Lexikon
Bürgertum
der ehemalige 3. Stand, im Unterschied einerseits zu Adel und Geistlichkeit, andererseits zur unfreien Landbevölkerung und zum lohnabhängigen städtischen Proletariat (4. Stand). Bürger hießen ursprünglich die Bewohner einer vor den Mauern gelegenen Kaufmannssiedlung [mittellateinisch burgus, burgum, „Vorburg“; Weiterbildung aus deutsch Burg]; sie standen außerhalb des Lehnssystems und waren oft sogar mit königlichen Sonderrechten gegenüber den Stadtherren ausgestattet. Seit dem 12. Jahrhundert zählte zum Bürgertum in diesem Sinn allgemein die Schicht der freien Gewerbetreibenden in der Stadtgemeinde (Stadtbürger). Sie waren genossenschaftlich in Gilden und Zünften organisiert; ihre Merkmale waren: persönliche Freiheit (keine Hörigkeit oder Erbuntertänigkeit), wirtschaftliche Initiative (die bürgerliche „Tüchtigkeit“) und kommunale Selbstverwaltung.
Innerhalb der mittelalterlichen Ständegesellschaft konzentrierte sich die Zielsetzung des Bürgertums auf die Schaffung eines möglichst gesicherten, möglichst großen, vererbbaren Privateigentums (als Grundlage für die freie Entfaltung einer Privatsphäre) – zu verstehen als Selbstbehauptung und Absicherung gegenüber den privilegierten Ständen. Nach Aufhebung der Zunftschranken (Gewerbeordnung) wurde das Bürgertum so zum Träger des industriellen Fortschritts (Kapitalismus). Dadurch entstand jedoch innerhalb des Bürgertums selbst der Gegensatz zwischen einem erfolgreichen Großbürgertum (Großkaufleute, Bankiers, Fabrikanten; Patrizier, die schließlich wiederum eine fürstenähnliche Stellung innehatten) und einem davon abhängigen Kleinbürgertum.
Mit der Zerschlagung der Ständegesellschaft in den bürgerlichen Revolutionen (seit der Französischen Revolution 1789) hatte das Bürgertum zum ersten Mal die Möglichkeit, seine Ziele („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“) über den kommunalen Bereich hinaus als Staatsform durchzusetzen. Es entstand die bürgerliche Gesellschaft des 18./19. Jahrhunderts, die als Schutzmaßnahme gegen autokratische Willkür eine gesetzliche Begrenzung und ständige verfassungsmäßige Kontrolle der Staatsmacht entwickelte: den parlamentarischen Rechtsstaat. Die Bürgerrechte (d. h. die ehemaligen Standes[vor]rechte des Bürgertums gegenüber den unterprivilegierten Schichten) wurden zum Staatsgesetz; es entstand die Demokratie im Sinne des Liberalismus. Die Unantastbarkeit der Privatsphäre wurde zum Inhalt der Staatsidee. Denn für den Bürger liegt der wahre Entfaltungsraum der Persönlichkeit im privaten Bereich (einschließlich der Privatwirtschaft). Aus dieser Grundeinstellung zum Verhältnis Einzelner/Gesellschaft heraus hat sich einerseits eine unvergleichliche Kultur der Individualität und Subjektivität, der Privatsphäre und des Familienlebens entwickelt (die ihren Höhepunkt in der Romantik und im Biedermeier erreichte); andererseits aber ergab sich daraus ein Desinteresse des Bürgertums am Staat, das zurückführte zum Untertanen (insbesondere seit den Gründerjahren).
Die bürgerliche Gesellschaft stand zunächst unter dem Leitbild des Citoyen, der Staatsträger sein wollte und die erkämpften Bürgerrechte als Aufgabe wahrnehmen und, gemäß der Forderung nach „Brüderlichkeit“, über den Kreis der Besitzenden hinaus ausdehnen wollte (u. a. in Form des Sozialstaats). Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wurde dann jedoch vom Bourgeois bestimmt, der die Freiheit des liberalen Staates in erster Linie zur Vermehrung seines Privatbesitzes benutzte. Nicht zuletzt aus handelspolitischen Gründen entwickelten sich große Nationalstaaten, Kolonialismus und Imperialismus. Aus dem ehemaligen fortschrittlichen Stand des Bürgertums wurde im 19. Jahrhundert eine konservative Klasse: die Bourgeoisie.
Im 20. Jahrhundert hat die wirtschaftliche Entwicklung dazu geführt, dass große Teile des ehemals selbständigen Bürgertums zu Lohn- und Gehaltsempfängern geworden sind; dazu kommt die Veränderung der Vermögensverhältnisse durch Wirtschaftskrisen, Weltkrieg, Inflationen und „Wirtschaftswunder“, ferner die Entwicklung der Familie auf die Kleinfamilie hin, verbunden mit dem Eintritt der bürgerlichen Frau ins Erwerbsleben. Dadurch sind die Grundlagen des Bürgertums verloren gegangen, so dass man von einem in sich geschlossenen Bürgertum heute nicht mehr sprechen kann. Seine soziale Stelle nimmt stattdessen der Mittelstand ein.

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