Wissensbibliothek

Vom Klassizismus zum Jugendstil – Antike weicht dem Alltag

Der Klassizismus, der seinen Höhepunkt zwischen 1770 und 1830 erreichte, führte zu einer Rückbesinnung auf die Klarheit antiker Vorbilder. Sein einflussreichster Wegbereiter war der Archäologe Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der der »Maßlosigkeit« des Barocks und Rokokos die »edle Einfalt und stille Größe« der klassischen griechischen Kunst entgegenhielt. Seine berühmte »Geschichte des Altertums« wurde in alle großen europäischen Sprachen übersetzt.

Mit der Französischen Revolution vollzog sich ein tief greifender Wandel nicht nur des politischen Bewusstseins. In der Kunst traten Einzigartigkeit und Individualität von Schöpfer und Werk in den Mittelpunkt. Die Romantik machte Schluss mit der dominanten Rolle von Vernunft und Aufklärung, propagierte stattdessen eine subjektive Geisteshaltung. Der Künstler wurde zum »Organ der Weltseele« (Friedrich Schelling, 1775–1854). Caspar David Friedrich (1774–1840) malte eine vergeistigte Natur und machte die »Stimme des Inneren« zum Maßstab seiner Kunst. Die englischen Romantiker William Turner (1775–1851) und John Constable (1776–1837) schufen durch ihre intensiven Farb- und Lichtvisionen atmosphärische Stimmungen, die bereits auf den Impressionismus wiesen.

Doch die Welt wandelte sich, und mit ihr die Kunst. Von England ausgehend, veränderte die industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Lebenswirklichkeit der Menschen radikal. Der Realismus von Malern wie Adolph von Menzel (1815–1905) fand seine Motive nun im Alltag des arbeitenden Menschen. Technischer Fortschritt und Beschleunigung beeinflussten die Wahrnehmung der Welt. Der flüchtige, spontane Eindruck wurde zum Merkmal des Impressionismus. Der Endzeitstimmung des Fin de siècle trat zur Jahrhundertwende der Jugendstil entgegen, der durch seine enge Verbindung zur Plakatkunst und zum Kunstgewerbe auch in den Alltag des Durchschnittsbürgers hineinwirkte.

Cornelia, Mutter der Gracchen von Kauffmann: Eine Frau behauptet sich

Was ist das Außergewöhnliche an der Künstlerin Angelica Kauffmann?

Sie steht stellvertretend für die wenigen Frauen, die sich in der über Jahrhunderte von Männern beherrschten Domäne der Kunst behaupten konnten. Ihr sensibler Stil knüpfte an den Rokoko-Geschmack an und wandelte diesen zugleich in einen internationalen klassizistischen Stil um.

Angelica Kauffmanns künstlerische Laufbahn begann früh. Ihr Vater konzentrierte sich ganz auf die Förderung seines Wunderkindes und nahm sie mit auf Bildungsreisen nach Italien, wo sie mit neuen Kunstströmungen in Berührung kam. In Florenz lernte Kauffmann den berühmten Antikenforscher Johann Joachim Winckelmann kennen. Das virtuose Porträt, das die 22-Jährige von ihm 1764 anfertigte, machte sie in deutschen Gelehrtenkreisen bekannt. Die unter seinem Buch liegende Reliefplatte mit den drei Grazien in jenem Bild ist ein Hinweis auf Winckelmanns Schrift »Von der Grazie in der Welt der Kunst« (1759). Doch Kauffmann war nicht nur Künstlerin, sondern auch eine geschickte Geschäftsfrau. Sie verdiente ihr Geld schon bald nicht nur mit Bildern, sondern auch durch Kupferstiche, die sie nach ihren Gemälden herstellen ließ und selbst vertrieb.

Warum gilt Kauffmann als unkonventionell?

Die ambitionierte Malerin wollte sich nicht auf die typischen Themen ihrer Zeit für Künstlerinnen – Porträts und Stillleben – festlegen lassen. Sie erzielte zwar den Hauptteil ihres Einkommens durch Porträtaufträge, malte zugleich jedoch auch Bilder mit den damals angesehensten Bildthemen: Historisches, Themen aus Shakespeares Stücken oder der antiken Mythologie. Schon ein Jahr zuvor, 1763, hatte Kauffmann in Neapel gegen das damals für Frauen herrschende Verbot verstoßen, Aktzeichnungen anzufertigen, und nach antiken Skulpturen gezeichnet – das Beherrschen der Aktzeichnung war damals Grundvoraussetzung für die Historienmalerei. Angelica Kauffmann entwickelte mit der Zeit in ihrer Malerei ein Repertoire von Themen, in denen vor allem weibliche Heldinnen, tugendhafte Ehefrauen und opferbereite Mütter die Hauptrolle spielten, und gerne griff die Malerin auf die beliebten antiken Epen »Ilias« und »Odyssee« von Homer zurück.

Wann wurde sie berühmt?

Während ihres Aufenthalts ab 1766 in London. Die klassizistischen Porträts aus ihrer Hand, zu denen das ihrer Mäzenin Lady Parker zählt, kamen bei der englischen Society glänzend an. Als sie 1768 Gründungsmitglied der Royal Academy wurde, war Kauffmann die einzige Frau, die als Historienmalerin aufgenommen wurde. Zu ihrem Freundeskreis zählten mittlerweile so bedeutende Persönlichkeiten wie Sir Joshua Reynolds, der berühmteste englische Porträtmaler jener Zeit. Während der Jahre in London erhielt Kauffmann mehrfach Aufträge von dem feinsinnigen schottischen Architekten Robert Adams, der sie die Innenräume seiner Bauten ausmalen ließ.

Was ist das Thema ihres Cornelia-Bildes?

Selbstbewusstsein und Bescheidenheit. Das 1785 entstandene Bild führt uns in das Rom des 2. Jahrhunderts v. Chr., in die Loggia einer antiken Landvilla. Die Römerin Cornelia, Witwe des Scipio Africanus, wird von einer eitlen Freundin besucht, die stolz ihre Schmucksammlung zeigt und Cornelia nach ihrem Schmuck fragt. Daraufhin verweist Cornelia auf ihre beiden Söhne als ihren größten Schatz.

Diese zwei unschuldigen Knaben sollten später als Volkstribune Geschichte machen: Der Ältere, Tiberius Gracchus (162–133 v. Chr.), versuchte bis zu seinem gewaltsamen Tod, den Großgrundbesitz an besitzlose Bauern zu verteilen. Der jüngere Bruder Gaius Gracchus (153–121 v. Chr.) bemühte sich vergeblich, dies Werk, das als die gracchischen Reformversuche in die Geschichte einging, zu vollenden.

Das von der griechisch-römischen Antike inspirierte Ambiente und das Thema der weiblichen Tugend waren charakteristisch für Angelica Kauffmanns Klassizismus in einer politisch sehr unruhigen Zeit am Vorabend der Französischen Revolution.

Wussten Sie, dass …

im römischen Palazzo Kauffmanns Gäste wie Goethe und Herder ein- und ausgingen?

Angelica Kauffmann nicht nur Malerin, sondern auch Sammlerin war? Sie besaß eine ganze Anzahl von Gemälden und Abgüssen klassischer Skulpturen.

Welchen Verlauf nahm Angelica Kauffmanns bewegtes Leben?

Angelica Kauffmann wurde am 30. 10. 1741 im schweizerischen Chur geboren. Schon als Kind zeigte sie viel Talent und ging ihrem Vater Joseph, einem Kirchenmaler, zur Hand. 1762 wurde sie Mitglied der Florentiner Akademie, 1763 ging sie, wie viele Künstler ihrer Zeit, nach Rom. Ihren Durchbruch hatte sie als Porträtmalerin in den Jahren 1766 bis 1781 in London. Dort heiratete sie nach dem Tod ihres ersten Mannes, des vermeintlichen schwedischen Grafen Horn, den italienischen Maler Antonio Zucchi, mit dem sie die folgenden Jahre zunächst in Venedig, dann in Rom lebte. Hier wurde ihr Haus zu einem Treffpunkt für die künstlerische Elite der Stadt. 1807 starb Angelica Kauffmann nach längerer Krankheit. Der Bildhauer Antonio Canova organisierte für sie ein prachtvolles Begräbnis, das dem legendären Trauerzug nachempfunden war, mit dem man einst den Renaissance-Maler Raffael geehrt hatte.

Canovas Amor und Psyche: Sinnlichkeit in Marmor

Wie bewertet die Kunstgeschichte Antonio Canova als Bildhauer?

Bis heute gilt er als der bedeutendste Bildhauer des Klassizismus. Von Sankt Petersburg bis North Carolina reichte einst der Ruhm des umjubelten italienischen Künstlers Antonio Canova (1757–1822). Zu seinen berühmtesten Werken gehört die Marmorgruppe von »Amor und Psyche«, die sich im Louvre in Paris befindet. Antonio Canova war in der Tradition der beschwingten und sinnenfrohen Rokoko-Kunst des 18. Jahrhunderts groß geworden. Während seiner Ausbildung in Venedig hatte er gelernt, nach der Natur zu kopieren. Doch seine Kunstauffassung änderte sich schlagartig, als er mit 22 Jahren mit Hilfe eines Stipendiums nach Rom kam, um dort die antike römische Kunst zu studieren. Fasziniert davon, trat er bald mit einem frühklassizistischen Künstlerkreis in Kontakt und entwickelte einen Stil von neuartiger Strenge und Klarheit. Er arbeitete von diesem Zeitpunkt an fast nur noch in Marmor und versuchte, das Ideal der »stillen Größe« in seinen Skulpturen abzubilden.

Bald schon wurden prominente und einflussreiche Auftraggeber auf den jungen Bildhauer aufmerksam. Der große Durchbruch zu einer glänzenden Karriere gelang ihm schließlich mit dem Grabmalprojekt für Papst Clemens XIV. im Petersdom. Die Enthüllung des Grabmals im Jahr 1787 erregte internationales Aufsehen. Im selben Jahr begann Canova mit seinen Arbeiten an »Amor und Psyche«.

Was ist das Thema von »Amor und Psyche«?

Es geht um die Liebe zwischen Gott und Mensch. Psyche, die jüngste Tochter eines griechischen Königs, war so schön, dass sogar die Liebesgöttin Venus eifersüchtig auf sie wurde. Die Göttin schickte deshalb ihren Sohn Amor, der Psyche bestrafen sollte. Als Amor Psyche jedoch erblickte, verliebte er sich in sie. Er holte sie an einen geheimen Ort, an dem er die dunklen Nächte mit Psyche verbrachte, da sie ihn niemals sehen durfte. Als Psyche eines Nachts aus Neugier trotzdem eine Lampe anzündete, erkannte sie Amor, der noch im selben Augenblick erwachte und floh. Nach einigen abenteuerlichen Prüfungen, die ihr von Venus auferlegt worden waren, fiel Psyche schließlich in einen todesähnlichen Schlaf, aus dem sie erst Amor durch einen Kuss wieder erwecken konnte.

