Lexikon

Sexualitạ̈t

[lateinisch]
Geschlechtlichkeit
allgemein die mit der Existenz zweier unterschiedlicher Geschlechter einhergehenden körperlichen Erscheinungen und alle Verhaltensweisen, die im weiteren Sinne auf geschlechtliche Lust und Befriedigung abzielen, im engeren Sinne auf geschlechtliche Fortpflanzung gerichtet sind. Der biologische Sinn von Sexualität besteht in der Vereinigung zweier Geschlechtszellen und der damit verbundenen Vermischung von mütterlichen und väterlichen Erbanlagen (Genen), durch die eine Neukombination der Gene und damit auch der Merkmale erfolgt neues Material, um unter vielleicht veränderten Umweltbedingungen im Kampf ums Dasein (Evolution) bestehen zu können. Dabei nimmt die Sexualität des Menschen insofern eine Sonderrolle ein, als sinnliche Lustgewinn vielfach die Fortpflanzung als Ziel von Sexualität abgelöst hat und die Ausprägung seiner Sexualität in wesentlichen Teilen geistig u. psychisch gegründet und ein Ausdrucksmittel für Liebe und Paarbindung ist.
Der Vorgang der geschlechtlichen Fortpflanzung ist bei den Pflanzen und Tieren in ihren Grundelementen vergleichbar: Zwei Keimzellen verschiedenen Geschlechts verschmelzen und bilden eine Zygote. Da mit der Befruchtung eine Verdoppelung der Chromosomenzahl verbunden ist, wird zu einem bestimmten Zeitpunkt der Individualentwicklung eine Reifeteilung (Meiose) zur Reduktion der Chromosomenzahl erforderlich. Der Zeitpunkt der Reifeteilung ist bei den verschiedenen Organismen unterschiedlich und vielfach mit einem Generationswechsel verbunden.
Damit es zu einer Befruchtung kommen kann, müssen Geschlechtspartner zum richtigen Zeitpunkt zusammenkommen. Vor allem bei getrennt geschlechtlichen Landtieren erfolgt eine Besamung während eines körperlichen Kontaktes. Bei der inneren Besamung überträgt das Männchen mit dem Penis oder einem analogen Organ die Spermien auf das Weibchen. Bei vielen Wasserbewohnern erfolgt die Befruchtung außerhalb des Körpers. Sowohl Männchen als auch Weibchen geben ihre Keimzellen in das Wasser ab, wo dann die Befruchtung stattfindet (z. B. beim Frosch).
Zur Partnerfindung und als Auslöser der Paarungsbereitschaft werden von den Organismen die vielfältigsten Formen der Signalgebung verwirklicht: optische (z. B. die Balz der Vögel oder die synchrone Freisetzung der Keimzellen der Braunalge Ectocarpus bei Lichtbeginn), akustische (z. B. artspezifisches Quaken bei Fröschen) und chemische (Gamone, Pheromone). Die Zeichen der Partnerfindung sind streng artspezifisch. Oft entscheidet eine bestimmte Folge verschiedener Signale über die Paarungsbereitschaft. Viele Pflanzen sind außerdem auf Fremdhilfe (Insekten, Wind) angewiesen, damit es zu einer Befruchtung kommen kann.
Beim
Menschen
sind die biologischen Gegebenheiten der Sexualität Voraussetzungen für Funktionen, die über die Fortpflanzung hinausgehen. Neben der lustvollen Befriedigung sexueller Bedürfnisse zeichnet sich die menschliche Sexualität auch durch den Aspekt der Erotik aus, die auf Grund subjektiven psychischen und physischen Erlebens eine umfassende Sensibilisierung bewirkt, die über reine Bedürfnisbefriedigung hinausgeht und im Dienste von Liebe und Paarbindung steht.
Beispielsweise ist die Klitoris der Frau ein Organ, das für die Fortpflanzung keine Rolle spielt, sondern starke Lustempfindungen hervorbringt. Sexuelle Erregung beim Menschen ist nicht wie im Allgemeinen beim Tier auf bestimmte Zeiten festgelegt, sondern kann jederzeit herbeigeführt werden. Sie ist von subjektiven Sinnesempfindungen wie z. B. dem Anblick einer bestimmten Person beeinflusst. Insbesondere zärtliche Berührungen können sexuell erregend wirken. Dabei reagieren Frauen und Männer weitgehend gleich. Im Körper zeigen sich bestimmte physiologische Veränderungen, vor allem kommt es zum Ansteigen des Blutdrucks und zu erhöhter Durchblutung im Becken- und Genitalbereich. Bei einer Steigerung der Erregung entlädt sich die Spannung und auch die Blutansammlung in nicht steuerbaren Muskelkontraktionen, die subjektiv lustvoll erlebt werden, dem Orgasmus. Beim Mann kommt es dabei zur Ejakulation, bei der Sperma und Samenflüssigkeit ausgestoßen werden.
Während Sexualität bei den meisten Tieren eine reine Instinkthandlung ist, die artspezifisch stereotyp abläuft, ist die Sexualität des Menschen sehr viel variantenreicher u. individueller Ausdruck seiner Persönlichkeit. Nach der sexuellen Orientierung lassen sich folgende Hauptvarianten von Sexualität unterscheiden: Die Selbststimulierung oder Masturbation lernen die meisten bereits als Kinder kennen. Beim erwachsenen Menschen richtet sich das sexuelle Interesse im Allgemeinen auf Partner des anderen (Heterosexualität) oder gleichen (Homosexualität) Geschlechts. Dabei ist die Heterosexualität am weitesten verbreitet. Der Grund dafür ist offensichtlich, dass der Geschlechtsverkehr mit einem anders geschlechtlichen Partner die einzige Praxis ist, die zur Befruchtung führen kann und daher das Überleben der Art sichert.
Es gibt Verhaltensformen, die auf Objekte außerhalb der von der jeweiligen Kultur geprägten Norm zielen oder mit nicht akzeptierten Handlungsweisen verbunden sind; im Abendland z. B. Voyeurismus, Fetischismus, Sadismus, Masochismus und Transvestitismus. Die Sexualwissenschaft spricht in diesen Fällen von abweichendem Sexualverhalten. Normen und Standards ebenso wie Abweichungen menschlichen Sexualverhaltens können aber nicht allgemein verbindlich formuliert werden. Innerhalb der abendländischen Kultur werden sie von den Kirchen, Gesetzgebern und der Medizin verschieden definiert und wandeln sich erst recht in verschiedenen Kulturen und im Ablauf der Geschichte.
In jeder Gesellschaft regeln Institutionen und Normen das sexuelle Verhalten, vor allem die jeweils gültige Form der Ehe (Monogamie, Polygamie oder Gruppenehe), aber auch das Bestehen oder Nichtbestehen von Verboten gegenüber vor- und außerehelicher Sexualität, Homosexualität u. a. Trotz allen sonstigen Verschiedenheiten gilt in jeder bekannten Gesellschaft das Inzesttabu. Da das Inzesttabu zur Wahl von Sexualpartnern außerhalb der eigenen Familie zwingt, hat es entscheidende Bedeutung für den Zusammenhalt größerer menschlicher Gruppen.

