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Komplexe Märkte, feinfühlige Reaktionen – Wie funktioniert unser Wirtschaftssystem?
Was bedeutet Marktwirtschaft genau?
Der Begriff der Marktwirtschaft beschreibt eine Wirtschaftsordnung, bei der Angebot und Nachfrage am Markt aufeinandertreffen und die Regulierung im Normalfall über den Preis erfolgt. Ein Produkt wird im Normalfall zu dem Preis verkauft, zu dem der höchste Marktumsatz möglich ist.
Ein kleines Beispiel zur Verdeutlichung:
Die Produzenten eines Gebrauchsgegenstands sind mit den aktuellen Kapazitäten in der Lage, jährlich 500.000 Einheiten herzustellen. Sie verkaufen diese für 120 Euro pro Stück und können davon 400.000 Einheiten absetzen. Da sie so eine Überproduktion von 100.000 Einheiten aufweisen, werden sie als erstes versuchen, Kunden durch günstigere Preise anzulocken. Bei einem Verkauf zu 110 Euro pro Stück lässt sich der Absatz plötzlich auf 450.000 Einheiten steigern. Die höhere Nachfrage resultiert daraus, dass zu diesem Preis mehr Verbraucher bereit sind, das Produkt zu kaufen. Eine weitere Preissenkung um 10 Euro auf dann 100 Euro bewirkt, dass die Produzenten dann ihre Kapazitätsmenge voll absetzen können. Der Markt hat ein Gleichgewicht gefunden.
Wie koordinieren sich die Märkte?
Die Preisbildung findet durch die freien Entscheidungen der einzelnen Marktteilnehmer statt. Dazu gehören auf der einen Seite die Unternehmen und auf der anderen Seite die Haushalte (Konsumenten). Dabei stehen den Markteilnehmern folgende Entscheidungen zur Verfügung:
- Haushalte: Konsumieren und sparen
Ein Haushalt kann für sich planen, wie viel Geld vom eigenen Budget für den Konsum ausgegeben werden soll und welcher Anteil für das Sparen verwendet wird. Sparen ist dabei als Konsumverzicht definiert.
- Unternehmen: Produzieren und investieren
Ein Unternehmen kann produzieren (Produkte herstellen und Dienstleistungen erbringen) und darüber hinaus Investitionen tätigen. Dabei geht es um den Ersatz von abgenutzten Produktionsmitteln oder Erweiterungsinvestitionen.
Beide Seiten versuchen dabei der Theorie nach, ihren persönlichen Nutzen zu maximieren und somit die für sie besten Entscheidungen zu treffen.
Welche Rolle hat der Staat?
Grundsätzlich obliegt es dem Staat zunächst, die Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche Handeln der einzelnen Marktakteure festzulegen. Gute Beispiele sind hierbei:
- Sicherung von Rechten auf privates Eigentum
- Gewährleistung der Vertragsfreiheit und Haftung
- Schaffung einer guten Infrastruktur sowie Finanzierung von Bildung und Grundlagenforschung
- Festlegung der Freiheitsrechte
- Erhaltung des Wettbewerbs
Darüber hinaus wird dem Staat allerdings auch eine soziale Verantwortung zuerkannt. Er soll also im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft für folgende Aspekte sorgen:
- Festlegung sozialer Mindeststandards
- Umverteilung über das Steuer- und Sozialversicherungssystem
- Beseitigung zu starker Ungerechtigkeiten durch das Marktgeschehen
Welche Rolle kommt den Notenbanken zu?
Grundsätzlich soll die Notenbank die Wirtschaft mit Geld versorgen. Sie gibt neue Banknoten aus. Zugleich steuert sie die Menge des sich im Umlauf befindenden Geldes und kann so Einfluss auf die Preissteigerungsrate nehmen. Sie trägt also in hohem Maße zur Wertstabilität einer Währung bei. Die europäische Zentralbank (EZB) ist dabei für den Euroraum zuständig und steuert die Geldmenge vor allem über die Leitzinsen:
- Refinanzierungszinssatz: Zu diesem Zinssatz können sich Banken Geld von der EZB leihen. Dabei handelt es sich um neu geschaffenes Giralgeld, welches die Geldmange in der Wirtschaft erhöht. Je höher der Zinssatz, desto weniger neues Geld wird in Umlauf gebracht. Deshalb erhöhen Zentralbank bei ansteigender Inflation im Regelfall den Refinanzierungszinssatz.
