Sie rechnen schneller als ein Taschenrechner oder reproduzieren detailgetreue Stadtpanoramen nach nur einmaligem Sehen. Gleichzeitig aber können diese Menschen alltäglichste Dinge nicht bewältigen: Sie sind „Savants“, Menschen, die an Autismus leiden, aber dennoch einzelne Fähigkeiten besitzen, die wie eine Insel des Genialen aus ihren Behinderungen herausragen. Allerdings: Sie sind allerdings die absolute Ausnahme unter den rund 67 Millionen Menschen mit autistischen Entwicklungsstörungen. Der Welt-Autismus-Tag am 2. April macht auf das Phänomen des Autismus und die Betroffenen aufmerksam.
„Idiots savants“
Das Phänomen von Inselbegabungen ist nicht neu. Die erste historische Beschreibung eines Savants - wenngleich noch nicht unter dieser Bezeichnung - stammt bereits aus dem Jahr 1789. Der amerikanische Arzt und Humanist Benjamin Rush berichtet darin über eine Begegnung mit Thomas Fuller, einem afrikanischen Sklaven, der unerklärlich gute Rechenfähigkeiten besaß, aber ansonsten stark zurückgeblieben war. „Er verstand praktisch gar nichts, weder theoretisch noch praktisch“, schreibt Rush. Wenn Fuller aber gebeten wurde, auszurechnen, wie viele Sekunden ein Mann gelebt hätte, der 70 Jahre, 17 Tage und zwölf Stunden alt ist, gab er innerhalb von nur eineinhalb Minuten die korrekte Antwort von 2.210.500.800 Sekunden und hatte dabei sogar die 17 Schaltjahre mit einberechnet.
Eine Palette von Fähigkeiten
In der wissenschaftlichen Welt tauchen Beispiele für diese Art der besonderen Begabungen erst rund hundert Jahre später auf, in Beschreibungen des britischen Neurologen John Langdon Down, der auch als erster das nach ihm benannte Down-Syndrom detailliert charakterisiert hatte. Er berichtet von zehn Fällen, die er in seiner 30-jährigen Laufbahn im Earlswood Asyl untersucht hatte und bezeichnet sie als „idiots savants“ – abgeleitet vom französischen Wort für „wissen“ – savoir. In abgewandelter Form ist Downs Wortschöpfung bis heute als „Savant-Syndrom“ erhalten geblieben, der offiziellen Bezeichnung für diese Inselbegabungen.
Viele solcher Savants besitzen ungewöhnliche musikalische, mathematische oder mechanische Fähigkeiten und besitzen ein sehr gutes Gedächtnis für bestimmte Details. Zu ihnen gehören Musiker wie der blinde Leslie Lemke, der ganze Sinfonien nach nur einmaligem Hören auf dem Klavier nachspielt, Künstler wie Jonathan Lerman, aber auch Stephen Wiltshire, der akkurate Städtepanoramen aus dem Gedächtnis zeichnet oder Alonso Clemons, der lebensechte Skulpturen modelliert. Bekannt sind auch Mathematikgenies wie Daniel Tammet, der im Jahr 2004 erstaunliche 22.514 Dezimalstellen der Kreiszahl Pi aus dem Kopf rezitierte und damit einen europäischen Rekord aufstellte.
Blind Tom
Eine ungewöhnliche musikalische Begabung sorgte auch während des amerikanischen Bürgerkriegs für Aufsehen. Thomas Wiggins wurde 1850 als Kind mit seinen Eltern als Sklave an den Rechtsanwalt James Bethune verkauft und wuchs auf dessen Plantage in Georgia auf. Von Geburt an blind, begann der Kleine schon mit vier Jahren, Melodien nachzuspielen und komponierte mit fünf sein erstes eigenes Musikstück. Auf sein Talent aufmerksam geworden, engagierte Bethune einen Musiklehrer für den Jungen, von dem dieser innerhalb von zwei Jahren mehr als 7.000 Musikstücke lernte. Schon nach einmaligem Hören konnte er ein beliebiges Stück nahezu fehlerlos reproduzieren.
Als „Blind Tom“ trat er bald in Konzerten auf und spielte 1860 sogar im Weißen Haus vor dem amerikanischen Präsidenten James Buchanan. Als „achtes Weltwunder“ gefeiert, unternahm er mit 16 Jahren sogar eine Welttournee. Doch trotz seiner musikalischen Begabung umfasste sein sprachliches Vokabular kaum hundert Wörter, er sprach von sich nur in der dritten Person: „Tom freut sich Sie zu sehen“ und trat mit anderen kaum in Kontakt.
Autismus und Asperger – Ursachen noch immer rätselhaft
Mehr als hundert Jahre später charakterisiert der Neurologe Oliver Sacks in seinem Buch „Ein Anthropologe auf dem Mars“ „Blind Tom“ als eindeutig autistisch: „Obwohl Tom damals normalerweise als Idiot oder Verrückter bezeichnet wurde, sind sein Verhalten und seine Stereotypien eher charakteristisch für Autismus - aber dieser war 1860 weder als Begriff noch als Konzept bekannt.“ Denn erst 1940 erkannten zwei Forscher, der Kinderpsychiater Leo Kanner in Baltimore und der Kinderarzt Hans Asperger in Wien, durch eine halbe Erdkugel getrennt und trotzdem fast zeitgleich, diese Entwicklungsstörung als ein eigenes Syndrom. Sie tauften es „Autismus“ vom griechischen Begriff „autos“ für „selbst“ abgeleitet und charakterisierten die von ihnen untersuchten Kinder als gefangen in eigenen Welten, unfähig zum Kontakt mit der Außenwelt. Heute sprechen Experten von Störungen des Autismus-Spektrums oder einer „Autistischen Entwicklungsstörung“ (PDD).
Kinder mit diesen Störungen entwickeln oft schon als Kind zwanghafte Rituale, essen nur bestimmte Dinge und haben oft Bewegungsstörungen. Auf Überfrachtung mit Sinneseindrücken reagieren sie mit Panik und Rückzug und wehren sich oft gegen jede Berührung. Je nach Ausprägung des Autismus können die Kinder geistig behindert sein, aber auch, wie beim Asperger-Syndrom, geistig normal-, teilweise sogar hochintelligent. Besonders Hochbegabt in einem Gebiet sind aber nur die wenigsten vomn ihnen. Nur rund 50 Menschen weltweit, so schätzen Forscher, gehören zu den hochtalentierten Savants - Menschen mit mehr oder weniger starken geistigen, sozialen und körperlichen Einschränkungen, die aber außergewöhnliche Fähigkeiten auf eng umgrenzten Gebieten besitzen.
Die Ursachen für Autismus und die Begabungen der Savants sind bis heute kaum geklärt. Zwar scheinen Gene eine Rolle zu spielen, sie allein können das Vorkommen dieses Phänomens aber nicht erklären.
Mehr zum Thema im scinexx-Dossier: "Das Rätsel der Savants"
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