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Loveparade-Unglück - 15 Jahre danach
Die Loveparade ist jahrelang DAS Ereignis in der Welt der Technomusik. Jedes Jahr im Sommer zieht dieser fahrende Rave zehntausende Menschen an. Erst in Berlin, dann ab 2007 in wechselnden Städten rollen von tanzenden Techno-Fans umgebene Wagen durch die Straßen, auf denen DJs laute Technomusik spielen. Doch die Loveparade ist auch umstritten: Die Techno-Fans hinterlassen Berge von Müll und verunreinigen Straßen und Parks mit Flaschen, Kotze und Urin. Viele sind zudem betrunken und zugedröhnt, Übergriffe, Belästigungen und andere Vorfälle häufen sich. Vielen Städten wird das Sicherheitsrisiko und der Aufwand allmählich zu groß.
Sicherheitsbedenken schon im Vorfeld
Auch im Vorfeld der Loveparade 2010 in Duisburg gibt es Sicherheitsbedenken: Um die Störungen durch die Technomusik und Besucher zu minimieren, soll die Parade nicht auf der Straße, sondern auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs stattfinden. Dieses brachliegende Areal liegt zwischen der Autobahn und Bahngleisen und ist rundherum durch Zäune begrenzt. Es gibt nur einen Eingang, der gleichzeitig auch als Ausgang dient: Am südlichen Ende des Veranstaltungsorts führt diese Rampe zu einer langen Unterführung mit der einzigen Zugangsstraße.
Doch genau das ist das Problem: Experten befürchten, dass dieses Gelände für die erwarteten Besucherströme zu klein sein könnte. „Spezialisten von Feuerwehr und Polizei warnen vor einer Katastrophe“, berichtet die Westdeutsche Allgemeine Zeitung damals. Wie später vertrauliche, auf WikiLeaks veröffentlichte Dokumente zeigen, ging der Veranstalter der Duisburger Loveparade damals von etwa „485.000 Besucher[n], jedoch nicht mehr als max. 250.000 gleichzeitig“ aus. Das entspräche den Auflagen der Stadt. Der Veranstaltungssicherheitsexperte Jürgen Gerlach von der Bergischen Universität Wuppertal berechnet in einer 2020 veröffentlichten Ausarbeitung, dass bis 17:10 Uhr tatsächlich nur etwa 118.000 Besucher die Loveparade in Duisburg besuchten.
Die Rampe
Dennoch kommt es zur Katastrophe. Am Tag der Loveparade strömen Techno-Fans vom Duisburger Hauptbahnhof zur Zugangsrampe zum Gelände. In der tunnelähnlichen Unterführung stauen sich die Menschenmassen. Doch die Loveparade öffnet später als geplant: Die Planierungsarbeiten auf dem Gelände dauern länger als gedacht, die Besucher müssen warten. Als das Gelände um 12 Uhr endlich für die Technofans öffnet, ist der Andrang groß – besonders am westlichen Ende des Tunnels strömen immer mehr Menschen hinzu.
Die Umzugsstrecke der Paradewagen liegt nah an der Rampe, deshalb bleiben viele Techno-Fans schon direkt nach dem Aufgang zum Gelände dort stehen. Als Folge staut es sich, die Besucher können kaum nachrücken. Um den Menschenstrom zu regulieren, schließen die Ordner ein paar der Zugangsschleusen zum Tunnel. Auch am oberen Ende der Rampe können die Sicherheitskräfte des Veranstalters den Menschenzustrom kaum noch kontrollieren und fordern Unterstützung durch die Polizei an. Wegen Problemen mit Funkgeräten und Handys verzögert sich diese Kommunikation jedoch. Während Verantwortliche der Loveparade alle Zugangsschleusen schließen wollen, beschließt die Polizei, alle zu öffnen.