- Einlagefazilität: Dieser Zinssatz beschreibt die Rendite, die Geschäftsbanken erhalten, wenn sie Einlagen bei der Zentralbank parken. Dies geschieht quasi immer, wenn sie das Geld nicht für andere Bankgeschäfte nutzen (z.B. Kreditvergabe an Kunden und Unternehmen) oder bar vorhalten (im Tresor). Möchte die Zentralbank die Banken zu erhöhter Kreditvergabe anregen, kann sie den Einlagenzinssatz auch negativ ansetzen und die Banken quasi zu Strafzinsen verdonnern.
- Spitzenrefinanzierungsfazilität: Dieser Zinssatz legt quasi fest, zu welchem Zinssatz sich Banken kurzfristig Geld über den Interbankenhandel Geld leihen können.
Die EZB hat in den letzten 20 Jahren jedoch auch mehr und mehr die Rolle einer Konjunkturhüterin eingenommen. Durch extrem niedrige Leitzinsen sowie Anleihekäufe soll das Wirtschaftssystem gestützt und Wirtschaftswachstum ermöglicht werden.
Die Märkte sind komplexer als in der Theorie
Die Märkte sind in der Praxis natürlich immer komplexer als in der Theorie. Dies liegt vor allem an der Tatsache, dass Menschen emotionale Wesen sind. Am Beispiel der Bauzinsen lässt sich dies gut ablesen:
- Die Bauzinsen sind in den letzten Jahren immer weiter gefallen
Die Bauzinsen sind in den letzten Jahren von Rekordtief zu Rekordtief gefallen. Dies war quasi eine Nebenwirkung der EZB-Zinspolitik. Kostete ein Baukredit Anfang 2007 noch durchschnittlich 4,85% pro Jahr, lagen die Bauzinsen Anfang 2020 bei durchschnittlich 1,39% pro Jahr.
- Nachfrage nach Baudarlehen ist extrem gestiegen
Die Nachfrage nach Baudarlehen ist aufgrund der niedrigen Zinsen extrem gestiegen. Immer mehr Menschen finanzieren sich den Traum vom Eigenheim, auch wenn sie objektiv betrachtet dazu gar nicht die finanziellen Mittel haben. Hier zeigt sich, dass Menschen emotional handeln und nicht immer rational alles abwägen.
Die niedrigen Zinsen sorgen zudem dafür, dass spezielle Finanzierungsangebote wie beispielsweisedas Forwarddarlehen immer beliebter werden. Schließlich möchte sich jeder die niedrigen Zinsen auch für die Anschlussfinanzierung in einigen Jahren sichern.
- Die Preise für Immobilien sind in die Höhe geschnellt
Als normaler Marktreflex sind die Preise für Immobilien in die Höhe geschnellt. Diese Preiserhöhung frisst für viele potenzielle Immobilienkäufer die Einsparung durch niedrige Zinsen wieder auf.
Komplexer Nebeneffekt: Die hohe Nachfrage nach Wohnraum und die hohen Kaufpreise haben auch die Mietpreise beeinflusst. Gerade in beliebten Lagen wird Wohnen immer teurer. Dies hat zwar auch andere Gründe, ist aber zusätzlich dem Immobilienboom geschuldet.
Eingriffe in das Marktgeschehen haben oft Nebenwirkungen
Die freie Marktwirtschaft ohne ordnende Kräfte bringt leider bei weitem nicht nur Gewinner hervor. Wenn der Staat hier zum Wohl der Allgemeinheit eingreift und Härten abfedert, ist dies sicherlich wünschenswert. Allerdings sollten Entscheidungen hier stets genau abgewogen werden, da sie mitunter unangenehme Nebenwirkungen mit sich bringen. Die Preisexplosion bei Immobilien ist beispielsweise eine Nebenwirkung der niedrigen Leitzinsen und so sicherlich nicht gewollt.