Welcher Moment der Liebesgeschichte wird hier dargestellt?

Das weiß man nicht genau. Ist es der Kuss, mit dem Amor seine Geliebte wieder vom Tod erweckte oder einer der Abschiedsküsse des Paares, den der lateinische Dichter Apuleius in seinen »Metamorphosen« beschrieb: »Jetzt schlingt sie ihre lilienweißen Arme um seinen Hals und küsst und liebkost ihn ... Von der Gewalt der Liebe bezwungen, erlag ihr Gemahl ... und verschwand, noch ehe es dämmerte, wieder aus ihren Armen ...«?

Wie ist das Werk gestaltet?

Die Hauptansicht der Plastik wurde von Canova wie ein diagonales Kreuz gestaltet, in dessen Zentrum die verschlungenen Arme des Paares sind. Dabei umrahmen und betonen Psyches Arme den Mittelpunkt des Ganzen, den Kuss. Trotzdem ist die Skulptur für die Ansicht von allen Seiten gestaltet. Antonio Canovas Marmorskulptur strahlt insgesamt eine Sinnlichkeit aus, wie sie in der klassizistischen Plastik kaum ein zweites Mal zu finden ist. Deutlich spürt man hier, dass die Wurzeln des Bildhauers noch in der Rokoko-Kunst lagen.

War »Amor und Psyche« ein Erfolg?

Ja. Zu der Zeit, zu der Antonio Canova »Amor und Psyche« (1787–1793) schuf, war er zwar schon längst über die Grenzen Italiens hinaus ein berühmter Mann. Nur in Frankreich, das gerade durch die Französische Revolution erschüttert wurde, hatte er noch keine größere Anerkennung erfahren. Der Verkauf von »Amor und Psyche« an einen französischen General und eine Ausstellung der Skulptur in Paris verhalfen Canova auch dort zum Durchbruch. Den größten Effekt hatte dabei wohl die Bewunderung Napoleons, dessen »Hofkünstler« er ab 1799 wurde. In der Folgezeit entstanden die berühmten Porträts von Napoleon und der Familie Bonaparte.

Wussten Sie, dass …

Antonio Canova als der einzige Künstler gilt, dem schon zu Lebzeiten Denkmäler gesetzt wurden?

Canova sich sehr für seine Mitmenschen und die Gemeinschaft engagierte? Oft unterstützte er verschiedene wohltätige Aktionen, so hat er z. B. hilfsbedürftige Künstler gesponsort. Auch trug er zur Renovierung der Kirche in seinem norditalienischen Heimatort Possagno bei.

Canova auch als Kritiker eine Institution war? In ganz Europa galt er als wichtige Instanz in Fragen des guten Geschmacks.

Welche Bedeutung hatte die Kunst für Canova?

Antonio Canova war leidenschaftlicher Künstler. Bei den Arbeiten für das Grabmal von Papst Clemens XIV. soll er sich durch den permanenten Druck eines Bohrers gegen seine Brust eine schwere Rippendeformation zugefügt haben. Obwohl er von da an nur noch unter Schmerzen arbeiten konnte, schuf er mit unvermindertem Fleiß und Einsatz weiter bedeutende Kunstwerke.

Antonio Canova wurde 1757 in Possagno bei Bassano geboren und wurde schnell zum bedeutendsten klassizistischen Bildhauer. Die wichtigsten europäischen Höfe kauften Werke von ihm. Dank seines hohen Ansehens als Künstler machte er auch als Diplomat Karriere. Als Aufseher der Kunstdenkmäler des Kirchenstaats setzte er im Jahr 1815 die Rückgabe der von Napoleon enteigneten Kunstwerke an den Vatikan durch.

Antonio Canova starb im Jahr 1822, berühmt und hochverehrt, in Venedig.

Davids Tod des Marat: Eine Ikone der Französischen Revolution

Welche Momentaufnahme vom »Tod des Marat« präsentiert das Gemälde dem Betrachter?

Der prominente Staatsmann liegt nackt und wehrlos in der Badewanne – eigentlich ein Motiv nach dem Geschmack der Boulevard-Presse. Doch der Maler David schildert nicht den Moment des grausamen Mordes, sondern zeigt den traurigen Anblick des Ermordeten: ein Bild von hoher Suggestionskraft und zugleich menschlicher Anteilnahme. Wir erblicken den Leichnam Marats, als sei der Mord soeben begangen worden. Sein rechter Arm hängt leblos über dem Wannenrand, die Schreibfeder noch in der Hand. Sein Kopf ist auf die Schulter gesunken, die leeren Augen sind halb geöffnet, die Lippen, die noch lächelnd flüstern wollen, sind im Schmerz erstarrt.

Jacques-Louis David hat mit Absicht alles Nebensächliche und Spektakuläre aus seinem Bild ausgeblendet, die noch blutende, scharfe Schnittwunde in der Brust und das am Boden liegende Mordwerkzeug in Schatten gehüllt. Das Gemälde beschränkt sich auf die Darstellung eines stillen, einsamen Todes.

Wie kam es zu dem Mord an Marat?

Der Pariser Journalist – den David persönlich gekannt hatte – hatte bereits 1774 in England die Schrift »Die Ketten der Sklaverei« veröffentlicht, ehe er sich während der Französischen Revolution als radikales Mitglied des Konvents und Herausgeber der Zeitschrift »Ami du peuple« für die Armen einsetzte. Dabei ruinierte er seine Gesundheit und zog sich ein schweres Hautleiden zu, dessen Juckreiz er im Bad zu lindern versuchte. Von Fieber geschüttelt, lebte er bald nurmehr zwischen Bett und Badewanne. Am Abend des 13. Juli 1793 redigierte er die Druckfahnen seiner Zeitung, als ihn die Adlige Charlotte Corday aufsuchte und mit einem Dolch erstach. Nun hatte die Revolution ihren Märtyrer! Umgehend erhielt David den Auftrag, den Mord im Dienste der revolutionären Propaganda darzustellen. Das kurz darauf geschaffene Werk sollte eines der großen künstlerischen Zeugnisse der Revolution werden.

Warum wirkt das Bild so anrührend?

Weil Davids Gemälde Marat in einen Märtyrer und Heiligen verwandelt. Sein grauweißes Badetuch, das den Charakter eines Grabtuches hat, die Wanne, die an einen Sarg erinnert, und der geschundene nackte Körper deuten auf die Grablege Christi hin. In dem zutiefst anrührenden Gesicht liegt nichts vom Eifer eines Demagogen.

Marat wird auf eine Weise präsentiert, die trotz des menschlichen Elends Bewunderung hervorruft. Die obere Hälfte des Bildes nimmt ein leerer, karger Hintergrund ein, ein düsterer Raum, der als Hinweis auf die asketische Lebensführung Marats gedeutet wird. Vor der Badewanne steht eine einfache Holzkiste und darauf ein Tintenfass mit Feder. Der kleine Zettel ist Marats schlichtes Testament und der Geldschein sein einziger Besitz, den er Frau und Kindern hinterlassen konnte.

Auf der Holzkiste befindet sich eine nicht zu übersehende Inschrift. Es handelt sich um die ganz schlicht gehaltene Widmung des Malers an seinen Weggefährten: »À Marat, David« steht da in aller Einfachheit.

Wie wirkte das Bild in der Kunstszene nach?

Der »Tod des Marat« hatte eine gewaltige Wirkung. Bis ins 19. Jahrhundert reicht die Liste der französischen Maler, die sich – Ingres eingeschlossen – mit ihm auseinandersetzten. Nach Ansicht des französischen Dichters Charles Baudelaire ist es das einzige Kunstwerk, das die Bezeichnung »revolutionär« verdient. Die heutige Forschung sieht darin einen der Ursprünge der Moderne.

Wussten Sie, dass …

die Requisiten Federkiel, Tintenfass und Holzkiste, die im Bild zu sehen sind, als Reliquien gehandelt wurden?

das wichtigste Gemälde der Französischen Revolution heute in Brüssel ausgerechnet in der königlichen Galerie hängt?

die Mörderin Marats, die 24-jährige Charlotte Corday, unmittelbar nach der Tat verhaftet wurde und wenige Tage später auf der Guillotine starb?

Wie stand David zur Französischen Revolution?

Zunächst positiv. David saß als Jakobiner im Nationalkonvent und war damals der gefeierte Künstler des Umsturzes, der wichtigste Maler des neuen Frankreich.

Jacques-Louis David wurde 1748 in Paris geboren und entwickelte sich nach einem Romaufenthalt 1775–1780 zu einem der bedeutendsten Maler des Klassizismus. Sein antikisierender, moralischer Duktus prädestinierte ihn zum »politischen« Maler in Diensten der Revolution.

Nach dem Sturz Maximilien de Robespierres geriet er allerdings in die politischen Wirren der Umbruchphase und wurde zweimal inhaftiert. Später, unter Napoleon, kam er erneut zu Ansehen und verherrlichte fortan den neuen Potentaten mit großem Eifer – ein politischer Wandel, der ihm oft vorgeworfen wurde.

Nach dem Sturz Napoleons emigrierte David – samt dem »Tod des Marat« – nach Brüssel, wo er im Jahr 1825 starb.

Die Majas von Goya: Das unverhüllte Bild weiblicher Sexualität

Was ist revolutionär an den beiden »Maja«-Porträts?

In Goyas Bildern wurde mit der Tradition gebrochen – statt dezenter Andeutungen von weiblicher Erotik sind hier erstmals Sexualität und Verführungslust bestimmendes Bildthema. Weibliche Schönheiten, die ihren nackten Körper effektvoll in Szene setzen und sich vom Betrachter bewundern lassen, kennt die bildende Kunst seit antiker Zeit. Doch die Darstellung bedurfte lange der Verklärung und Überhöhung: Der nackte weibliche Körper durfte nur in einem mythologisch-göttlichen oder biblischen Zusammenhang abgebildet werden. Die nackte Gestalt verkörperte erhabene Begriffe wie Wahrheit, Jugend oder Natur und lenkte ihren Blick keusch gen Himmel oder zu Boden.

Warum malte Goya zwei Porträts derselben Frau?

Die beiden Gemälde ergänzen sich. Ihr besonderer Reiz liegt in der Gegenüberstellung ein und derselben Person als nackt und bekleidet. Die »Nackte Maja« nimmt eine betont verführerische Pose ein, welche die wohl geformten Rundungen bestens zur Geltung bringt. Die Arme sind bequem hinter dem Kopf verschränkt – sie suggerieren Wehrlosigkeit und zugleich gespanntes Erwarten. Der ausgestreckte Körper bietet sich als Objekt der Lust und Begierde an und ist dem Betrachter herausfordernd zugewandt. Das gilt auch für die »Bekleidete Maja«: Ihr Gewand umspielt und betont die weiblichen Rundungen. Die Schärpe ist so eng um die Taille gebunden, dass die Formen trotz der Verhüllung noch plastischer zum Ausdruck kommen. Was Goya (1746–1828) malte, ist weder weiblicher Akt noch intime Entblößung, sondern eine Frau als sexuelle Reizquelle, als Subjekt und zugleich Objekt der Verführung.

