich Liberalismus als postrevolutionäre politisch-soziale Bewegung auffassen, als Verfassungs-, soziale Protest- oder allgemeine Oppositionsbewegung, wie sie sich vor allem zwischen 1789 und den europäischen Revolutionen von 1830 und 1848/49 entfaltete. Gemeinsam ist diesen Sichtweisen die retrospektive Verwendung des Liberalismusbegriffes und die damit einhergehende Vernachlässigung seines historischen Bedeutungswandels.
Die erstmals während des Staatsstreichs Napoleon Bonapartes 1799 in Paris an prominenter Stelle verkündeten idées libérales wurden zu einem Ausdruck des revolutionären Erbes von 1789, indem sie für den Schutz von bürgerlicher Freiheit und privatem Eigentum gegen die radikalen Revolutionsanhänger standen. Das machte den Begriff für die bürgerlichen Gewinner der Revolution in Frankreich attraktiv, und zwar über den Untergang Napoleons hinaus. Anders in Spanien: Als die in Cádiz zusammengetretenen Stände, die Cortes, eine nationale Verfassung verabschiedeten, die eine konstitutionelle Monarchie ohne Inquisition und Kirchenbesitz vorsah, bezeichneten sich die Anhänger 1812 als liberales. In Deutschland schrieb man um 1815 von den liberalen Grundsätzen und blickte auf Frankreich, von dessen fortschrittlichen Institutionen, dem napoleonischen Code Civil oder den Geschworenengerichten, man fasziniert, von dessen radikaler Revolution man aber abgestoßen war.
Wer das 19. Jahrhundert als das Zeitalter des Liberalismus ansieht, kann nicht übersehen, dass die Präsenz des Liberalismus in Politik, Wirtschaft und Kultur als Zeiterscheinung keinesfalls bedeutete, dass Liberale auch politisch die Machtzentren dominiert hätten. Während die Epoche der Revolutionen zwischen 1789 und 1848/49 die Unterschiede liberaler Erfahrungen und Erwartungen in Europa dokumentierte, näherten sich in der Phase der 1860er und 1870er Jahre, nach dem Abschluss der Nationalstaatsbildung in Italien und Deutschland, die Bedingungen der europäischen Gesellschaften tendenziell an. Wo Liberale in Paris 1848 wie selbstverständlich die konstitutionelle Monarchie gegen die Republik eintauschten, blieb für deutsche Liberale die Republik das Synonym für soziale Anarchie und die Revolution der Straße. Ihnen ging es um Verfassung und Nationsbildung in Kooperation mit reformbereiten Regierungen. Aber seit den 1860er Jahren traten nun überall Parlamente, Wahlen und parteipolitisch organisierte Interessen in den Vordergrund. Mit der Entwicklung eines politischen Massenmarktes ging die energische Organisation politischer, sozialer und ökonomischer Interessen einher. Auch die neuen Herausforderungen der Politik in Europa wurden tendenziell ähnlicher: Nach den Konflikten um politische Partizipation und Repräsentation, Verfassungsgebung und Nationalstaat traten nun neue Phänomene wie die soziale Frage der Industriearbeiter und die Folgen der Urbanisierung in den Vordergrund.
Liberale in Deutschland taten sich mit allen diesen Veränderungen schwerer als Liberale in anderen europäischen Gesellschaften. Dazu trug das gleichzeitige Nebeneinander von allgemeinem Wahlrecht auf Reichsebene nach 1871 bei ausbleibender Parlamentarisierung des neuen Nationalstaates bei. Das aus dem frühen 19. Jahrhundert stammende liberale Leitbild des Staatsbürgers, das auf aufgeklärter Gesinnung, Bildung und wirtschaftlicher Unabhängigkeit beruhte, blieb dabei sozial exklusiv. Nur auf kommunaler Ebene, wo das Wahlrecht eingeschränkt blieb, vermochten sich die Liberalen als politische Kraft so erfolgreich zu halten, dass sie politikgestaltend wirken konnten. Die Monopolstellung, die den deutschen Liberalismus in seiner Funktion als Kern der Nationalbewegung ausgezeichnet hatte und ihm die über den Parteien stehende Rolle einer politischen Garantiemacht der Nationalstaatsgründung eingebracht hatte, konnten Liberale in Deutschland spätestens nach 1880 immer weniger bewahren. Denn im Gegensatz zu Italien, wo der politische Katholizismus in Opposition zum Nationalstaat verharrte, erkannten die von Bismarck zunächst so verfemten „Reichsfeinde“ der Katholiken und Sozialisten das Reich als Handlungsrahmen an. Sie etablierten sich als politische Parteien weit erfolgreicher als die Liberalen, die über kein stabiles soziokulturelles Milieu verfügten und unter der Tendenz zur organisatorischen Spaltung litten.
Gerade die konfessionelle Trennlinie bestimmte die Wirkungsmöglichkeiten und Mobilisierungspotenziale von Liberalen in Europa: Während in Deutschland Konservative und Liberale um die Stimmen der protestantischen Bevölkerungsteile konkurrierten, blieben die Nonconformists außerhalb der Anglikanischen Kirche eine der stabilsten Wählerreservoire der Liberalen in Großbritannien. Während in Frankreich bereits die Verfassung von 1814 die konstitutionelle Monarchie eingeführt hatte, markierte die Verfassungsgebung für viele Liberale in Deutschland, zumal in Preußen, bis 1848/49 einen Erwartungshorizont. Dennoch stellte sich der Liberalismus in Deutschland nicht allein als Verfassungsbewegung dar. Es gab auch ein klar artikuliertes Gesellschaftsideal, das von der Idee einer klassenlosen Bürgergesellschaft bestimmt wurde (Sozialliberalismus).
Das Gesellschaftsideal des Liberalismus war nicht der bourgeois im marxistischen Klassensinne, sondern der citoyen, citizen und Staatsbürger. Unter besonderen Bedingungen und bei vorhandener Reformbereitschaft stand der Liberalismus auch dem Adel offen. In Großbritannien erwuchs in den 1850er und 1860er Jahren aus einem dezidiert aristokratischen Politikverständnis, dem Ideal der Treuhänderschaft der Whigs für die Freiheitsrechte des englischen Volkes, eine moderne Parteiorganisation und eine Personalisierung der Politik. Charismatische Führung wie unter Premierminister W. E. Gladstone, die Integrationskraft eines historisch begründeten Zweiparteiensystems und die programmatische Öffnung gegenüber der sozialen Frage der Industriearbeiter sicherten die Präsenz des parteipolitischen Liberalismus in Großbritannien zumindest bis 1914.
Die historischen Forderungen der Liberalen des 19. Jahrhunderts sind im modernen parlamentarischen Verfassungs- und Rechtsstaat des 20. und 21. Jahrhunderts weitgehend erfüllt worden. Diesem Triumph liberaler Prinzipien steht ein Bedeutungsverlust liberaler Parteien gegenüber. In vielen demokratischen Staaten spielen sie nur noch eine nebengeordnete Rolle. Im Europäischen Parlament haben sich die liberalen Parteien in der Allianz der Liberalen und Demokraten Europas (ALDE) organisiert. Im Zuge sich verändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen (Erosion der sozialen Sicherungssysteme durch Globalisierung und demographische Entwicklungen) gerieten in jüngster Zeit ökonomisch-liberale Vorstellungen vermehrt in die öffentliche Diskussion (Neoliberalismus).
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