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Camp Century - eine subglaziale Stadt und ihr giftiges Erbe

Es klingt wie aus einem James-Bond-Film: Im Kalten Krieg wollten die USA mobile Atomraketen in einem gigantischen Tunnelsystem unter dem Eis Grönlands stationieren. Daraus wurde zwar nichts, gebaut wurde aber immerhin eine atomgetriebene "Stadt unter dem Eis". In ihr lebten und arbeiten US-Soldaten und Forscher, bis die Station 1967 aufgegeben wurde. Jetzt droht der Klimawandel, die giftigen Relikte von "Camp Century" freizulegen.
NPO, 30.04.2016

Plan des Camps

US Army

"Die Geschichte von Camp Century ist fantastisch. Selbst heute erfordert es einige Fantasie, sich vorzustellen, wie eine Gruppe von Armee-Ingenieuren sich ihren Weg in das grönländische Eisschild grub und pflügte, um dort eine von Atomkraft angetriebene Stadt unter dem Eis zu errichten", sagt Kristian Nielsen von der University Aarhus.

Der Bau der ersten "Stadt unter dem Eis" begann im Jahr 1959, als die US-Armee in Grönland nach einem Standort für einen subglazialen Stützpunkt suchte. Rund 240 Kilometer östlich der US-Militärbasis Thule wurden die Armee-Ingenieure fündig und begannen mit der Konstruktion der subglazialen Anlage. Mithilfe spezieller Eisfräsen gruben sie dafür rund acht Meter unter der Eisoberfläche ein System aus Tunneln und Kammern.

"American Way of Life" unter dem Eis: Aufenthaltsraum von Camp Century.

US Army

"Wie in einer beliebigen Kleinstadt"

1960 war "Camp Century" dann fertig – und wurde propagandawirksam in einem Film des US-Militärs der staunenden Öffentlichkeit vorgestellt. "In dieser entlegenen Umgebung, 1.200 Kilometer vom Nordpol entfernt, ist Camp Century ein Symbol des unaufhörlichen Kampfes des Menschen, seine Umwelt zu erobern", heißt es im Film.  Die Stadt unter dem Eis wurde als Beleg für die technologische Überlegenheit der USA und des "American Way of Life" gefeiert.

Tatsächlich schien sich das Leben unter dem Grönlandeis kaum von dem in einer US-Kleinstadt zu unterschieden: Es gab Schlafräume, Aufenthaltsräume, ein kleines Hospital, eine Wäscherei und sogar eine Bibliothek und einen Friseur. Für das leibliche Wohl der Bewohner sorgten eine Großküche und eine Cafeteria, für das geistige Wohl eine Kapelle. Von der Eiseskälte auf dem Gletscher war im Inneren von Camp Century wenig zu spüren, denn alle Räume waren beheizt und wohnlich eingerichtet. Strom und Wärme lieferte der weltweit erste mobile Atomreaktor, ein 350 Tonnen schwerer Koloss, der in einem der tiefsten Tunnel des Camps stand.

Baustelle des ersten mobilen Atomreaktors der Welt.

US Army

"Project Iceworm" – Raketenbasen unterm Eis

Was allerdings die Öffentlichkeit nicht erfuhr, war der eigentliche Zweck dieses US-Vorpostens im Ewigen Eis. Denn Camp Century diente als Pilotprojekt und Forschungsstützpunkt für ein weit ehrgeizigeres und streng geheimes Projekt der US-Armee: "Project Iceworm" sah vor, den Norden Grönlands zu einem System subglazialer mobiler Abschussrampen für Atomraketen auszubauen.

Auf einer Fläche von 130.000 Quadratkilometern – das entspricht der dreifachen Größe Dänemarks - sollte dafür das Eis untertunnelt werden.  In den verzweigten, insgesamt 4.000 Kilometer langen Tunneln würden man Schienen verlegen, auf denen dann rund 600 Atomraketen unter dem Eis gelagert und bewegt konnten. Der Plan sah vor, rund 2.100 subglaziale Kontrollzentren mit Abschussvorrichtung in dieses Tunnelsystem zu integrieren.

Von diesen Geheimplänen wusste selbst die dänische Regierung nichts, zu deren Zuständigkeit Grönland gehörte. Zwar wurde Camp Century offiziell beantragt und als wissenschaftlich-militärische Teststation genehmigt. Von den atomaren Plänen der USA erfuhren aber weder die Grönländer noch die dänische Regierung etwas.

Erst grub man die Tunnel, dann wurden sie mit Metallplatten und Schnee abgedeckt.

US Army Corps of Engineers

Das Eis ist stärker

Doch noch bevor Project Iceworm beginnen konnte, machte das Eis die Pläne zunichte. Der Gletscher, in dem Camp Century lag, bewegte sich stärker als zuvor angenommen. Dadurch verformten sich die Tunnel und Kavernen, ihre Decken senkten sich ab und drohten einzustürzen. Schon 1962, zwei Jahre nach Eröffnung der "Stadt unter dem Eis", hatte sich die Decke über dem Kernreaktor-Tunnel um 1,50 Meter gesenkt.

Die Bewohner von Camp Century kämpften zwar einige Zeit lang gegen die sich bewegenden Eismassen an und schaufelten monatlich mehr als 120 Tonnen Schnee und Eis von der Oberfläche, stützten Decken ab und reparierten Risse in den Wänden. Aber der Gletscher ließ sich nicht aufhalten.  1964 wurde aus Sicherheitsgründen der Atomreaktor abgebaut und die Station stattdessen mit Dieselgeneratoren versorgt. 1967 gab das US-Militär Camp Century endgültig auf.

Propagandafilm der US-Armee über Camp Century; The Federal file

Giftiges Erbe

Heute ist an der Eisoberfläche nichts mehr von der einstigen "Stadt unter dem Eis" zu sehen. Die alten Tunnel von Camp Century sind abgesunken und liegen heute in 45 bis 55 Meter Tiefe, wie Radaruntersuchungen zeigen. Doch sie sind nicht die einzigen Relikte: Als die US-Armee 1967 abzog, hinterließ sie Unmengen an festen und flüssigen Abfällen: rund 240.000 Liter Abwasser, 200.000 Liter Dieseltreibstoff und rund 9.200 Tonnen Gebäudeteile, Schienenreste und andere feste Überreste der Anlage. Ebenfalls im Eis geblieben ist eine unbekannte Menge schwach radioaktiver Abfälle, größtenteils in Form von verseuchtem Kühlwasser aus dem Reaktor der Anlage.

Bisher sind diese umweltschädlichen, strahlenden und teils giftigen Relikte von Camp Century noch tief im Eis vergraben. Doch durch den Klimawandel beginnt auch diese Region im Norden Grönlands allmählich zu tauen. In wenigen Jahrzehnten könnte dadurch Schmelzwasser diese Relikte erreichen und Teile des giftigen Erbes wieder zutage fördern. Wissenschaftler raten daher, die Abfälle von Camp Century möglichst vorher zu bergen und zu entsorgen. Wer dafür allerdings zuständig ist, muss noch entschieden werden.

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