Lexikon

Geschichte

Historie
der zeitliche Ablauf allen Geschehens in Natur und Gesellschaft; im engeren Sinne der Prozess der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und der in ihr handelnden Gruppen und Individuen sowie die damit verbundenen Ereignisse und Zustände.
Geschichte wird erforscht durch die Geschichtswissenschaft, eine geisteswissenschaftliche bzw. sozialwissenschaftliche Disziplin, die die Vergangenheit mittels der Geschichtsschreibung darstellen will. Ihre Grundlage sind Überlieferungen aller Art, die sie kritisch mit den verschiedenen ihr zur Verfügung stehenden Methoden auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Aussagefähigkeit überprüft. Gegenstand der geschichtswissenschaftlichen Forschung ist alles vergangene Geschehen, vor allem die Gemeinschaftsbildungen der Menschen, wie Staaten, Nationen, Klassen, Institutionen, sowie wirtschaftliche Entwicklungen und Verhältnisse, die Entwicklung und Wirkung von Ideen, das Handeln einzelner Persönlichkeiten und sozialer Gruppen. Ziel der Geschichtswissenschaft ist es, die geschichtlichen Tatbestände möglichst genau festzustellen, in Zusammenhänge, Entwicklungen und Wirkungen einzuordnen sowie je nach geschichtswissenschaftlicher bzw. geschichtsphilosophischer Position des Historikers Gesetzmäßigkeiten, Tendenzen, Typen oder Besonderheiten der geschichtlichen Entwicklung herauszuarbeiten.
Im Laufe ihrer Entwicklung hat sich die Geschichtswissenschaft in verschiedene Bereiche aufgegliedert und spezialisiert: strukturell z. B. in Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, politische Geschichte, Kulturgeschichte, Rechtsgeschichte, Kirchengeschichte, Geschichte der Arbeiterbewegung, räumlich in Weltgeschichte, Geschichte einzelner Staaten und Völker, Landes- und Regionalgeschichte, Stadtgeschichte, zeitlich in Vor- und Frühgeschichte, alte Geschichte, mittelalterliche Geschichte, Geschichte der Neuzeit, Zeitgeschichte.
Eine einheitliche historische Methode wie noch im 19. Jahrhundert gibt es nicht mehr. Die moderne Geschichtswissenschaft bedient sich vielmehr einer Vielzahl von Methoden. Grundlage der Arbeit bildet aber nach wie vor die philologisch-quellenkritische (= historische) Methode zur Untersuchung der schriftlichen und sachlichen Überlieferung (Quellen) auf Echtheit und Zuverlässigkeit, Entstehungszeit und -ort, Anlass und Urheber, Absicht und Verbindung mit anderen Quellen. Zur Erforschung der Quellen bedient sich die Geschichtswissenschaft der so genannten Hilfs- oder Grundwissenschaften wie Quellenkunde, Paläographie, Diplomatik, Heraldik, Sphragistik, Numismatik, Chronologie, Genealogie, historische Landeskunde. Daneben sind auch Rechts-, Sozial-, Wirtschafts- und Sprachgeschichte Grundwissenschaften der Geschichtswissenschaft. Für die neuere Geschichte treten moderne Aktenkunde, Geschichte der Publizistik, historische Statistik und historische Demographie hinzu.
Die moderne Geschichtswissenschaft entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts in enger Verbindung mit der kritischen Philologie, als B. G. Niebuhr und L. von Ranke die seit dem 17. Jahrhundert in Theologie, Philologie und Geschichtsschreibung betriebene Quellenkritik in systematischer Weise auf die geschichtswissenschaftliche Forschung übertrugen und ihre Schüler entsprechend ausbildeten. Mit Hilfe der Quellenkritik wollte Ranke zu einem objektiven Bild der Vergangenheit gelangen u. zeigen, „wie es wirklich gewesen ist“. Die auf Ranke aufbauende Praxis der Geschichtswissenschaft wird allgemein als Historismus bezeichnet, obwohl die geschichtsphilosophische und -theoretische Begründung des Historismus erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte. Die am Historismus orientierte Geschichtswissenschft war vor allem in Deutschland bis in die Mitte des 20. Jahrhundert maßgebend. Kennzeichnend für diese Art der Geschichtsschreibung war die Betonung der Einmaligkeit des geschichtlichen Geschehens, die Ablehnung von Gesetzmäßigkeiten und die Konzentration auf politische Geschichte und Ideengeschichte. Kulturgeschichte und Wirtschafts- und Sozialgeschichte wurden eher außerhalb der historischen Institute betrieben.
