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Die Helden meiner Tochter

Erster Teil des Versuchs über ein Thema, von dem Erwachsene nichts verstehen: die Serienhelden von Kinderbüchern.

Text: Walter Drechsel; Foto: Daniel Roth

Es gibt Menschen, die sind morgens tatsächlich fröhlich. Viel mehr noch aber irritiert mich, dass sie immer in einem der Autos sitzen, die neben mir an der Ampel halten. Ich sehe dann, wie die Superfröhlichen mit den Fingern auf dem Lenkrad den Takt der Musik mittrommeln, die aus dem Radio kommt. Manchmal singen sie auch mit oder wippen mit den Köpfen und ich stelle Theorien auf, was da wohl gerade läuft nebenan. Ich denke, dass das vielleicht Shakira ist. Dann denke ich noch mit ununterdrückbarer Verachtung, dass ich einen viel besseren Musikgeschmack habe. Aber dann wird dieses erhebende Gefühl, dass man irgendwie doch nicht zu der breiten Masse gehört, mit der man sich gerade stadtwärts quält, von einem Neid zerstört, der sich einfach nicht ausblenden lässt: Eigentlich würde ich auch am liebsten irgendetwas im Radio hören. Sogar Shakira. Das geht aber nicht. Ich kann morgens nicht Radio hören. Ich kann auch morgens keine CD einlegen, denn der Schacht ist schon besetzt. Ich bin morgens verdammt. Verdammt zu Ritter Rost.

Ritter Rost ist im Augenblick der wichtigste Mann im Leben meiner Tochter. Sie heißt Lilly und ist vier Jahre alt. Unsere Beziehung ist – aus ihrer Sicht – sehr einfach: Ich mache, was sie will. Sie weiß nicht, dass ich sie morgens umbringen könnte. Wenn Sie Kinder haben, dann verstehen Sie, wie das jetzt gemeint ist. Wenn Sie noch keine Kinder haben, lesen Sie erst mal weiter, weil Sie dann ein ziemlich präzises Bild davon bekommen, was Sie in Zukunft in den Wahnsinn treibt. Ich weiß nicht, wie die Figur heißen wird, die Ihnen eines Tages den Nerv und einen beträchtlichen Teil Ihres Einkommens rauben wird. Ich kann Ihnen aber verraten, wer im Augenblick die üblichen Verdächtigen sind. Bei uns zu Hause handelt es sich neben dieser Blechbüchse um einen Hasen namens Felix, die Prinzessin Lillifee, den schwarzen Lokomotivführerlehrling Jim Knopf und ein ganz komisches Vieh, das Grüffelo heißt. Denken Sie jetzt nicht: »Na und, das wird schon.« Es wird, aber teuer und anstrengend. Aus pädagogischer Sicht zum Beispiel ist diese kleine Liste nicht gerade das Gelbe vom Ei. Für den Hasen ist meine Tochter eigentlich zu klein, der Jim Knopf ist didaktisch überholt und die Prinzessin ist ein geschicktes, »zielgruppengenaues« Marketingprodukt, das politisch korrekte Freunde gewöhnlich strikt ablehnen. Sie sollten wissen, dass der Markt für Kinderbücher, Kindermusicals, Kinderfilme, Kinder-CDs und so weiter wie alle Märkte von Experten beherrscht wird. In diesem Fall gibt es aber noch mehr Experten als, sagen wir mal, deutsche Fußballbundestrainer, die nicht Klinsmann heißen. Es handelt sich dabei um: 1. Mütter. 2. Schwiegermütter. 3. Freundinnen der Mütter mit Kindern. 4. Engagierte Freundinnen, die erst noch Mütter werden wollen. 5. Engagierte Verkäuferinnen in Buchläden. 6. Engagierte Erzieherinnen in Kindergärten. Ich lasse hier mal die Experten der Stiftungen und Schulen, der Universitäten und der Marketingabteilungen in den Verlagen weg, weil man den direkten Kontakt mit ihnen als Vater gewöhnlich vermeiden kann. Den anderen aber entkommt man nicht.

