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Showdown in Chatroom

Günter Grass, letzter Nobelpreisträger des 20. Jahrhunderts, hat wie wohl kaum ein zweiter Autor der deutschen Nachkriegszeit die Schrecken des Dritten Reiches be- und vor allem durchleuchtet. Das Thema ist unerschöpflich, die Vergangenheit hört nie auf: In seiner neuesten Veröffentlichung widmet sich Grass der lang verdrängten Thematik der Ostvertreibung, gespiegelt durch die Brille der jungen Generation@. “Im Krebsgang“ macht deutlich: Die nächste große Auseinandersetzung mit der NS-Problematik findet längst im Internet statt!
Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat die nationalsozialistische Problematik nichts an ihrer Brisanz eingebüßt. Die Schauplätze indes haben sich verändert: Was einst in martialischen Kampfparolen auf offener Strasse ausgetragen wurde, findet heute subtiler im Internet seine Fortsetzung - das zumindest lässt Günter Grass Novelle vermuten.

Nationalsozialismus in der Internet-Ära

Neonazis bei einer Demonstration.

Protagonist der neuesten Veröffentlichung des Nobelpreisträgers ist der 15-jährige Konrad Pokriefke - ein Enkel Tulla Pokriefkes, die treuen Grass-Lesern aus der Danziger Trilogie bekannt sein dürfte. “Er ist ein typischer Einzelgänger, schwer zu sozialisieren“, stellt ihn seine Mutter, Lehrerin Gabi, dem Leser vor: “Einige meiner Lehrerkollegen sagen, Konnys Denken sei ausschließlich vergangenheitsbezogen, so sehr er sich nach außen hin für technische Neuerungen interessiert, für Computer und moderne Kommunikation zum Beispiel...“
Damit wäre bereits der fatale Dualismus erklärt: Auf dem Wege des neuen Mediums Internet taucht Konrad in die mythisch verklärte Vergangenheit der Nazi-Ära ein. Den Mythos dieser Zeit nährt indes seine Oma, Tulla Pokriefke, die wie keine zweite Figur im Krebsgang Gefangene der NS-Geschichte ist.
Schließlich ist es ihre eigene Lebensgeschichte, die sie - zwanghaft - immer wiederholt, die sich ihr immer wieder aufdrängt - ein unverarbeitetes Trauma. Ihr Schicksal erlebte sie am Abend des 30. Januar 1945 als hochschwangerer Flüchtling auf der Wilhelm Gustloff. Gepeinigt von den einsetzenden Wehen kann sich die17-Jährige in ein Boot retten, das in den Davits hing.
Auf offener See, zwischen vielen Tausend Toten und verzweifelt Hilfesuchenden, erfährt sie den Schock ihres Lebens: Sie sieht die vielen Kinderleichen mit hochgestreckten Beinen in der Ostsee treiben - Kinder, die kopfüber ins Eismeer fielen und Opfer der Schwerelosigkeit des Rettungsringes wurden, der sie unter Wasser drückte. Innerhalb einer halben Stunde färbt sich Tullas Haar weiß: “Das is passiert, als ech all die Kinderchens koppunter jesehn hab“, schildert sie immer wieder die albtraumhaften Ereignisse der Januarnacht. Doch wie durch ein Wunder bringt sie wenig später auf dem Begleitschiff “Löwe“ just in dem Augenblick des Untergangs der Wilhelm Gustloff ihren einzigen Sohn Paul zur Welt.
Das ist geradezu Grassscher Symbolismus: Stellvertretend für den entpolitisierten Neubeginn der bundesrepublikanischen Nachkriegsära entwickelt sich der spätere Journalist Paul Pokriefke auffällig uninteressiert am Schicksal seiner Mutter. Zeit seines Lebens drängt sie ihn dazu, den Untergang der Wilhelm Gustloff - ihre Geschichte - aufzuschreiben: “Ech leb nur noch dafier, dass mein Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen.“
Doch der phlegmatische Journalist, der einst bei Springer, dann bei der taz, schließlich bei diversen Agenturen sein Geld verdiente, weigert sich beharrlich, bis er, ziemlich genau 50 Jahre nach dem Untergang des KdF-Schiffes, bei der Recherche im Internet auf eine Website stößt, die ihn in seinen Bann zieht.
Unter www.blutzeuge.de liest der geschiedene Vater, der selbst vaterlos aufwuchs, in familiärem Schreibstil ausführliche, mit nationalsozialistischer Brille verfasste Lobhudeleien auf den “Blutzeugen“ Wilhelm Gustloff, dass er stutzig wird. Es ist die eisige Januarnacht seines Lebens, als er feststellen muss, dass sich hinter der Hass-Seite niemand anderes verbirgt als sein eigener Sohn Konrad, der, inzwischen bei seiner Oma in Schwerin lebend, nun seinerseits Tullas Geschichte über den Untergang der Wilhelm Gustloff erzählt - der Kreis schließt sich.

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