Der starke Einfluss, den der Historismus anfangs auch auf die Geschichtswissenschaft in Westeuropa und in den USA hatte, wurde bis Ende des 19. Jahrhunderts zurückgedrängt durch die Weiterentwicklung des kulturgeschichtlichen Ansatzes der Aufklärung (J. Burckhardt „Die Kultur der Renaissance in Italien“ 1860; J. Huizinga „Herbst des Mittelalters“ 1919), durch den Positivismus (A. Comte, H. T. Buckle, W. Bagehot, H. Adams, H. Taine) u. durch marxistische Einflüsse. Die „New History“ in den USA versuchte, geschichtswissenschaftliche Analysen mit politischen Wertungen zu verbinden. Sie stellte sich damit bewusst in den Dienst einer politischen Reformbewegung und wandte sich verstärkt der Wirtschafts-, Sozial- und Geistesgeschichte zu (C. Beard „Economic interpretation of the constitution“ 1915). Eine ähnliche Annäherung an Gegenstände und Arbeitsweisen der Sozialwissenschaften vollzog in Frankreich die Schule der „Annales“ seit 1920. Statt sich an den politischen Ereignissen (histoire événémentielle) zu orientieren, wollten L. Febvre u. M. Bloch die Wurzeln der historischen Erscheinungen (histoire profonde) und die stabilen geographischen und institutionellen Strukturen (histoire de la longue edurée) untersuchen (F. Braudel: „La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II“ 1949) oder Kollektivmentalitäten erforschen. In der Sowjetunion und den Staaten ihres Machtbereichs war der historische Materialismus die einzige geschichtsphilosophische bzw. theoretische Grundlage der Geschichtswissenschaft. Sie wurde in entscheidendem Maße von der Partei- und Staatsführung beeinflusst, die ihr Aufgaben zuwies und durch Parteitage, ZK-Resolutionen und Leitartikel in der Parteipresse richtungweisend auf Auswahl und Deutung historischer Probleme einwirkte.
Nach dem 2. Weltkrieg gelang der sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise in der Geschichtswissenschaft Westeuropas und der USA ein weitgehender Durchbruch. Damit wurde die Dominanz der politischen Nationalgeschichte gebrochen. In zunehmendem Maße wandte die Geschichtswissenschaft z. B. quantifizierende und vergleichende Methoden zur Analyse politischen Verhaltens, der Klassenschichtung oder des Wirtschaftswachstums an. In der Bundesrepublik Deutschland begannen sozial- u. strukturgeschichtliche Fragestellungen seit Ende der 1960er Jahren relevant zu werden (vor allem durch H.-U. Wehler u. J. Kocka). Marxistische Ansätze und Erklärungsmuster fanden bzw. finden sich in Westeuropa vor allem in der französischen und englischen Geschichtswissenschaft, etwa bei der Ursachenerklärung der Französischen Revolution oder der Analyse von Klassenkonflikten, ohne dass deshalb das System des historischen Materialismus als Ganzes übernommen wurde.
In den letzten Jahrzehnten sind poststrukturalistische und diskurstheoretische Ansätze für die Geschichtswissenschaft wichtig geworden. In diesem Zusammenhang entwickelten sich neue Forschungsschwerpunkte: Alltagsgeschichte, die mündliche Überlieferungen auswertet (englisch Oral History), Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte, die sog. Neue Kulturgeschichte (engl. New Cultural History), die anthropologische sowie kommunikations- und zeichentheoretische Mittel in die historische Forschung integriert.