Wer ist auf den beiden Bildern dargestellt?

Bei der Frage nach der Identität der geheimnisvollen Schönheit wird stets die Herzogin von Alba genannt, die Goya protegiert hatte. Die wohlhabende Duquesa besaß, wie eine englische Reisende konstatierte, »Schönheit, Volkstümlichkeit, Grazie, Reichtum« und obendrein einen der höchsten Adelstitel des Landes. Die von anderen Frauen beneidete und im Volk verehrte Grande Dame war seit 1796 verwitwet und bei Hofe das Ziel vieler Verleumdungen. Unbestritten ist, dass sie sich nicht immer an die strengen Gesetze der spanischen Aristokratie und der Hofetikette hielt. Vielmehr führte sie ein für die damalige Zeit freizügiges Leben. Sie galt als sehr intelligent, arrogant und provozierend. Außerdem war ihre Stellung von politischer Brisanz, sah der Hof doch in ihr eine ernst zu nehmende Rivalin der Königin Maria-Luisa.

Welches Schicksal erlitten die »Majas«?

Ab 1808 befanden sich die beiden etwa um 1800 entstandenen »Maja«-Gemälde, die heute im Prado in Madrid hängen, im Besitz des Don Manuel de Godoy, dem Günstling des Königs und eigentlichen Potentaten Spaniens. Es heißt, er habe seinen Gästen zunächst die bekleidete Version gezeigt, um schließlich mit mechanischer Hilfe die »Nackte Maja« hervorzuzaubern. 1815 gelangten die Werke in die Hände des Inquisitionstribunals. Der taube und schwer kranke Goya musste sich für die Darstellung verantworten, da die Abbildung eines nackten Körpers in Spanien ausdrücklich verboten war. Schließlich wanderten die beiden »Majas« in den Speicher der Akademie der Schönen Künste von San Fernando. Erst 1900 wurden sie der Öffentlichkeit gezeigt und lösten eine wahre »Maja«-Begeisterung aus.

Wie verlief Goyas Leben?

Francisco de Goya wurde am 30.3.1746 in der spanischen Provinz Aragón geboren. Nach seiner Ankunft in Madrid lernte er 1775 die Herzogin von Alba kennen, die ihn fortan protegierte. Ab 1789 war er Hofmaler des spanischen Königs Karl IV., den er in »Die Familie Karls IV.« ungeschönt darstellte. 1792 verlor er durch eine schwere Krankheit sein Gehör. Er fertigte nun Druckgrafiken mit politischem und sozialem Inhalt, wie die »Desastres de la Guerra« von 1810. Nachdem er sich 1815 vor einem Inquisitionstribunal verantworten musste, zog er sich in sein Landhaus zurück, in dem die düsteren »Schwarzen Bilder« entstanden, bevor er 1824 ins politische Exil nach Frankreich ging. Goya starb am 16.4.1828 in Bordeaux.

Wussten Sie, dass …

die »Maja«-Gemälde entstanden, als die Herzogin von Alba bereits 38 Jahre alt war? Die Dargestellte hingegen ist etwa 20-jährig.

»maja« »schön« und »gut aussehend« bedeutet? Es steht auch für eine spezifisch spanische Erscheinung hübscher señoritas, die einen unabhängigen Lebensstil pflegten, der von Aristokratinnen nachgeahmt wurde.

Friedrichs Mönch am Meer: Landschaftsbild als Weltanschauung

Wie kam Caspar David Friedrichs »Mönch« beim Publikum an?

Es war schnell ein großer Erfolg. An einem Strand steht ein Mönch in schwarzer Kutte. Auf das Meer blickend, erwartet er das Morgengrauen. Von diesem scheinbar unspektakulären Leinwandbild waren Goethe und Kleist angetan; König Friedrich Wilhelm III. von Preußen höchstpersönlich erwarb es während der Berliner Akademie-Ausstellung.

In Friedrichs Bilderwelt begegnen wir vorrangig stillen, weiten Landschaften. Wir sehen das Ufer seiner Heimat Greifswald, das Bergland rund um Dresden, die Alpen, die der Maler nie gesehen hat. Er liebte die Insel Rügen, das Elbsandstein- und das Riesengebirge, den Harz. Die Skizzen und Zeichnungen, die er dort anfertigte, sind jedoch keine Abbilder der Natur, sondern Sinnbild und Deutungsversuch auf elementare Fragen nach unserer Existenz. Friedrichs Werke sind geprägt von Einsamkeit, Leere und Unendlichkeit. Da ist kein Platz für Aktionen und Akteure. Seine Landschaften sind Seelenlandschaften, ja Andachtsbilder, in denen die christliche Weltanschauung »verlandschaftet« ist.

In welchem geistigen Umfeld steht das Bild?

Aus alledem spricht der Geist der Romantik protestantischer Prägung. Sie ging davon aus, dass in der Natur der Geist Gottes waltet; der Mensch kann in der Deutung einzelner Zeichen die göttliche Offenbarung erfahren. Aus der distanzierten Betrachtung der Ferne wird eine persönliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich. Im Gegensatz zum Klassizismus hat in der Romantik das menschliche Dasein alle Eindeutigkeit verloren und ist nurmehr ein großes, beängstigendes Rätsel. Die Landschaften von Caspar David Friedrich, dem herausragenden Vertreter der deutschen Romantik, sind erfüllt von schaurigen Wetterlagen und unwirtlicher Ödnis. Vor dem Betrachter tun sich Abgründe auf, erheben sich unbezwingbare Gebirgsmassive, fluchten dunkle Meere bis zum Horizont. Und doch steckt in diesen Bildern nicht nur Todesahnung, sondern auch eine Trostbotschaft.

Was zeigt das Gemälde?

Das Bild »Mönch am Meer« lebt ganz vom Anblick des Unendlichen. Nur ein schmaler heller Streifen Dünenstrand bildet die vordere Bühne. Sie scheint zwar sicher, aber winzig gegenüber der Weite des Meeres. Dessen blauschwarze Fläche empfinden wir als einen ausgedehnten Raum, obwohl er letztlich nicht größer ist als der Strandbereich. Den größten Teil des Bildes nimmt der von Wolken verhangene Himmel ein, der – wie von Tinte geschwärzt – lichte und schattige Sphären ausbildet. Der tief liegende Horizont ist durch das Dunkel des Wassers, das auf die Wolken abfärbt, kaum auszumachen. Dumpf und bedrohlich wächst die Dunkelheit aus der Tiefe des Bildraumes hervor. Niemals zuvor in der Malerei war ein Raumerlebnis dieser Art erzeugt worden. Der Bildraum wirkt unergründlich weit, wie der Ausschnitt einer noch endloseren Wirklichkeit. Die Landschaft kann sich an den Seiten ungehindert ausdehnen.

Warum dreht uns der Mönch den Rücken zu?

In und vor dieser endlosen Weite steht der Mönch mit dem Rücken zum Betrachter, den er auffordert, sich mit seiner Rolle zu identifizieren, an seiner Stelle ins Bild einzutreten. Der Weite des Himmels und dem unüberwindlich scheinenden Meer steht der Mensch allein und orientierungslos gegenüber. Die Allmacht des Universums führt ihm seine Winzigkeit, Endlichkeit und Ohnmacht vor Augen. Der schmale Strandabschnitt steht für das Hier und Jetzt der irdischen Welt. Das bewegte Meer ist Sinnbild für die bedrohliche Weite des Weltalls und die Übermacht des Todes. Der Himmel schließlich verkörpert die Sphäre des Religiösen. Sein leichter Lichtschimmer verheißt göttliche Hilfe, Erlösung und ewiges Leben.

Wofür steht die neue Bildkomposition?

Mit dieser christlichen Symbolik ist nur ein Teil der von göttlicher Allmacht durchwirkten Natur beschrieben. Der unendliche Außenraum der Stimmungslandschaft ist zugleich Projektionsfläche für die menschliche Seele im Inneren. Im Gemälde »Mönch am Meer« ist erstmals die Tradition einer Konstruktion von Perspektive aufgegeben. Der Raum, mit dem Friedrich uns konfrontiert, ist jenseits aller messbarer Bewältigung. In dieser Auflösung zentralperspektivischer Orientierungshilfen liegen die Ausdruckskraft und zugleich Modernität dieses Bildes.

Wussten Sie, dass …

der Geburtsort des Malers bis 1815 zu Schweden gehörte?

Friedrichs Bruder, der ihn bei einem Unfall auf dem Eis retten wollte, dabei sein Leben verlor?

Welche Bedeutung hat der Greifswalder für die Epoche der Romantik?

Caspar David Friedrich gehört neben Philipp Otto Runge zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen Romantik in der Malerei. Geboren in Greifswald, studierte er in Kopenhagen an der Königlichen Kunstakademie. Seit 1798 arbeitete er in Dresden, unternahm aber immer wieder Reisen in seine Heimatstadt und auf die Insel Rügen, deren charakteristische Landschaft zu einem seiner bevorzugten Motive wurde.

Mit seinen Landschaftsbildern, in die meist nur einzelne Figuren eingefügt sind, die mit dem Rücken zum Betrachter in die Weite blicken, hatte der Maler bald immensen, auch finanziellen, Erfolg, der aber nach dem Ende der Befreiungskriege wieder abebbte. 1824 wurde Friedrich Professor an der Dresdner Kunstakademie. 1835 lähmte ein Schlaganfall seine rechte Hand– er konnte nicht mehr malen. 1840 starb der Maler in Dresden.

Schinkels Neue Wache: Klassizismus in Preußen

Zu welchem Zweck wurde die Neue Wache erbaut?

Als Denkmal für den Sieg der europäischen Koalitionsmächte über Napoleon. König Friedrich Wilhelm III. beauftragte nach dem Rückzug der Truppen Napoleons Schinkel mit der Planung eines neuen Wachhauses zwischen dem Kronprinzenpalais und der Universität. Nach zweijähriger Bauzeit wurde die Neue Wache 1818 eingeweiht. Der Bau ist ein herausragendes Beispiel für die Schinkel'sche Variante des Klassizismus in Preußen: ein schlichter Kubus, an den Ecken turmartig ausgebaut. »Wie ein römisches Kastrum«, beschrieb Schinkel die Wirkung. Zwischen den Ecktürmen sitzt jedoch eine rein griechisch anmutende Tempelfront mit dorischen Säulen und einem Giebel; er ist wie ein antiker Tympanon (Giebelfeld) mit Figuren ausgestattet, die den Krieg allegorisch verherrlichen. Darunter sitzt ein Fries mit kleinen Siegesgöttinnen aus Zink, ein Werk des Bildhauers Gottfried Schadow.

Wie bedeutend war Schinkel als Architekt?