Tödliches Gedränge
Immer mehr Besucher treffen nun im Tunnel ein und bewegen sich auf die Rampe zu, während jene, die das Gelände verlassen wollen, von der Rampe in Richtung Tunnel drängen. Zunächst errichtete Polizeiketten werden aufgrund der unaufhaltsamen Menschenmassen wieder aufgelöst. „Zu diesem Zeitpunkt ist die Situation in der Menschenmenge bereits kritisch. Da die entgegengesetzten Bewegungsrichtungen nicht voneinander getrennt sind, ist es schwierig, Menschen hinauszulassen, ohne Menschen hereinzulassen“, berichten Dirk Helbing und Pratik Mukerji von der ETH Zürich 2012 in einer Analyse. „Daher ist es unmöglich, die Rampe effizient zu evakuieren.“
Um dem Gedränge zu entkommen, versuchen nun einige Menschen, über eine Treppe an der Seite der Rampe hinauf oder hinunter zu gelangen, andere klettern auf einen Mast und einen Container auf der Rampe. Berechnungen zufolge drängen sich zu diesem Zeitpunkt rund um Ein- und Ausgang bis zu sieben Menschen pro Quadratmeter. Immer wieder kommt es zu wellenartigen Verdichtungen innerhalb des Stroms, Menschen bekommen keine Luft mehr, stolpern und fallen übereinander, verletzen sich. Gegen 17 Uhr melden die Veranstalter erste Tote.
Am Ende sterben 21 Personen aus sieben Ländern. Bei den Obduktionen der Opfer stellen Mediziner als Todesursache Asphyxie fest: In der Menschenmenge war der Druck so groß, dass sie erdrückt wurden und erstickten.
Ein zäher Strafprozess ohne Urteil
Was folgt, sind viele Ermittlungen und ein langwieriger Strafprozess. 2017 müssen sich zehn Angeklagte, darunter Vertreter des Veranstalters und der Stadt Duisburg, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verantworten. Nach langwierigen Anhörungen kommen die Richter zwar zu dem Schluss, dass das Unglück vermeidbar gewesen wäre und Planungsfehler gemacht wurden. Wer aber dafür konkret verantwortlich war, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, es gibt zu viele widersprüchliche Aussagen und einige Vergehen sind bereits verjährt. Am 4. Mai 2020 stellt das Duisburger Landgericht den Prozess endgültig ein. Niemand wird verurteilt.
Welche Lehren hat man aus dem Loveparade-Unglück gezogen?
Seit dem Unglück bei der Duisburger Loveparade wird versucht, schon im Vorfeld Sicherheitsbedenken stärker zu berücksichtigen – auch, wenn es politisch nicht opportun ist. Denn bei der Duisburger Loveparade hatten Verantwortliche der Stadt sich gegen den Rat einiger Experten durchgesetzt, die vor Mängeln im Konzept warnten. „Es war natürlich eine, wie man zurecht meinte, prestigeträchtige Veranstaltung für die Stadt Duisburg“, erklärt Wolfgang Seibel, Verwaltungswissenschaftler an der Universität Konstanz, in einem Interview des Deutschlandfunks. Das Ruhrgebiet war damals zudem Kulturhauptstadt Europas, weswegen man eine Großveranstaltung wie die Loveparade unbedingt stattfinden lassen wollte. „Deswegen hat man alle Hebel in Bewegung gesetzt, die Veranstaltungsgenehmigung doch durchzudrücken“, so Seibel.
Dieses Übergehen von Sicherheitsbedenken versucht man inzwischen zu vermeiden. In der Jahren nach der Katastrophe wurden von anderen Städten schon mehrfach Großveranstaltungen abgesagt, weil man ähnliche Probleme wie in Duisburg befürchtete. Auch die Entscheidung, eine solche Massenveranstaltung auf einem Gelände mit zu wenig Ein- und Ausgängen stattfinden zu lassen, würde wohl so heute nicht wieder getroffen werden – immerhin.