Psychologie

Durch die Intensität, mit der sie erlebt wird, die Vielfalt ihrer Formen und ihre Beziehungen zu allen anderen Lebensbereichen prägt die Sexualität die gesamte menschliche Existenz. Sie bildet daher einen wichtigen Gegenstand der Humanwissenschaften. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts übte vor allem die Psychoanalyse großen Einfluss über die Grenzen der Wissenschaft hinaus aus. Die psychoanalytische Sexualtheorie geht von einer ursprünglichen psychologischen Bisexualität des Menschen aus: Das physische Geschlecht bestimmt nicht automatisch das sexuelle Verhalten, sondern das Individuum identifiziert sich während der ersten Lebensjahre mit einer Rolle. Dieser Prozess ist unterschiedlich beschrieben worden; nach S. Freud beschäftigten sich u. a. A. Freud und Melanie Klein mit der kindlichen Sexualentwicklung.
Für die Sexualität des Kindes sind im Sinne der klassischen Psychoanalyse zwei Faktoren ausschlaggebend: die Entdeckung des Geschlechtsunterschieds und die Beziehung zu seinen Eltern, auf die sich seine ersten sexuellen Wünsche richten und für deren Wunschobjekt es sich in seinen Fantasien hält. Die Grundlagen der Sexualität des Erwachsenen werden in dieser frühen Phase durch die Erfahrung gelegt, dass sich die Eltern den kindlichen Wünschen versagen. Das Kind muss seine ersten sexuellen Wünsche verdrängen; dadurch können die Eltern von Wunschobjekten zu Idealfiguren werden. Nur durch die Identifikation des Kindes mit den Geschlechtsrollen von Vater und Mutter wird es möglich, dass sich die Sexualität später auf Personen außerhalb der eigenen Familie richtet; durch den Verlust seiner ersten Objekte erlangt das menschliche Verlangen eine Beweglichkeit, die seine Sublimation, seine Richtung auf nicht sexuelle Ziele erlaubt. In ihr sieht die Psychoanalyse eine Bedingung aller menschlichen Kultur. Die ursprünglich infantilen Wünsche bleiben jedoch im Unbewussten erhalten. Sie äußern sich u. a. in Träumen und Fehlleistungen. Die Interpretation dieser Phänomene führte zur Einsicht in die engen Beziehungen normaler psychologischer Vorgänge zu psychologischen Störungen wie den Neurosen sowie zu von der normalen Sexualität abweichenden Verhaltensweisen. Die Feststellung, dass sich im psychologischen Leben des Erwachsenen die sexuellen Probleme des Kindes wiederholen, brachte viele Psychoanalytiker zu der Annahme, der Mensch könne die Probleme seiner eigenen Sexualität nie endgültig lösen. Viele der umstrittenen Hypothesen Freuds und seiner Nachfolger konnten bis heute durch empirische Sexualforschung widerlegt bzw. nicht bestätigt werden.