Er hinterließ eine große Zahl von Entwürfen für Staatsbauten, Brücken, Theater, Villen, Denkmäler, Möbelstücke, Kronleuchter und vieles mehr. Daneben betätigte er sich als Maler romantischer Stadtlandschaften und schuf Bühnenbilder wie den berühmten Sternenhimmel für die Mozartoper »Die Zauberflöte«.

Seine Arbeiten – ob nun im Stil des Klassizismus wie das Neue Schauspielhaus oder in dem der Neugotik wie die Friedrichswerdersche Kirche – umfassen eine ungeheure Spannweite, die kein anderer Architekt in Deutschland jemals wieder erreichen sollte.

Ist die Ähnlichkeit mit dem Brandenburger Tor zufällig?

Nein. Die ersten Entwürfe Schinkels für die Neue Wache zeigten noch einen kleinen Palazzo im Stil der italienischen Renaissance. Den ausgeführten Entwurf prägt jedoch die Antike – und zwar die griechische. Das erste Bauwerk Berlins, das sich an griechischen Vorbildern orientierte und nicht – wie es seit der Renaissance üblich war – an der römischen Antike, lag in direkter Nachbarschaft: das Brandenburger Tor von Carl Gustav Langhans aus dem Jahr 1789. Die Neue Wache sollte die Formensprache dieses Tores wieder aufnehmen, die Straße Unter den Linden so zu einer via triumphalis umgestaltet werden, einer Prachtstraße des preußischen Triumphes.

Welche Funktion hat das Bauwerk heute?

Es dient als Mahnmal. Mit dem Ende der Monarchie 1918 verlor die Neue Wache ihre ursprüngliche Funktion. In den 1930er Jahren wurde sie von Heinrich Tessenow zu einer Gedächtnisstätte für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs umgebaut, dann in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs schwer beschädigt. Die Regierung der DDR diskutierte 1949 ihr weiteres Schicksal. 1957 wurde schließlich ein »Mahnmal für Opfer des Faschismus und Militarismus« eingerichtet. Der Architekt Heinz Mehlau setzte ins Innere ein Hammer-und-Sichel-Emblem sowie einen Glaskubus, in dem eine ewige Flamme brennen sollte. Nach der Wiedervereinigung entbrannte im Bundestag erneut eine Diskussion um die Nutzung. 1993 entschied man sich für die Wiederherstellung des Tessenow-Denkmals, die DDR-Symbole wurden entfernt.

Heute steht im Innern die Skulptur einer trauernden Mutter mit ihrem toten Sohn, die nach einem nur 38 Zentimeter Höhe messenden Original von Käthe Kollwitz aus dem Jahr 1937 in Bronze gegossen wurde. Die Neue Wache ist nun »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« gewidmet.

Warum spricht man von der Schinkelzeit?

Weil Schinkel das Stadtbild Berlins in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so geprägt hat wie kein anderer Baumeister vor und nach ihm. Nach seiner Ausbildung bei den Revolutionsarchitekten David und Friedrich Gilly ging der 1781 geborene Schinkel 1803 nach Italien und dann nach Paris. 1803 kehrte er zurück nach Berlin und machte unaufhaltsam Karriere. Im Alter von 57 Jahren wurde er zum Leiter des gesamten preußischen Bauwesens ernannt.

Das Wachgebäude Unter den Linden in Berlin ist einer der bedeutendsten Bauten des preußischen Klassizismus. Daneben schuf Karl Friedrich Schinkel das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, die Nikolaikirche in Potsdam, die Friedrichswerdersche Kirche und das Alte Museum. Auch im Ausland wurde nach seinen Entwürfen gebaut, etwa das Schloss Orianda auf der Krim.

Schinkel starb im Jahr 1841 hochgeachtet in Berlin.

Overbecks Italia und Germania: In Freundschaft verbunden

Warum malte Overbeck das Bild?

Im Jahr 1810 war Overbeck gemeinsam mit seinem besten Freund Franz Pforr (1788 bis 1812) in Rom eingetroffen. Noch in Wien hatten sie Gefallen an den damals in Künstlerkreisen beliebten Freundschaftsbildern gefunden. In Rom begannen sie sogleich, sich gegenseitig ein Bild zu malen, das ihr Leben, ihre Beziehung und ihre künstlerischen Ideale versinnbildlichen sollte. Anhand einer symbolischen Gegenüberstellung sollte der Charakter der beiden Ausdruck finden.

Wofür stehen die beiden abgebildeten Mädchen?

Pforr verfasste dazu eine Schrift, die von den Zwillingsschwestern Sulamith und Maria erzählt. Zwei junge Männer entbrennen in Liebe zu ihnen, der glücklichen Hochzeit folgt ein idyllisches Ehe- und Künstlerleben. Die im Bild dargestellten jungen Frauen sind die von beiden Malern erträumten Bräute und zugleich die Inkarnation ihrer künstlerischen Ideale. Die dunkelhaarige, lorbeerbekränzte Sulamith (hebräisch = Friede) steht für das friedliebende Land Italien sowie für Overbecks ruhige Wesensart und seine Liebe zur italienischen Kunst. Im Hintergrund breitet sich Hügelland aus; im Schatten kaum zu erkennen ist eine einsam gelegene, schlichte Kirche.

Maria dagegen ist von melancholischem Gemüt, voller Sehnsucht und Leidenschaft, eine blonde, mit einem Blumenkranz geschmückte Gestalt, die den Norden und den Künstlerfreund Pforr personifiziert. Hinter ihrem Rücken wird die Silhouette einer mittelalterlichen Stadt mit gotischem Kirchturm sichtbar. Die Darstellung lebt vom Gleichklang der Seelen, aber auch vom Unterschied der äußeren Erscheinung. Kompositorisch ist das ungleiche Figurenpaar zu einer Einheit verschmolzen, die sich in dem Motiv der drei ineinander ruhenden Hände zeigt.

Was verzögerte die Vollendung des Gemäldes?

Overbeck hatte gerade den präparierten Karton zu dem Gemälde vollendet, als sein Freund im Juni 1812 mit nur 24 Jahren plötzlich an Lungentuberkulose starb. Overbeck litt schwer am Verlust des Freundes und war über Jahre nicht in der Lage, das Gemälde zu vollenden. Dies gelang ihm erst 1828. Da der ursprüngliche Anlass fast 20 Jahre zurücklag, gab er dem Werk den Titel »Italia und Germania«. Ein Jahr später bemerkte er, dass nach all der Zeit aus den Bräuten ein Paar ehrbarer Frauen geworden sei. Er meinte, sie stünden sich fremd gegenüber und es sei seine Aufgabe, sie zu verschmelzen. Overbeck sprach die Sehnsucht an, die den Norden zum Süden zog, hin zur Kunst, zur Natur und Poesie Italiens.

Was bedeutete Italien für die deutsche Romantik?

Aus dem Gemälde spricht die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts, die romantische Sehnsucht nach Ferne und Schönheit. Italien war damals für den Rest Europas die Heimat der klassischen Antike, der Renaissance, der Kultur und Gelehrsamkeit. Für Söhne aus besserem Hause, für Schriftsteller, Maler und Bildhauer war es Pflicht, Italien zu bereisen.

Vor allem in deutschen Landen schwärmte man für den Süden. Zur Zeit der Romantik stand zwar das Interesse an der eigenen nationalen Kultur und der heimischen Tradition im Vordergrund; doch anders als die romantische Bewegung des Nordens war die katholisch geprägte Romantik Süddeutschlands fasziniert von der Vergänglichkeit, die sie in Italien zu finden glaubte. Dort schien das Leben noch unverdorben und glückselig zu sein. Dieser Zeitgeist manifestierte sich vor allem in der Kunst der so genannten Nazarener. Ihre Bezugspunkte waren die Kunst des deutschen Mittelalters, die Werke Dürers und Raffaels sowie die ewige Stadt Rom, wohin die meisten Mitglieder dieser Bewegung zogen.

Welche Ziele verfolgten die Nazarener?

1809 hatten Studenten der Wiener Akademie, unter ihnen Johann Friedrich Overbeck (1789–1869), den Lukasbund gegründet. Sie wollten nicht länger den Werten der Akademie folgen, sondern der Kunst wieder die Rechtschaffenheit verleihen, die sie im Mittelalter besessen hatte. Sie gingen davon aus, die »nationale« Kunst wiederbeleben zu können, indem sie sich in die Kultur Italiens versenkten. 1810 zogen einige von ihnen, darunter auch Overbeck, nach Rom und ließen sich in dem verlassenen Franziskanerkloster San Isidoro nieder. Hier, in der Stadt Raffaels, sollte ihr Ideal einer religiös-patriotischen Kunst Gestalt annehmen. In mönchischer Zurückgezogenheit und streng geregelter, spartanischer Lebensweise arbeiteten sie in ihren Zellen und versammelten sich abends zum Modellstudium im Refektorium. Ihre Vorliebe für das Mittelalter bewog sie, schulterlanges Haar zu tragen und sich in lange, weite Gewänder zu hüllen. Die Italiener gaben ihnen daraufhin einen Spottnamen: i Nazareni.

Wussten Sie, dass …

Overbecks Vater, der Lübecker Bürgermeister Christian Adolph Overbeck, das später von Mozart vertonte Gedicht »Komm lieber Mai und mache« verfasste?

der zum Katholizismus konvertierte Maler von Papst Pius IX. zu Hause besucht wurde?

die verkitschende Adaption und massenhafte Verbreitung nazarenischer Werke und Motive im 19. Jahrhundert die ganze Bewegung in Verruf brachten?

Was wurde nach dem Tod Pforrs aus den Nazarenern?

Nach dem Tod von Franz Pforr nahm der messianische Glaube der Nazarener, die deutsche Kunst erneuern zu können, spürbar ab. Nur Friedrich Overbeck blieb den Prinzipien der Künstlerbewegung zeitlebens treu, trat 1813 zum katholischen Glauben über und blieb bis zu seinem Tod 1869 in Rom. Der bayerische Kronprinz und spätere König Ludwig I. konnte ihn zwar nicht nach München locken, aber immerhin 1832 mit »Italia und Germania« sein schönstes Gemälde erwerben. Es hängt heute in der Neuen Pinakothek in München.

Die Freiheit führt das Volk von Delacroix: Ein politisches Gemälde

Welchem Thema widmet sich das Gemälde?

Der Julirevolution im Jahr 1830 in Paris: Der Bourbonenkönig Karl X. setzt eigenmächtig Parlament und Pressefreiheit außer Kraft und will ein neues Wahlverfahren einführen, das seine absolutistische Macht stärken soll. Doch der Widerstand ist gewaltig. Damit haben die Generäle des Königs nicht gerechnet. Viele Soldaten weigern sich, auf das eigene Volk zu schießen und desertieren. Schlimmer noch: Die Aufständischen können mit der Unterstützung der Bevölkerung rechnen. Nach drei Tagen erbitterter Straßenkämpfe beherrschen sie alle strategisch wichtigen Punkte der Stadt. Karl X. wird zur Abdankung gezwungen, Nachfolger wird sein Vetter Louis-Philippe, der absolute Verfassungstreue schwören muss. Um die Gemüter zu beruhigen, nennt er sich »Bürgerkönig« und überschüttet die Revolutionäre mit zahlreichen Orden.