Die Geschichtsschreibung als Darstellung der G. (Historiographie) findet sich bereits in der Antike; zuerst machte die griechische Geschichtsschreibung den Versuch, über die Überlieferung bloßer Tatsachen hinaus eine zusammenhängende deutende Darstellung zu geben. Herodot erzählte die Geschichte der Perserkriege. Thukydides wurde durch seine Geschichte des Peloponnesischen Krieges der Schöpfer der historischen Monografie. Grundform der ältesten römischen Geschichtsschreibung war die Annalistik. (Annalen). Neben sie trat später die historische Monografie (Sallust) und die Biografie (Plutarch und Sueton). Höhepunkt ist die Geschichtsschreibung des Tacitus. Wesentliche Elemente der antiken Geschichtsschreibung sind die künstlerische Form, die Lehrhaftigkeit und sehr oft die tätige eigene Erfahrung der Geschichtsschreiber.
Die byzantinische Geschichtsschreibung führte die Traditionen der Antike fort und bildete als weitere Form die Chronik heraus, die die Ereignisse in größeren Zeitabschnitten darstellte. Sie wurde geprägt von Eusebios von Cäsarea (um 300) unter christlichem Einfluss.
Die mittelalterliche Geschichtsschreibung gründete sich auf die Auffassung von einer einzigen und endlichen Welt. Sie war in der Hauptsache ein Werk von Geistlichen u. in lateinischer Sprache geschrieben. Die Weltchroniken stellten die Geschichte des Volkes Gottes von der Schöpfung bis zum Jüngsten Tag dar (Höhepunkt: Otto von Freising). Die mittelalterliche Annalistik wurde vor allem in den Klöstern gepflegt. Ihr bedeutendstes Beispiel sind die fränkischen Reichsannalen. Die Lebensbeschreibung Karls des Großen von Einhard ist die bedeutendste mittelalterliche Biografie. Weitere Formen der Geschichtsschreibung waren die Gesta (Taten), d. h. Darstellungen von Bistums-, Kloster-, Kreuzzugs-, Landesgeschichten u. a., sowie die Landes-, Stadt- und Hauschroniken des späten Mittelalters.
Der Humanismus bereitete den Boden für die Geschichtsschreibung der Neuzeit. Von Nicht-Geistlichen getragen, wandte sie sich weltlich-politischen Interessen zu. Neben die humanistische Annalistik in antiker Tradition trat besonders die Biografie. Ihren Höhepunkt ereichte die italienisch-humanistische Geschichtsschreibung in N. Machiavelli und F. Guicciardini, mit denen die moderne politische Staatengeschichtsschreibung begann. Vom Humanismus unabhängige Formen entstanden in der französischen Memorialistik (P. de Commines), in der englischen Parteigeschichtsschreibung (Lord Clarendon) und der deutschen reichspublizistischen Geschichtsschreibung (S. von Pufendorf).
Das Zeitalter der Glaubenskämpfe stand im Zeichen konfessionell-polemischer Geschichtsdarstellungen. Die bedeutendsten Werke dieser Zeit waren die „Histoire des variations des églises protestantes“ von J.-B. Bossuet und G. Arnolds „Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie“ (1699/1700).
Die Geschichtsschreibung der Aufklärung begründete eine als Kulturhistorie verstandene säkularisierte Universalgeschichte, die weniger auf Verständnis der Vergangenheit als auf Belehrung der Gegenwart zielte. Vorbild war Voltaires „Essai sur les mœurs et lesprit des nations“ (1765). Von der französischen Aufklärungshistorie ging eine starke Wirkung auf die englische Geschichtsschreiber (D. Hume, E. Gibbon u. a.) aus. Die deutsche Geschichtschreibung dieser Zeit wurde im Wesentlichen von Gelehrten und Professoren mit dem Schwerpunkt in Göttingen getragen (J. C. Gatterer, A. L. Schlözer, L. T. von Spittler, A. Heeren u. a.).