Kulturgeschichte

In der europäischen Kulturgeschichte waren sowohl die verschiedenen sexuellen Praktiken und Normen als auch die theoretischen Auffassungen von der Sexualität vielen Veränderungen unterworfen. Die Antike kannte die monogame Ehe, aber weder eine dem heutigen Begriff entsprechende einheitliche Vorstellung von Sexualität noch eine spezifische Sexualmoral. Das sexuelle Verhalten der freien Männer (nicht der Frauen und der Sklaven) orientierte sich mit Ausnahme des Inzestverbots kaum an strengen Normen. Wie in fast allen nicht monotheistischen Kulturen spielte die Sexualität eine bedeutende Rolle in der antiken Religion. Erst in der stoischen Ethik der ersten nachchristlichen Jahrhunderte und in den an sie anschließenden Lehren des frühen Christentums bildete sich die Vorstellung des im Widerspruch zur Geistnatur des Menschen stehenden „Fleisches“ heraus. Sexualität wurde in fast allen Formen als „Wollust“ verdammt. Sexuelle Beziehungen wurden nur in der Ehe und nur zur Erzeugung von Nachkommen toleriert; ihnen stand als Ideal die Jungfräulichkeit gegenüber. Auf diesen Vorstellungen aufbauend, entwickelte die Theologie des Mittelalters eine juristisch systematisierte Sündenvorstellung. Diese Vorstellung wirkte sich in der Realität nur z. T. aus, obwohl die kontrollierende Macht der Kirche, etwa durch die Erklärung der Ehe zu einem Sakrament, immer größer wurde.
Die Geschichte der Sexualität in der Neuzeit hängt mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zusammen. Das Abnehmen des kirchlichen Drucks erlaubte offene Darstellungen von Sexualität in Kunst und Literatur. Eine vom Bürgertum entwickelte Institution ist die moderne „Liebesehe“, für die ökonomische und politische Gesichtspunkte nur eine sekundäre Rolle spielen. Die asketische Moral des frühen Bürgertums unterdrückte besonders in den protestantischen Ländern viele Formen der außerehelichen Sexualität vor allem von Frauen. Die sich erst im 18. Jahrhundert durchsetzende Abtrennung der Kindheit vom Leben der Erwachsenen und die dadurch bedingte Vorstellung, das Kind sei ein asexuelles „reines“ Naturwesen, ermöglichten Verleugnung und Unterdrückung der infantilen Sexualität, etwa im Kampf gegen die Onanie.
Im 19. Jahrhundert bildete sich der größte Teil der Vorstellungen, die bis heute in das Verständnis der Sexualität hineinwirken. Zu Beginn des Jahrhunderts kam der biologische Begriff Sexualität auf. Der Unterdrückung der Sexualität durch die offizielle Moral gegenüber stand die Tendenz, Erscheinungen in allen Lebensbereichen als Ausdruck der versteckten Macht der Sexualität zu interpretieren. In der Psychiatrie begann man, in der Sexualität eine Hauptursache psychischer Störungen zu sehen (R. von Krafft-Ebing, J. M. Charcot). Im 20. Jahrhundert, vor allem nach dem 2. Weltkrieg, wandelten sich sexuelles Verhalten und Sexualmoral in den westlichen Industrienationen grundlegend. Ursachen dafür waren u. a. die schwindende Autorität der Kirchen, die Entwicklung hormonaler Empfängnisverhütungsmittel (der „Pille“) und die kommerzielle Ausnutzung der Sexualität etwa in der Werbung. Die Publikation von Untersuchungen des Sexualverhaltens in der Sexualwissenschaft machte die Sexualität zu einem Gegenstand öffentlicher Diskussion. Manche Soziologen und Psychoanalytiker (W. Reich, E. Fromm, H. Marcuse) sahen in der Unterdrückung von Sexualität die Voraussetzung anderer Formen gesellschaftlicher Unterdrückung, so dass Protestbewegungen der 1960er Jahre sich massiv gegen die bürgerliche Sexualmoral wandten. Zunehmende Freizügigkeit und Individualisierung verändern bis heute die gesellschaftliche Vorstellung von Sexualmoral. Immer früher machen Heranwachsende ihre ersten sexuellen Erfahrungen, Sexualität löst sich zunehmend von dauerhafter Partnerbindung, und unter dem höher bewerteten Recht auf sexuelle Selbstbestimmung erfährt z. B. die Homosexualität wachsende gesellschaftliche Anerkennung. Der Prozess der Veränderung gesellschaftlicher Moralvorstellungen ist nicht abgeschlossen.
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