Wer war die Triebfeder des Aufstandes?

Die meisten der rund 8000 Aufständischen waren Männer, Frauen und Kinder aus der Handwerkerschaft. Das Bürgertum bewunderte den Wagemut und die Disziplin der Besitzlosen. Das Engagement der Arbeiter galt hauptsächlich dem Kampf für Parlament und Pressefreiheit – was verwundert, waren dies doch vorrangig die Ziele des Bürgertums. Kaum ein Arbeiter konnte Zeitung lesen, geschweige denn an Parlamentswahlen teilnehmen. Augenzeugen berichten von einem hohen Anteil an Jugendlichen, die während des Aufstands fielen. Im Gemälde von Delacroix entdecken wir zwei verwegene Burschen, wie sie Pflastersteine ergreifen und mit Pistolen um sich schießen. Sie gehören jener Generation an, die, beseelt von der Großen Revolution im Jahr 1789, von eigenen Heldentaten träumte.

Was repräsentiert die zentrale Frauengestalt?

Sie ist die personifizierte Göttin der Freiheit mit ihrer Jakobinermütze und einem Gewehr mit Bajonett in der Linken. Mit ihrer Rechten streckt sie die Trikolore in den Himmel, ein siegessicherer Gestus, der die Massen hinter ihr anfeuert. Die rot-weiß-blaue Fahne der Revolution entstand 1789 aus den Stadtfarben von Paris und dem Weiß des Königs. Sie war unter den Bourbonen verboten worden, nun ist sie das Symbol der Hoffnung. Bei ihrem Anblick schöpft einer der Verletzten wieder Mut. Hoffnung verheißt auch die Sonne, die hinter den Pulverschwaden durchschimmert. Was kümmern da die königlichen Truppen, die im Hintergrund aufmarschieren, oder Rauch über den Dächern und Türmen der Stadt? Kaum ein Gemälde vermittelt so viel Leidenschaft und Zuversicht in seiner Kampfansage.

Wofür stehen die beiden Männer links am Rand?

Links sieht man einen Bürger mitten im Straßenkampf, ausstaffiert mit Gehrock, Halsbinde und modischem Zylinder, das Jagdgewehr in der Hand. Es handelt sich um das Selbstporträt des Malers. Der 32-jährige Delacroix zeigt sich als ein zu allem entschlossener Barrikadenkämpfer. Ihm folgt ein Arbeiter mit offenem Hemd und Hosenträgern. In seiner blau-weiß-rot gefärbten Schärpe steckt eine Pistole, mit seiner Rechten schwingt er einen Säbel. Bourgeoisie und Arbeiterschaft sind im Kampf vereint.

Warum fiel das Bild bald allseits in Ungnade?

Weil die darin zur Schau gestellte Solidarität mit den Barrikadenkämpfern nicht überzeugte. Die Ereignisse des 27. bis 29. Juli 1830 gingen als »Die drei Tage des Ruhms« in die Geschichte Frankreichs ein. Viele Maler hielten das Geschehen im Bild fest, darunter auch Eugène Delacroix. Er stellte sein großformatiges Werk noch im selben Jahr im Pariser Salon aus, wo es der König für 3000 Francs erstand. Inzwischen war die Monarchie wieder gefestigt. Nachdem das Gemälde zunächst in einem dunklen Palastflur deponiert worden war, bat man Delacroix schließlich, es zurückzunehmen. Erst 1847 wurde es in die Sammlungen im Louvre aufgenommen. Delacroix distanzierte sich später von seinem frühen Werk. Der Künstler war seinem Wesen nach aristokratisch, durch seine Erziehung bürgerlich geprägt und in seinem Auftreten so sehr Dandy, dass man ihm den Patrioten nicht abnahm.

Welche Werke machten Delacroix zum bedeutenden Maler der Romantik?

Eugène Delacroix wurde am 26.4.1798 in einem Vorort von Paris in eine großbürgerliche Familie geboren. 1816 begann er ein Studium an der Pariser »École des Beaux-Arts«. Mit seiner »Dante-Barke« von 1822 erregte er erste Aufmerksamkeit. »Das Massaker von Chios« (1824) ist sein Bekenntnis zu den Ideen der Romantik, deren führender Vertreter in der Malerei in Frankreich er wurde – endgültig festigte er seine Vorrangstellung in »Die Freiheit führt das Volk« von 1831. Eine Reise nach Marokko, während der er zahlreiche Skizzen anfertigte, beeindruckte ihn nachhaltig. Der unermüdliche Arbeiter, der zahlreiche Aufträge von der Regierung erhielt, wurde mit großen Ehren bedacht, zog sich aber immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück. Delacroix starb am 13.8.1863 in Paris.

Wussten Sie, dass …

das Werk von Eugène Delacroix den Impressionisten und auch noch Künstlern wie Kandinsky und Picasso entscheidende Anregungen geben sollte?

Delacroix häufig zwischen wilder Erregung und tiefer Depression schwankte? Der Dichter Charles Baudelaire bemerkte: »Man könnte versucht sein, von einem Krater zu sprechen, den Blumen kunstvoll verdecken.«

Turners Regen, Dampf und Geschwindigkeit: Rausch der Technik

Warum kam die Malerei zu neuen Themen?

Im Lauf des frühen 19. Jahrhunderts bewirkte die Industrielle Revolution ausgehend von Großbritannien ein neues Lebensgefühl. Auf Basis der Dampfmaschine wurden Erfindungen gemacht, die vor allem im Verkehrswesen eine »Revolution« herbeiführten. Wie von Geisterhand getrieben, bahnten sich die neuen Transportmittel, die erstmals nicht mehr von der Leistungskapazität eines Pferdes abhängig waren, ihren Weg. Ab 1825 rief die Eisenbahn eine neue Epoche der Mobilität hervor. Die Zeitgenossen waren angesichts der dampfenden Ungeheuer voller Furcht, aber auch Faszination, machte die Eisenbahn doch beschwerliche Fahrten mit Postkutschen überflüssig und bot auch den unteren Schichten die Möglichkeit zu reisen.

Was zeigt das Gemälde?

Das Gemälde von 1844 zeigt eine Dampfeisenbahn, die in schneller Fahrt eine Pfeilerbrücke überquert. Der Zug wird von einer tiefschwarzen Lokomotive mit hohem Schornstein gezogen. Grell aufleuchtendes Fackellicht kommt aus den Scheinwerfern, vielleicht aber auch aus den Brennkammern im Führerstand. Im linken Bildfeld sind im dichten Nebel ein Mann im Ruderboot und ein pflügender Bauer erkennbar.

Wie ist der Raum geteilt?

Das Bild ist zweigeteilt. Während sich in der unteren Sphäre ein Dunstschleier über Land, Fluss und Brücke ausbreitet, bedecken Wolken und Regenschauer den Himmel. Die Eisenbahn kommt aus dem Hintergrund. Ihre Strecke verläuft schnurgerade und bahnt sich im Vordergrund den Weg am Betrachter vorbei aus dem Bild hinaus. Diese unerbittliche Gerade, wie sie in der Natur so nicht vorkommt, erzeugt einen enormen Tiefensog. Die Farbe tut ein Übriges: Die bewusst gesetzten Unschärfen unterstützen die Wirkung des Schnellen und des flüchtigen Augenblicks. Turners Darstellung entspricht so unserer Wahrnehmung von hohem Tempo. Unser Auge kann einen rasch vorbeifahrenden Zug nur schemenhaft erfassen. Uns, dem Betrachter, hat der Maler einen nicht ungefährlichen Standpunkt nahe der Brücke zugewiesen, wo manch einem schwindelig werden könnte.

Wie vereint das Bild Natur und Technik?

Das Gemälde besticht nicht zuletzt durch seine Atmosphäre. Wann ist jemals eine Landschaft mit wolkenverhangenem Himmel, mit heftigem Regen und gleichzeitig einfallendem Sonnenlicht so kunstvoll und authentisch in Szene gesetzt worden? Endlos ist die Weite des Panoramas, das der Bildraum kaum fassen kann. Um so gegenwärtiger sind Eisenbahn und Brücke, beklemmend nah und realistisch.

Allein die Lokomotive hat scharfe Konturen. Wie ein gespenstisches Wesen taucht sie plötzlich im Nebeldunst auf. Ihr Schornstein, das Wahrzeichen der Industriellen Revolution, bestimmt die Silhouette des Zuges. Die vier Elemente, Luft, Wasser, Feuer und Erde, sind symbolisiert in den Wolken, im Fluss, in der Landschaft und dem Licht der Sonne.

Wie bewertet Turner den technischen Fortschritt?

Um 1845, als das Bild entstand, lag England im Eisenbahnfieber. Turner war der Technik gegenüber aufgeschlossen. Doch sein Porträt der Great Western Railway wird bis heute unterschiedlich gedeutet: Handelt es sich um einen Hymnus auf das neue Verkehrsmittel und Großbritanniens Fortschritt? Oder ist das Bild eine Kritik an der Industrialisierung, die mit aller Wucht und hohem Tempo in eine friedliche Agrarlandschaft einbricht?

Wussten Sie, dass …

Turner der erste Maler war, der einen Zug so zu malen verstand, dass er für den Betrachter glaubhaft nachvollziehbar mit hoher Geschwindigkeit dahinsaust?

die neuen, schnellen Verkehrsmittel nicht nur die Wirtschaft förderten, sondern auch einen Beitrag zur Demokratisierung der Industrienationen leisteten?

William Turner dem Staat bei seinem Tod mehr als 300 Ölbilder und 20000 Zeichnungen und Aquarelle hinterließ?

Welche Ausbildung hatte der Maler?

Er hatte keine klassische akademische Ausbildung. Joseph Mallord William Turner, der Hauptmeister der englischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, wurde 1775 als Sohn eines Barbiers in London geboren. Der Vater förderte den Sohn durch die Ausstellung seiner Werke im Friseursalon. Im Alter von 15 Jahren stellte der junge Maler erstmals in der Royal Academy aus. Mit 26 Jahren wurde er in die Akademie aufgenommen und unternahm in der Folge mehrere Reisen aufs europäische Festland. Inzwischen konnte er vom Erlös seiner Bilder leben. 1804 baute er sich eine eigene Galerie, in der er seine Werke ausstellte.

1807 wurde er Professor an der Royal Academy. Auf zwei Italienreisen entwickelte er seinen charakteristischen Umgang mit Licht weiter. 1851 starb Turner in London und wurde in der Saint Paul's Cathedral beigesetzt.

Manets Frühstück im Freien: Skandal an der Seine

Warum war das »Frühstück im Freien« ein Skandal?