Mütter und Schwiegermütter gehen in die Buchläden und kaufen, was sie aus der eigenen Vergangenheit kennen. Sie kaufen »Das kleine Gespenst« oder »Die kleine Hexe« von Ottfried Preußler oder, wenn sie älter sind, die wunderbaren Bücher von Astrid Lindgren wie etwa »Ronja Räubertochter«. Das ist nicht verkehrt, bringt aber unweigerlich die Frage von der anderen Seite der Ladentheke ein, weshalb man »Peterson und Findus« oder eines der Wimmelbücher von Rotraut Susanne-Berner liegen lassen möchte. Wie alt ist das Kind überhaupt? Ein Mädchen? Dafür ist sie noch zu klein. Schon zu groß. Normal entwickelt? Das da ist zu schwierig. Nehmen Sie mal dieses, es unterstützt den Übergang vom benennenden zum erzählenden Bilderbuch. Die Stiftung Lesen hat jenes empfohlen. Das da brauchen Sie – es hat einen »klischeelosen« und deshalb pädagogisch wertvollen »Strich«. Ich brauche gar keines mehr. Ich habe schon alle. Und hätte einen Haufen Geld gespart, wenn ich immer vorher wüsste, welche nicht in der Ecke liegen. Nur, dass Sie sich eine ungefähre Vorstellung davon machen, welches Vermögen in einem Kinderzimmer stecken kann. Ein Ritter-Rost-Buch mit eingelegter Musik-CD kostet 21 Euro. Diesen Betrag multiplizieren Sie mit 8 für jedes Ritter-Rost-Abenteuer und dann haben Sie noch nicht mal die DVD, die CD-Rom mit der Post für Ritter Rost, den Englisch-Kurs mit Ritter Rost und so weiter. Multiplizieren Sie mit Lillifee. Multiplizieren Sie mit Jim Knopf. Multiplizieren Sie ruhig noch ein paar Mal – neue Helden warten in jedem Lebensjahr Ihres Kindes. Sie können diese ganze Angelegenheit auch unter finanziellen Aspekten nur sehr, sehr Ernst nehmen. Zu den pädagogischen Inhalten will ich noch sagen, dass sich mein persönliches Ranking nicht vollständig von dem meiner Tochter unterscheidet. Aber dann doch wieder erheblich, weil ich vor allem ein gutes Bild-Text-Verhältnis bevorzuge. Wenig Text, viele Bilder. Das macht das Gute-Nacht-Vorlesen nicht so anstrengend. Vergangene Weihnachten war mein Lieblingsbuch eines über sieben hundemüde Hunde: Doppelseite Bild, maximal zwei Zeilen Text. Lilly konnte es nach zwei Abenden auswendig und las mir vor. Das Beste war die letzte Seite: Da gähnen die Hunde alle, sind ganz müde, und ich konnte auch gähnen und sagen, dass wir jetzt alle schlafen müssen. Licht aus im Kinderzimmer, Licht an im Gang, Tür angelehnt, kurz auf die Geräusche gelauert, Weinflasche aufgemacht – das ist für mich ein Buch, das wirklich funktioniert. Es gehört auf die Bestsellerliste, weswegen ich es auch gerne herzeige.

Morgens bin aber ich der Hundemüde. Und habe keine Gnade zu erwarten. Sobald ich den Verschluss des Sicherheitsgurtes meiner Tochter habe einrasten lassen, macht es auch irgendwo in ihrem kleinen Gehirn »klick«. Ihr Mund öffnet sich und spricht: »Ritter Rost.« Sie will auf dem Weg zum Kindergarten nichts anderes hören. Ah, Sie haben da ein paar gute Ratschläge, wie man das pädagogisch geschickt ...? Oder vielleicht so ein technisches Gerät mit Ohrstöpseln? Vergessen Sie’s. Ich und die Mutter des Kindes und alle, die wir kennen, haben es versucht. Es geht nicht. Das Kind ist süchtig. Das Faderdings für die Boxen wird vollständig auf Rücksitz gedreht. Zwischen Kopfstütze vorne und Heckscheibe befindet sich Lillys Welt. Das Gute daran: Kein einziges Mal kommt das gefürchtete »Wann sind wir da?«. Mit Ritter Rost käme ich bis Venedig.

Woran das liegt, hat mich irgendwann dann doch so interessiert, dass ich Jörg Hilbert besucht habe. Hilbert ist der Erfinder von Ritter Rost. Ich habe ihm gleich erzählt, wie das morgens so ist mit Lilly und mir. Er hat, meinem Eindruck nach, wenig Mitleid mit mir gehabt. Stattdessen hat er sofort mit einer anderen Faderdingsgeschichte gekontert. Vor zwölf Jahren, als der erste Ritter Rost auf den Markt kam, haben nämlich alle Eltern beim Autokaufen gefragt, ob man die Lautstärke der Boxen nach hinten in den Fonds regeln kann, weil da eben immer schon die Nervensägen saßen. Das war damals noch nicht Standard und wenn man nicht aufpasste, bekam man auch auf den Vordersitzen alles ab. Hilbert hat das also gewusst, als er immer neue Folgen von Ritter Rost schrieb! Er hat gewusst oder zumindest geahnt, was er macht. Sonst ist er ja ganz nett. Er ist jetzt 40 und hat lange herumgespielt, ob er Musiker oder doch Grafiker werden sollte. Dann hat er sich für beides entschieden. Auf seiner Visitenkarte steht, er sei »Autor, Illustrator, Dipl.Designer«. