wissen.de Artikel
Ist das Internet für Diktatoren Fluch oder Segen?
Vom Arabischen Frühling über "Fridays for Future" bis hin zu den aktuellen Protesten in Hong Kong: Protestbewegungen der Gegenwart sind nahezu unvorstellbar ohne moderne digitale Technologien. Denn sie organisieren sich selbst auf digitalem Weg, mobilisieren so Unterstützer und verbreiten online ihre Nachrichten. Digitale Hilfsmittel wie sichere Instant Messaging-Apps, Online-Foren und Chatrooms sind ohne Frage ein essentieller Bestandteil des Erfolgs heutiger Protestbewegungen.
Gleichzeitig schränken autokratische Systeme wie China die Nutzung des Internets massiv ein. Vieles weist darauf hin, dass auch diese Strategie erfolgreich ist: Die Unterdrückung und Kontrolle der Informationsverbreitung sowie die Identifizierung von Gruppen möglicherweise "gefährlicher" Personen mithilfe digitaler Technologien liefert spürbar Resultate. Doch welcher Effekt überwiegt? Oder anders gefragt: Ist das Internet für Diktatoren eher nützlich oder schädlich?
Auswirkungen in beide Richtungen
Das komplexe Zusammenspiel zwischen autokratischen Regimen, Oppositionsbewegungen und digitaler Technologie ist bisher nur in Ansätzen untersucht worden. Aus diesem Grund haben sich Nils Weidmann von der Universität Konstanz und Espen Geelmuyden Rød von der Universität Uppsala in Schweden diesem Thema nun näher gewidmet.
"Bis vor wenigen Jahren gab es im Grunde zwei Lager in der Wissenschaft: für die einen war das Internet ein mächtiges Befreiungswerkzeug, andere hielten es dagegen für eine Unterdrückungstechnologie. Über diese zu einfache Unterscheidung wollten wir hinausgehen. Das Internet kann Auswirkungen in beide Richtungen haben: es kann autokratische Regime unterstützen, aber auch Protestbewegungen katalysieren", erklärt Weidmann.
Die Rolle der Internetanbindung
Um mehr über die Auswirkungen der Informationstechnologie in diesem Zusammenhang herauszufinden, haben die Forscher Daten über politische Proteste in Autokratien gesammelt und diese mit Informationen über die Internetanbindung verknüpft. "Wir haben auf der Ebene von Städten untersucht, wie die Internetanbindung die Häufigkeit und Dauer von Protesten beeinflusst", berichtet Rød.
Dabei untersuchten der Politikwissenschaftler und sein Kollege auch, wie schnell und weit sich Proteste von Stadt zu Stadt verbreiten und wie autokratische Regierungen auf solche Bewegungen reagieren. "Es gab unheimlich viele Verbindungen zu untersuchen", so Rød.
Bremse und Verstärker zugleich
Bei ihren Analysen fanden die Forscher heraus, dass eine höhere Internetdurchdringung langfristig das Auftreten von Protesten reduziert. Offenbar macht sich hier bemerkbar, dass autokratische Regierungen mit digitalen Technologien hilfreiche Mittel zur Verfügung haben, die sie für verstärkte Überwachung und mehr Zensur nutzen können.
Gleichzeitig zeichnete sich jedoch ab: Beginnt unter solchen Regierungen doch einmal eine politische Mobilisierung, kann sich diese über schwer zu kontrollierende Onlinekanäle schnell verbreiten. Wenn es also trotz Repressionsmaßnahmen zu Protesten kommt, dann gewinnen sie in hochdigitalisierten Gesellschaften viel schneller an Fahrt und verbreiten sich weiter, wie die Ergebnisse offenbarten.
"Ein zweischneidiges Schwert"
"Insgesamt kann man sagen, dass die Einführung und Ausbreitung von digitalen Technologien für autokratische Gesellschaften ein zweischneidiges Schwert ist", fasst Weidmann zusammen. "Das Internet wird in vielen Autokratien eindeutig als Repressionswerkzeug eingesetzt. Es kann aber unter den passenden Umständen auch zum Befreiungswerkzeug werden", so das Fazit der Wissenschaftler.