Weil das Bild Édouard Manets einen recht ungewöhnlichen Anblick bietet. Man wundert sich über die absurde Szene einer Gesellschaft, die teils nackt, teils vornehm gekleidet im Grünen sitzt, aber kaum miteinander kommuniziert. Die Pariser Gesellschaft war schockiert, als sie Manets Ölgemälde erstmals sah.

Das im Jahr 1863 gemalte »Frühstück im Freien« war zuvor von der Jury des Pariser Salons, der obersten Instanz Frankreichs im Bereich aktueller Kunst, abgelehnt worden. Da das Galeriewesen noch kaum ausgeprägt war und Museen nur alte Meister ausstellten, bot allein der Salon jungen Künstlern die Möglichkeit, bekannt zu werden. Nach lauten Protesten setzte sich Kaiser Napoleon III. dafür ein, die rund 2800 zurückgewiesenen Werke in einem separaten Salon des Refusés auszustellen. Manets Bild zog schon bald alle Aufmerksamkeit des Publikums auf sich – man sah das öffentliche Schamgefühl verletzt. Manet war darüber tief enttäuscht. Er suchte zwar die Popularität, nicht aber den Skandal. Zeitlebens sollte er um die künstlerische Anerkennung im Salon ringen und schließlich an der fehlenden Wertschätzung zerbrechen.

Welche Situation wird auf dem Bild dargestellt?

Der Aufenthalt zweier Damen und zweier Herren im Freien. Zu den beliebten Vergnügen der Großstädter zählte im 19. Jahrhundert der Sonntagsausflug in den Bois de Boulogne oder ans Ufer der Seine. Manet arrangiert die schattige Waldlichtung wie eine Theaterbühne, um die Figuren in der Mitte hervorzuheben. Im hellgrün schimmernden Hintergrund taucht eine Dame auf, die Unterwäsche trägt und im kühlen Wasser der Seine steht.

Die beiden bärtigen Männer dagegen sind selbst im lauschigsten Winkel auf korrekte Kleidung bedacht. Ihre hellen Hosen sind ein Zugeständnis an die Sommerhitze, ansonsten wird nicht einmal das dunkle Sakko abgelegt. Der Herr rechts trägt eine samtene Quastenmütze, eine damals für Studenten und Künstler typische Kopfbedeckung.

Das Gemälde legt die Vermutung nahe, dass es sich bei den Frauen um zwei Prostituierte handelt, die sich gemeinsam mit zwei Liebhabern der Pariser Bohème vergnügen. In der Tat lautete der Titel des Bildes »La Partie carrée«, die »Partie zu viert«, ehe Manet ihn für den Salon in »Déjeuner sur l'herbe«, das »Frühstück im Freien«, abmilderte. Prostitution im Pariser Grün war zwar keine Seltenheit, aber in der Öffentlichkeit ein Tabu.

Warum ist das Licht im Bild so bedeutsam?

Weil dem Maler daran lag, die Stimmung eines heißen Sommertags festzuhalten – das Flimmern in der Luft, die Spiegelung des Lichtes. Er erfreute sich an der Leuchtkraft klarer Farben, die er frei und großflächig auftrug. Das Landschaftsbild wurde auch nicht wie früher sonst üblich im Atelier, sondern weitgehend draußen in der Natur ausgeführt. Mit dieser Arbeitsweise wurde Manet zum Wegbereiter jener Maler, die man später als Impressionisten bezeichnete. Das »Frühstück im Freien« übte eine unauslöschliche Wirkung auf die moderne Malerei aus.

Aus welchem Grund wurde Manets Bild so kritisch beurteilt?

Frankreich stand zur Entstehungszeit von Manets Bild zwar ganz im Zeichen des Fortschritts und war allen technischen Neuerungen gegenüber offen. Nur im Bereich der Kunst sollte alles beim Alten bleiben. Man feierte Künstler, die in der Art alter Meister malten, schwärmte für Kitsch und üppigen Prunk, für liebliche Sujets wie für Idealansichten und verlangte nach »Erbauung«. Die Darstellung der Realität war nicht gefragt.

Wie bereitete Manet dem Impressionismus den Weg?

Durch seine ganz revolutionäre Behandlung des Lichts. Der im Jahr 1832 geborene Édouard Manet entwickelte früh einen eigenständigen Stil mit großflächigen Hell-Dunkel-Partien, ein Spiel von Licht und Schatten, das er im Lauf der Zeit immer filigraner gestaltete. Das Licht versank nicht mehr im Dämmerzustand, sondern entfaltete eine frische Leuchtkraft. Was Manet sah, malte er so, wie es ihm in diesem Augenblick erschien. Dieser Umgang mit Licht war es, der die Impressionisten maßgeblich beeinflusste. Manet war zwar mit den Impressionisten befreundet, zählte sich selbst aber nicht zu ihrer Gruppe und stellte auch nicht mit ihnen aus.

Auch seine Themen waren dem Geschmack der Zeit voraus. Zeitgenössische Ereignisse (»Erschießung«, 1871) und soziale Themen und Alltagsszenen (»Frühstück im Atelier«, 1868) beeinflussten nachfolgende Malergenerationen maßgeblich.

Monets L'impression, soleil levant: Ein Eindruck mit Zukunft

Welcher Kunstrichtung gab das Bild den Namen?

1873 präsentierte Claude Monet das Bild »Impression, aufgehende Sonne«. Der Kritiker Louis Leroy verspottete ihn daraufhin als »Impressionisten« – ohne zu ahnen, dass er damit einer der folgenreichsten Stilrichtungen des Jahrhunderts den Namen gegeben hatte.

Das Bild zeigt eine Ansicht des Hafens von Le Havre. Monet zeigt die besondere Atmosphäre, die feuchte Luft, die alle Farben verschwimmen lässt. Nur langsam geht die Sonne auf, und ein warmes Orange bricht durch den feuchten, kühlen Morgen.

Warum lehnten die Kritiker das Werk ab?

Wer um 1870 eine Landschaft oder ein Seestück zum Motiv wählte, sollte es nach der gängigen Kunstauffassung im Atelier komponieren und dabei veredeln. Die Kunstkritiker störten sich sehr an Monets Bild, denn diese Ansicht des Hafens zeigte nichts »Edles«, sondern einen Ausschnitt der alltäglichen Arbeitswelt.

Monet malte das Bild nicht im Atelier, sondern unter freiem Himmel (pleinair). Wie seine künstlerischen Vorbilder, Jean-Baptiste-Camille Corot und Charles-François Daubigny im Wald von Barbizon und Eugène Boudin in der Normandie, zog er mit seiner Staffelei hinaus auf Mohnwiesen im Sonnenschein oder in den kalten Nebel eines Hafens. Monet wollte momentane optische Erscheinungen einfangen – und das konnte er nur direkt vor dem Motiv. Die zeitgenössischen Kunstkritiker störte das scheinbar Unfertige und Flüchtige des Farbauftrags in Monets Bildern.

Wie muss man das Gemälde betrachten?

Man muss die Arbeiten Claude Monets aus einer gewissen Entfernung betrachten. Die Maler des Impressionismus wollten Farben nicht mehr auf der Palette mischen, sondern erst im Auge des Betrachters entstehen lassen – und dies geschieht erst ab einer bestimmten Distanz zur Malfläche.

Wie gelang dem Impressionismus der Durchbruch?

Die Künstler Renoir, Pissarro, Degas, Berthe Morisot, Claude Monet und andere hatten sich nach den Zurückweisungen im Salon dazu entschlossen, ihre Bilder 1873 in einer unabhängigen Ausstellung zu zeigen. Die Ausstellung bei dem Fotografen Nadar wurde ein finanzielles Fiasko – die Kunstkritik und das Publikum waren sich einig, die Bilder seien schlecht und schlampig, die Motive aus dem alltäglichen Leben in der Stadt oder der Freizeit an der Seine banal und die Maler vermutlich allesamt verrückt.

Acht weitere Ausstellungen der Impressionisten bis zum Jahr 1888 brachten nur langsam einen Wandel in der Beurteilung ihrer Werke. Heute gehören die Bilder dieser Stilrichtung zu den bekanntesten Gemälden überhaupt – allein Monets Seerosen begegnet man zudem weltweit auf Tassen, Tellern oder Badetüchern …

Wie lebte Monet vor seinem späten Erfolg als Maler?

Bis zu seinem Durchbruch machte Monet schwere Zeiten durch. Erst gab es Auseinandersetzungen mit seiner Familie in Le Havre über seine Ausbildung an der liberalen Académie Suisse in Paris zusammen mit Renoir und Degas, dann über die Beziehung zu dem ehemaligen Modell Camille. Nach der Geburt des Sohnes Jean litt die junge Familie unter ständiger Geldnot, Monets Bilder wurden abgelehnt. Der Maler musste weitere Schicksalsschläge einstecken, darunter den Tod seiner Frau 1879, zwei Jahre nach der Geburt des zweiten Sohns. Die Familie zog umher, unterstützt von Freunden, getrieben von Zwangsräumungen. 1883 zogen sie nach Giverny, einem Apfelbauernort an der Epte. Hier kam Monet in den 1890er Jahren endlich zu Wohlstand, der ihm erlaubte, das Haus in Giverny zu kaufen.

Wussten Sie, dass …

die Malerei im Freien erst durch die Erfindung malfertiger Ölfarben in Tuben möglich wurde?

Monet die Jahre des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 in England verbrachte und dort den Kunsthändler Paul Durand-Ruel kennen lernte, der den Impressionismus maßgeblich förderte?

der Maler nach 1890 in Giverny einen Teich anlegte, dessen Seerosen bis zu seinem Lebensende das beherrschende Motiv seiner Wasserlandschaften (paysages d'eau) werden sollten?

Monet nach neueren Forschungen kurzsichtig gewesen sein, den Gebrauch einer Brille aber bewusst abgelehnt haben soll?

Menzels Eisenwalzwerk: Tempel der Industrialisierung

Warum ist das »Eisenwalzwerk« von Menzel ein typisch realistisches Bild?

Weil die Forderung der Realisten, dass der Künstler seiner Zeit angehören und sie darstellen müsse, in Adolph von Menzels großartigem Gemälde auf präzise und eindrucksvolle Weise umgesetzt wird. Die Industrialisierung mit all ihren positiven und negativen Auswirkungen bestimmte die Lebenswelt vieler Menschen, der sich – so die Realisten – auch der Künstler nicht entziehen durfte. »Schauplatz des Bildes ist eine der großen Werkstätten für Eisenbahnschienen … Man blickt auf einen langen Walzenstrang, dessen erste Walze das aus einem Schweißofen geholte, weißglühende Eisenstück aufnehmen soll. Die beiden Arbeiter, welche es herangefahren haben, sind beschäftigt, es durch Hochdrängen der Deichsel des Handwagens unter die Walze gleiten zu machen, während ihm drei andere mit Sperrzangen die Richtung zu geben versuchen. Die Arbeiter jenseits der Walze halten sich fertig, es mit Zangen und Hebestangen in Empfang zu nehmen … Links fährt ein Arbeiter einen Eisenblock, dem der Dampfhammer die Form gegeben, zum Verkühlen hinweg … Der Schichtwechsel steht bevor: Während weiter im Mittelgrunde Arbeiter halbnackt beim Waschen sind, wird rechts Mittagbrot verzehrt, das ein junges Mädchen im Korbe gebracht hat.« So beschrieb Adolph von Menzel (1815–1905) selbst sein 1875 vollendetes »Eisenwalzwerk« für den Katalog der Berliner Nationalgalerie.