Ihren größten Aufschwung nahm die Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert durch das neue Denken des Historismus und auf der Grundlage der Methoden der philologischen Quellenkritik (L. von Ranke, A. de Tocqueville, T. B. Macaulay). Das Schwergewicht verlagerte sich auf die politische Geschichtsschreibung (Macaulay, H. von Treitschke, G. Guizot). Trotz des Anspruchs auf Objektivität und quellennahe Darstellung konnte die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ihre Verbundenheit mit den politischen Strömungen und Kämpfen der Zeit nicht verleugnen. In Deutschland wurde J. G. Droysen zum Begründer der borussischen Schule, die Preußens Anspruch auf die Führung in Deutschland aus der Geschichte zu rechtfertigen suchte. H. von Treitschke, der wichtigste Vertreter dieser Schule, übte mit seiner Geschichtsschreibung großen Einfluss auf das Geschichtsbild des deutschen Bürgertums im Kaiserreich aus. Die Tradition der politischen Geschichtsschreibung hat sich in Deutschland von der borussischen Schule über die so genannten Neurankeaner (M. Lenz, W. Marcks, H. Oncken) und die gegen die Kriegsschuldthese kämpfenden Historiker der Weimarer Republik bis über den 2. Weltkrieg behaupten können. Das Gleiche gilt für die von F. Meinecke begründete Ideengeschichte. Dagegen hatten andere Bereiche der Geschichtsschreibung, z. B. die Kulturgeschichtsschreibung K. Lamprechts und K. Breysigs und die Sozialgeschichtsschreibung, einen schweren Stand.
Die Anfänge einer marxistischen Geschichtsschreibung in Deutschland gehen auf F. Engels zurück; ihre Hauptvertreter vor dem 1. Weltkrieg waren F. Mehring und E. Bernstein. Durch die Anwendung der quellenkritischen Methode war die Geschichtsschreibung im herkömmlichen Sinn auf neue Grundlagen gestellt und zur Geschichtswissenschaft geformt worden, behielt aber immer noch einen künstlerischen oder publizistischen Einschlag.
Von J. G. Droysen („Historik“) stammt die theoretisch-systematische Einteilung in untersuchende und erzählende Darstellung, die für die Geschichtsschreibung der Moderne charakteristisch wurde. Die im 19. Jahrhundert dominierende nationalgeschichtliche Monografie verlor nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts viel von ihrer Anziehungskraft. Das Schwergewicht verlagerte sich auf die problemgeschichtliche Monografien. Darin wurden diplomatiegeschichtliche, ideengeschichtliche und später in zunehmendem Maße wirtschafts- u. sozialgeschichtliche sowie ökologie- und naturgeschichtliche Probleme erörtert. Auch die biografische Geschichtsschreibung verlor, insbesondere in Deutschland, im Zuge der Konzentration auf sozial- und strukturgeschichtliche Fragestellungen, an Einfluss. In den letzten Jahrzehnten fand hier allerdings eine Neubewertung statt. Neben der Inividualbiographik erlebte auch die kollektive Biographik, d. h. die Beschreibung von Lebensläufen bestimmter politischer und sozialer Gruppen, einen Aufschwung, wurde sie doch immer mehr als Bindeglied zwischen Struktur- und Ereignisgeschichte angesehen.
Die Welt- oder Universalgeschichte als Darstellung einer Geschichte der Menschheit blieb im 20. Jahrhundert zwar erhalten, sie folgte aber nicht mehr einer einheitlichen Interpretation, sondern erschien als Sammelwerk verschiedener Autoren (z. B. „Fischer Weltgeschichte“). Im Rahmen der Globalisierung und unter Berücksichtigung eines multikulturellen Gesellschaftsbegriffs erfolgte in jüngster Zeit v. a. in den USA eine Neuperspektivierung der universalhistorischen Geschichtsschreibung in Richtung auf eine neue Weltgeschichte („New Global History“) hin. Diese Neuperspektivierung ist gekennzeichnet durch die Erarbeitung eines globalen Epochenzusammenhangs über die Beschreibung weltweit wirksam werdender Phänomene (z. B. demographische Entwicklungen, Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen, Internationalisierung des Terrorismus, Internationalisierung des Wirtschafts- und Finanzsystems, Internationalisierung von Kommunikation via Internet).
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