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Ruhestörung

von Charlotte Erpenbeck

Der Hund bellt. Unwillkürlich muss sie an ihr Gewehr denken. Als sie elf war, brachte ihr Vater ihr bei, Tauben zu schießen. Mit zwölf bekam sie dann ihr eigenes Gewehr. Ihr Vater hatte sie immer für ihre Treffsicherheit gelobt. Die Tauben gab es später zum Mittagstisch, gebraten wie kleine Hähnchen, von ihrer Mutter liebevoll mit Karotten und gebackenen Kartoffeln serviert. Mutter konnte einfach himmlisch kochen.

Jeder in ihrer Familie hatte ein Gewehr. Vater brachte ihr und ihren Brüdern bei, sorgsam damit umzugehen. Gewehre waren gefährlich. Gewehre konnten töten. Verlockender Gedanke. Sie spürt die Versuchung. Selbst ein kleines Gewehr kann auf nahe Distanz einen Hund töten. Es kribbelt ihr in den Fingern, den Köter zum Schweigen zu bringen. Das verdammte Biest bellt, seit sie vor drei Stunden das letzte Mal ihre Kleine gefüttert hat. Es scheint ja niemanden zu stören. Niemanden außer ihr.

Sie findet keine Ruhe. Ihr Baby ist gerade vier Wochen alt. Sie ist immer noch ein bisschen unsicher, was genau sie mit der Kleinen machen muss. Stillen kann sie nicht, sie hat nicht genug Milch. Und die Kleine verträgt die künstliche Milch nur schlecht. Mindestens fünfmal am Tag hat sie kolikartige Anfälle. Dann schreit Sheila. Für ein so kleines Wesen schreit sie verdammt laut. Stunde um Stunde, in durchdringenden Tönen. Gott sei Dank schläft die Kleine gerade. Wenn sie selbst bloß auch schlafen könnte. Keine Chance. Der Hund bellt noch immer.

Sie horcht. Ihr Nachbar hört "Zerbrochene Herzen", eine Soap-Opera. Sie erkennt die Stimmen. Harald redet gerade, der Typ mit der Harley. Er streitet sich mit seiner Freundin Samantha. Samantha möchte, dass er seine Gang verlässt und mit ihr ein bürgerliches Leben beginnt. Natürlich ist Harald dagegen. Er drückt sich ziemlich eindeutig und sehr unfreundlich aus. Jetzt schreien die beiden sich an. Ihrem Nachbarn ist es egal, dass sie alles mithört. Die Wände sind dünn, ihr Nachbar ist alt, er stellt den Fernseher laut, damit er die Schauspieler versteht. Den ganzen Tag lang läuft sein Fernseher. Die kleine Sheila stört es nicht. Sie schon.

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