Im Zuge der nach der Reichsgründung des Jahres 1870 sich intensivierenden Industrialisierung zeigte sich auch in Deutschland ein vermehrtes Interesse an einer künstlerischen Darstellung der modernen industriellen Welt. In der Regel handelte es sich allerdings um repräsentative Fabrik-Ansichten im Auftrag von Industriellen. Produktionsanlagen und Akteure wurden dort ins Heroische überhöht, teils mit mythologischen Bezügen. Ein Berliner Beispiel sind die Monumentalbilder, auf denen Menzels Freund Paul Meyerheim für Borsig die »Geschichte der Lokomotive« verewigte.

Was war neu an Menzels Arbeitsweise?

Die intensiven Vorstudien. In der schlesischen »Königshütte« entstanden im Jahr 1872 über 100 Bleistiftskizzen, bei denen der Maler Gefahr lief, »mitverwalzt zu werden«. Mit dem damals noch ungewohnten Bildthema der – wie Menzel es nannte – »Cyclopenwelt der modernen Technik« und des Arbeitswesens war er bereits seit Mitte des Jahrhunderts konfrontiert worden, nämlich auf den Pariser Weltausstellungen durch Gustave Courbets »Steinklopfer« oder die Industriebilder François Bonhommés. In Deutschland aber hatte noch kein Künstler das Thema so realistisch-gründlich bearbeitet.

Was macht die soziale Brisanz des Werks aus?

Seine Härte. Menzel erinnert zwar mit seiner »Cyclopen«-Assoziation an den antiken Schmiedegott Vulkan und taucht seine Walzwerk-Szene in effektvolles Licht, stellt jedoch ungeschminkt die Brutalität von Schwerarbeit und Schichtbetrieb dar. Zudem erscheinen die Arbeiter nicht als anonyme Gestalten, sondern sind in Mimik und Gestik individuell erfasst: Man meint, verwoben mit der Dynamik der Bewegung, auch die soziale Sprengkraft der Verhältnisse im Frühkapitalismus zu spüren, als eine Humanisierung der Arbeitsbedingungen noch in weiter Ferne lag.

Entsprechend zwiespältige Reaktionen löste Menzels Bild seinerzeit bei Publikum und Kritik aus. Der damalige Direktor der Nationalgalerie vermochte dem zuständigen Ministerium den Ankauf nur unter Vorspiegelung falscher Tatsachen schmackhaft zu machen, nämlich dass es hier um »die ergreifende Schilderung des Heldenmutes der Pflicht« gehe.

Wussten Sie, dass …

der erste Besitzer des »Eisenwalzwerks« Adolph von Liebermann war, ein Onkel des Malers Max Liebermann? Er musste das Bild aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten noch im Jahr des Erwerbs (1875) wieder veräußern.

auch noch die sozialkritischen Frühwerke von Menzels Bewunderer und Nachfolger Max Liebermann (1847–1935) einen Sturm der Entrüstung auslösten?

Welche Sujets bevorzugte Menzel?

Adolph von Menzels malerische Meisterschaft entfaltete sich eigentlich bevorzugt bei Szenen des gesellschaftlichen und häuslichen Lebens, in Naturstudien oder Stadtansichten. Der Künstler, der im Jahr 1815 im schlesischen Breslau geboren wurde, lebte zwar in der Zeit der Industrialisierung und befasste sich häufiger mit dem Thema der körperlichen Arbeit. Als ein Werk von Rang zu diesem Sujet kann aber nur das »Eisenwalzwerk« gelten.

Große Beliebtheit errang er darüber hinaus mit seinen Darstellungen des Zeitalters des Preußenkönigs Friedrich II. (Reg. 1740–1786), die im Preußen des 19. Jahrhunderts nostalgische Sehnsüchte hervorriefen – und von Fontane als »Fritzen-Welt« verspottet wurden. Menzel schuf Illustrationen zu Franz Kuglers populärer »Geschichte Friedrichs des Großen« (1841) und zahlreiche Ölgemälde zum Thema, darunter das berühmte »Flötenkonzert« (1852).

Renoirs Moulin de la Galette: Meisterwerk der farbigen Schatten

Was zeichnet »Le Moulin de la Galette« besonders aus?

Die souveräne Schilderung der Licht- und Schatteneffekte macht das 1876 entstandene Bild zu einem Hauptwerk des Impressionismus. Sonnenlicht scheint durch die dichten Baumkronen und wirft farbige Schatten auf Gesichter und Kleidung der vergnügten Gesellschaft. »Ein Schatten ist weder weiß noch schwarz, er hat immer Farbe«, erklärte Renoir. Auf den hellen Sommerkleidern sind sie bläulich und rosa, auf den dunklen Anzügen der Männer wechseln sie von Rot zu Braun. Die Linienführung spielt keine Rolle, die gestaltende Funktion übernimmt allein die Farbe.

Was war Moulin de la Galette?

Moulin de la Galette hieß ein einfaches Gartenlokal, das auf dem damals noch unbebauten Montmartre-Hügel zwischen zwei stillgelegten Windmühlen lag. Ganz in der Nähe hatte Renoir – dank Charpentier – ein Häuschen und ein Atelier gemietet. Täglich mussten seine Freunde die große Leinwand von dort in das Lokal schleppen, denn Renoir malte vor Ort; zum Dank verewigte er sie auf dem Bild.

Wie finanzierte Renoir sein Kunststudium?

Der Sohn eines Schneiders aus Limoges absolvierte in Paris zunächst eine Lehre als Porzellanmaler. Den Lohn für das Bemalen von Fächern und Vorhängen sparte er eisern, um mit 21 Jahren das Kunststudium beginnen zu können. Im Atelier des Salonmalers Gleyre lernte er Claude Monet und Alfred Sisley kennen und durchlief mit ihnen die künstlerische Entwicklung vom Realismus zum Impressionismus unter freiem Himmel in den Wäldern rund um Paris. Im Louvre fesselten Renoir vor allem die Werke der Maler des Rokoko.

Welche Motive wählte der Maler besonders oft?

Renoir porträtierte gern und oft seine Freunde und Kollegen. Das Bildnis von Alfred und Marie Sisley von 1868 zeigt in der Art der Darstellung der Personen die letzen Spuren des Einflusses des großen französischen Realisten Courbet. Häufiges Modell war in dieser Zeit auch seine Geliebte Lise. Auf der ersten Ausstellung der Impressionisten im Jahr 1874 zeigte der 33-Jährige das Bild »Die Loge«. Sein jüngerer Bruder Edmond und das Modell Nini Lopez hatten in seinem armseligen Atelier für das am Ende so vornehm wirkende Bild posiert. Schon hier zeigte sich Renoir als Meister der Darstellung weiblicher Schönheit.

Hatte der Maler Erfolg?

Auguste Renoir war kein radikaler Impressionist, weder im Stil noch in seiner Ausstellungspolitik. Nach drei erfolglosen Impressionistenschauen versuchte er 1879 sein Glück wieder im offiziellen Kunstsalon. Ein Porträt von Madame Charpentier mit ihren Kindern brachte ihm Erfolg und zahlreiche neue Aufträge als Porträtmaler.

Blieb Renoir Impressionist?

Um 1880 entwickelte Renoir Zweifel am Impressionismus. In Italien hatte er klar umrissene Figuren in den Fresken pompejanischer Villen und dem Werk Raffaels gesehen. Seine eigenen Bilder gefielen ihm nun nicht mehr. Später konstatierte er, 1883 habe es in seinem Werk einen Bruch gegeben. Ab da malte er keine atmosphärischen Schilderungen alltäglicher Szenen mehr. Für seine weiblichen Akte wählte er plastische Formen mit scharfen Umrissen nach dem Vorbild von Raffael und Ingres.

Wussten Sie, dass …

sich Renoir im Deutsch-Französischen Krieg 1870 freiwillig zu einem Kavallerieregiment meldete?

einer der drei Söhne von Aline und Auguste Renoir der berühmte Regisseur Jean Renoir war?

das Bild »Le Moulin de la Galette« heute im Pariser Musée du Jeu de Paume hängt?

Gaudís Sagrada Familia: Architektur in Harmonie mit Gott

Welche Bedeutung hatte das Projekt der »Sagrada Familia« für Gaudí?

Der geniale Architekt Antoni Gaudí y Cornet (1852–1926) hatte vor mehr als hundert Jahren die Bauleitung für die seither berühmteste Baustelle Barcelonas und das heutige Wahrzeichen der Stadt übernommen. Er widmete einen Großteil seines Lebens dem Traum, mit einem Sühnetempel die gesamte christliche Lehre in Stein zu bauen – als Ausdruck universaler Harmonie mit Gott. Weil sich Auftraggeber und Architekt verpflichteten, einen Sühnetempel zu bauen, der einzig und allein aus Spenden finanziert wird, ist der Bau bis heute nicht fertig gestellt worden.

Woran orientierte sich Gaudís Architektur?

Sein Lehrmeister war die Natur, die er nicht kopieren, sondern nach deren Gesetzen er in organischen Formen bauen wollte. Gaudí hatte nach einer Lehre als Kupferschmied in der aufstrebenden Großstadt Barcelona Architektur studiert. Ganz Katalonien war damals stark von einem neu erwachten Nationalismus geprägt. Damit verbunden war eine Verehrung der handwerklichen Kultur des Mittelalters, der großen Blütezeit des einst unabhängigen Katalonien. Gaudí griff diese Tendenz auf und setzte sie für die Entwicklung einer ganz neuen Art von Architektur ein.

Welche organischen Formen setzte Gaudí ein?

Gaudí entwickelte statt der Spitzbögen der Neugotik (die zur damaligen Zeit der moderne Trend war) parabelförmige Bogen, ersetzte neugotische Kapitelle durch pilzförmige Enden und entwarf Fassaden, die aus Haut, Knochen und Sehnen zu bestehen scheinen. Da Gaudí auch ein ausgezeichneter Konstrukteur war, fand er zu neuen, faszinierenden bautechnischen Lösungen: Anstelle des gotischen Systems der Strebepfeiler etwa, die er abfällig als »Krücken« bezeichnete, arbeitete er mit schräg gestellten Pfeilern, die sich »so wie der Baumstamm nach dem Gewicht des Laubwerks an seinen Ästen« in eine Richtung neigen.

Wer gab den Anstoß für den Bau der Kirche?

