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65. Jubiläum vom “Sandmännchen”
„Sandmann, lieber Sandmann, es ist noch nicht so weit“ – viele von uns haben vermutlich direkt die passende Melodie zu diesen Zeilen im Kopf. Sie erklingt jeden Tag um sieben Uhr abends, „ehe jedes Kind ins Bettchen muss“. Dann kommt der Mann mit roter Zipfelmütze und weißem Ziegenbart angefahren, -gelaufen oder -geflogen und schaut mit Kindern aus aller Welt den sogenannten „Abendgruß“ – eine etwa fünfminütige Gute-Nacht-Geschichte, in welcher Charaktere wie die Schweine „Piggeldy und Frederick“ gemeinsam Abenteuer erleben oder „Die obercoole Südpolgang“ musikalische Ständchen zum besten hält.
Sandmännchen ohne Sand
Vor 65 Jahren, am 22. November 1959, strahlte der Deutsche Fernsehfunk (DFF), ein Fernsehsender der damaligen DDR, die erste Folge des Sandmännchens aus. Im ersten Abendgruß existierten später altbekannte Charaktere wie „Pittiplatsch“ allerdings noch nicht. Stattdessen erzählte eine junge Frau gemeinsam mit ihrer Puppe Kaschparik, was „Gute Nacht, liebe Kinder“ auf den unterschiedlichen Sprachen der Welt bedeutet.
Trotz seines Namens endete diese Folge noch nicht wie später üblich damit, dass der Sandmann den zuschauenden Kindern Schlafsand in die Augen streut. Stattdessen verließ er das Haus, in dem er den Abendgruß geschaut hatte, und schlief dann friedlich an einer Straßenecke im Schnee ein. Dieses Ende stieß allerdings bei den Eltern auf Kritik. Zudem erreichten den DFF zahlreiche Briefe, in welchen die jungen Zuschauer der Puppe nicht nur Schlafsäcke und Decken, sondern sogar ihre eignen Betten anboten.
Das DDR-Sandmännchen
Das Sandmännchen gilt als Ostprodukt, die Idee für die Kindersendung stammt allerdings nicht aus der DDR. Der Sender DFF stibitzte das Konzept nämlich aus einer Pressemitteilung des westberliner Fernsehsenders SFB. Eigentlich hatte die deutsche Rundfunkredakteurin und Kinderbuchautorin Ilse Obrig die Sendung erdacht – laut Pressemitteilung wollte der Sender am 1. Dezember 1959 die erste Folge des „Sandmännchens“ präsentieren.
Als der DFF von diesem Vorhaben des westdeutschen Senders erfuhr, wollten die Ostdeutschen den Westdeutschen ein Schnippchen schlagen und dieselbe Sendung ein paar Tage früher veröffentlichen. Also stampfte ein Team des DFF in kürzester Zeit eine eigene Produktion von „Unser Sandmännchen“ aus dem Boden: Innerhalb von nur zwei Wochen designte beispielsweise Gerhard Behrendt die Puppe inklusive Kostüm und Bühnenbild.
„Sandmann, lieber Sandmann“
Die eingängige Titelmelodie schrieb der Komponist Wolfgang Richter angeblich sogar innerhalb von drei Stunden. Den Text dazu soll ihm der deutsche Kinderbuchautor Walter Krumbach, welcher im Laufe der Jahre ebenfalls über 200 Folgen der Abendsendung „Herr Fuchs und Frau Elster“ verfasste, in derselben Nacht am Telefon diktiert haben.
Ursprünglich galt diese schnell erschaffene Melodie als zu komplex für eine Kindersendung. Doch vielen Zuschauern gefiel sie trotzdem und so gab es an dem Lied „Sandmann, lieber Sandmann“ bis heute nur eine einzige Änderung: Lange Zeit hatte sie vor dem Abendgruß zwei Strophen. Doch da in der zweiten Strophe der Fernsehsender DFF erwähnt wird, strichen die Sandmann-Produzenten diese bei Auflösung des Senders.
Weitgereister Sandmann
Zu Fuß, mit dem Traktor und sogar mit dem Segelflugzeug – über die Jahre machte sich das Sandmännchen in den unterschiedlichsten Fortbewegungsmitteln auf den Weg zum Abendgruß. Die Produzenten nahmen mit den Gefährten häufig Bezug auf aktuelle Ereignisse. Zur Erntezeit kam der Sandmann etwa mit dem Traktor angefahren. Doch als das Sandmännchen mit dem Heißluftballon zum Abendgruß flog, gab es Ärger mit den Parteifunktionären. Der Grund: Einige Tage vorher waren zwei Familien mit einem selbstgebauten Heißluftballon aus der DDR geflohen.
Auch die unterschiedlichen Reiseziele des Sandmanns bezogen sich teilweise auf aktuelle Ereignisse. Beispielsweise besuchte er zur Zeit der US-Invasion das südostasiatische Land Vietnam. Als die Astronauten der Sowjetunion das erste Mal in den Weltraum flogen, kam die Puppe in einer folgenden Sendung direkt ins All hinterher und kurz nach der Mondlandung der US-Amerikaner erkundete auch der Sandmann den Himmelskörper.
Das Sandmännchen verbreitet sich
Trotz des „Diebstahls“ hielt auch der SFB im Westen an seinem Konzept fest und strahlte von 1959 bis 1989 parallel zum Ostfernsehen das „Sandmännchen“ aus. Als dann nach der Wende der Sender DFF nur noch eins seiner zwei Programme ausstrahlen durfte, kamen Gerüchte auf, dass der Abendgruß mit dem Sandmann aus Kostengründen abgeschafft werden sollte. Darauf folgte eine Protestwelle. Glücklicherweise stritt der Rundfunkbeauftragte der DDR-Länder die Behauptungen ab und erklärte den zukünftigen Fortbestand des ostdeutschen Sandmännchens sogar zu seinem persönlichen Anliegen. Die Produktion des westdeutschen Sandmännchens wurde hingegen eingestellt.
Mittlerweile läuft „Unser Sandmännchen“ im MDR, im RBB und seit 1997 auch beim Kinderkanal „KIKA“. Und nicht nur das: Über die Jahre verbreitete sich die Abendsendung mit dem weißbärtigen Mann in der ganzen Welt, jedoch in unterschiedlicher Form. Während die Schweiz und Bulgarien ihre eigene Sandmann-Sendung produzieren, läuft die Show in Schweden und Norwegen lediglich unter anderem Namen. Sogar in einigen arabischen Ländern wie Syrien, dem Irak und Ägypten lassen sich Kinder seit 1970 von dem Mann mit roter Zipfelmütze gute Nacht sagen.