Die Idee kam von Josep María Bocabella, einem religiösen Buchhändler und Vorsitzenden einer Josefbruderschaft. 1881 beauftragte er den Architekten Francisco del Villar mit der Planung einer neugotischen Basilika. Nach Streitigkeiten wurde 1883 der erst 31-jährige Gaudí mit dem Weiterbau betraut. Gaudí erweiterte den Plan der Kirche zu einer fünfschiffigen Basilika mit insgesamt 18 Türmen. Nach Fertigstellung der von Villar begonnenen Krypta wandte er sich nach 1891 mit dem Bau der Apsis völlig von dessen Plänen ab. Nun entwickelte er – mit immer neuen Ideen und Plänen bis zu seinem Tod – einen Kirchenbau, der einzig in der Welt ist.

Welches Ziel verfolgte Gaudí mit dem Sakralbau?

Mittels organischer Formen sollte die gesamte christliche Lehre in Stein gebaut werden. Um einen 170 Meter hohen, zentralen Turm, der Christus symbolisiert, sind vier niedrigere Türme als Zeichen der vier Evangelisten gruppiert, ein weiterer über der Apsis steht für Maria. Je vier Türme über Haupt- und Seitenfassaden fügen sich zum Symbol der zwölf Apostel. Die Hauptfassade im Süden symbolisiert das Jüngste Gericht. Wände, Stützen und alle Details waren selbstredend »organisch« vorgesehen: als Felsstruktur, in Parabelform oder nach den täglich neuen Ideen des besessenen Architekten. Im Inneren wünschte Gaudí eine Empore für nicht weniger als 2200 Sänger. Vom Kreuzgang, den er umlaufend um die Kirche geplant hatte, um den Straßenlärm zu dämpfen, wurden nur zwei Portale ausgeführt. Auch von den vier Osttürmen war zum Zeitpunkt seines Todes erst einer vollendet.

Ist ein Ende der Bauarbeiten abzusehen?

Um die Mitte des dritten Jahrtausends, so heißt es heute, kann mit der feierlichen Einweihung gerechnet werden – wenn die Spendengelder aus aller Welt weiterfließen. Nach Gaudís unerwartetem Tod 1926 wurden die Arbeiten erst 1952 wieder aufgenommen. Der Bauleiter und Bildhauer Josep Subirachs kreierte nun in Gaudís Nachfolge die wenig überzeugenden Skulpturen der Westfassade mit der Passion Christi. Seither wächst langsam, aber sicher, der Rest der Kirche heran.

War Gaudí ein Besessener?

Was die Sagrada Familia angeht, auf jeden Fall: In den letzten zwölf Lebensjahren bis zu seinem Tod am 7.6.1926 infolge eines Trambahnunfalls ließ er jede Peseta in seinen Kirchenbau fließen. Der am 25.5.1852 im katalonischen Reus geborene Antoni Gaudí y Cornet hatte Architektur in Barcelona studiert. Von den vielen Ideen, die seiner Besessenheit von neuen Formen in der Architektur entsprangen, konnte er nur weniges verwirklichen. Auch von der ursprünglich für 60 Villen geplanten Gartenstadt des Park Güell entstand nur ein kleiner Teil, der nichtsdestotrotz zu den beliebtesten Attraktionen Barcelonas zählt.

Wussten Sie, dass …

Gaudí in seiner Kindheit unter einer rheumatischen Erkrankung litt? Manche Biografen glauben, dass dadurch, dass der Sohn eines Kesselschmieds nicht mit anderen Kindern herumtoben konnte, sein Blick für die Natur geschärft wurde und damit auch schon der Grundstein für seinen späteren Architekturstil gelegt wurde.

die katholische Kirche im Jahr 2000 ein Seligsprechungsverfahren für Gaudí eingeleitet hat?

Rodins Bürger von Calais: Ein Manifest menschlichen Opfermuts

Auf welches Ereignis bezieht sich die Skulptur?

Im Laufe des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich spielte die reiche Hafenstadt Calais eine wichtige Rolle. Nachdem der französische König Philipp VI. sie bereits aufgegeben hatte, leistete die Bürgerschaft den englischen Truppen ab Sommer 1346 erbitterten Widerstand. Die Belagerung dauerte ein Jahr, ehe die Vorräte der Stadt verbraucht waren und man zur Kapitulation bereit war. Englands König versprach, Calais zu schonen – unter der Bedingung, dass sechs der Edelsten barhäuptig, barfüßig und mit einem Strick um den Hals zu ihm kämen und ihm die Schlüssel der Stadt überreichten, bevor sie hingerichtet würden.

Sechs Patrizier der Bürgerschaft erklärten sich daraufhin bereit zum Opfertod, zogen sich bis aufs Hemd aus, legten sich einen Strick um den Hals und traten den Weg ins Feldlager der Engländer an. Als König Eduard sie dem Henker übergeben wollte, fiel die Königin vor ihm zu Boden, bat um Begnadigung der Männer und schenkte ihnen schließlich die Freiheit.

Was vermittelt Rodin in seiner Darstellung?

Rodin schildert in seinem 1884 bis 1886 entstandenen Werk weniger das historische Ereignis als vielmehr das allgemein Gültige eines Opfergangs, der entfernt an die Kreuztragung Christi erinnert. Wir sehen einzelne Gestalten, die sich allmählich zur Gruppe zusammenschließen und den Weg aus der Stadt antreten. Der Aufbruch bedeutet einen Abschied für immer. Aus den Gesichtern spricht Angst, Trauer und Verzweiflung. Ausgehungert und in langen, zerlumpten Büßerhemden vermitteln sie ein Bild der völlig verarmten Stadt Calais. Den Blick gesenkt, einen Strick um den Hals stehen sie wortlos wie vor dem Galgen, den sicheren Tod vor Augen.

Die Gruppe setzt sich aus sechs Männern unterschiedlichen Alters zusammen, die ihr schweres Schicksal individuell fühlen und ertragen und in ihrer eindrucksvollen Lebendigkeit differenzierte Charaktere ausbilden. Rodin hatte das Denkmal ausdrücklich ohne Sockel geplant, um jede Möglichkeit der heldenhaften Überhöhung zu vermeiden. Stattdessen zielte er bewusst auf das nachfühlende Erleben in nächster Nähe.

Wie sind die einzelnen Männer charakterisiert?

Was zunächst den Eindruck eines willkürlich zusammengesetzten Ensembles erweckt, das sich apathisch und unkoordiniert fortbewegt, ist bei genauerem Hinsehen das Ergebnis einer sorgfältig durchdachten Choreografie. Der greise, bärtige Eustache ganz in der Mitte der Gruppe stellte sich als Erster zur Verfügung. Es scheint, als habe er mit dem Leben bereits abgeschlossen: Gesenkten Hauptes sehen wir ihn hinter Jean d'Aire stehen, der die Schlüssel der Stadt in Händen hält. Kräftig, stämmig und trotzig will der sich mit seinem Schicksal noch nicht abfinden. In seiner Haltung und Mimik klingt der stolze Widerstand der Bürgerschaft von Calais nach. Einen Augenblick noch wartet d'Aire, bis die Übrigen zu den beiden aufgeschlossen haben. Rechts hinter ihm folgen zwei Männer. Ihnen ist die schiere Verzweiflung anzusehen. Einer schreckt zurück und fasst seine Hände über dem Kopf. Der andere kann die Situation noch nicht begreifen. Wie in Trance schreitet er vorwärts und hebt – für uns nicht sichtbar – stumm gestikulierend seinen rechten Arm, während seine Linke – ebenfalls verdeckt – einen der Stadtschlüssel umfasst. Das Schlusslicht bilden zwei jüngere Männer, deren Ausdruck Ohnmacht und Empörung zeigen – sie hätten noch ihr ganzes Leben vor sich. Anrührend ist vor allem der schmerzerfüllte Ausdruck des Letzten, der sich noch einmal zu den Zurückbleibenden umwendet, ohne sie anzuschauen. Doch auch diese beiden drehen sich und folgen dem Zug der Todgeweihten.

Existiert die Plastik von Rodins »Bürgern von Calais« nur einmal?

Nein, Rodins »Bürger von Calais«, die erst auf Ablehnung stießen, gab es dann bald in mehreren Abgüssen. So bat die englische Regierung um eine Bronzereplik, die 1913 am Themseufer vor dem Parlament aufgestellt wurde – als einen Akt der Versöhnung angesichts der erforderlichen Allianz mit Frankreich im bevorstehenden Ersten Weltkrieg. Weitere Abgüsse in Originalgröße gingen 1903 nach Kopenhagen, 1905 in den Schlosspark des belgischen Mariemont, 1925 nach Philadelphia, 1948 in den Ehrenhof des Basler Kunstmuseums, 1953 nach Washington, 1959 nach Tokio und 1967 nach Los Angeles. Rodins Werk, das bürgerliche Ideale anspricht, an den Gemeinschaftssinn und die Verantwortung des Einzelnen appelliert, hatte auf diese Weise wahrhaft globale Auswirkungen.

Wussten Sie, dass …

der berühmte Lyriker Rainer Maria Rilke von 1905 bis 1906 Rodins Sekretär war?

Rodin Mitglied eines christlichen Ordens war? Als 1862 seine Schwester starb, traf ihn das so sehr, dass er dem Orden Pères du Saint-Sacrament beitrat. Dieser bewies jedoch Weitblick und stellte ihn sofort für den Rest seines Lebens für seine Künstlertätigkeit frei.

Dr. Robert Miehe
Wissenschaft

„Wir verbinden die Digitalisierung mit der Biotechnologie“

Fraunhofer-Experte Robert Miehe erklärt, wie Forscher einen nachhaltigen Wandel in der Wirtschaft voranbringen wollen. Das Gespräch führte RALF BUTSCHER Herr Miehe, um fossile Rohstoffe zu sparen und zu einer Kreislaufwirtschaft zu gelangen, ist oft von einer Bioökonomie die Rede. Was ist das? Die Bioökonomie ist ein Begriff, der...

Palm_tree_at_the_hurricane,_Blur_leaf_cause_windy_and_heavy_rain
Wissenschaft

Mehr Klarheit beim Klima

Computersimulationen gehören zu den wichtigsten Werkzeugen der Klimaforschung. Sie werden ständig weiter entwickelt – auch mit Künstlicher Intelligenz. von THOMAS BRANDSTETTER Die Computersimulationen der Klimaforscher haben gigantische Ausmaße angenommen. Auf Supercomputern mit einer Unmenge an Daten versuchen die...

Mehr Artikel zu diesem Thema

Weitere Lexikon Artikel

Weitere Artikel aus dem Wahrig Synonymwörterbuch

Weitere Artikel aus dem Wahrig Fremdwörterlexikon

Weitere Artikel aus dem Wahrig Herkunftswörterbuch

Weitere Artikel aus dem Wahrig Herkunftswörterbuch

Weitere Artikel aus dem Bereich Gesundheit A-Z

Weitere Artikel aus dem Vornamenlexikon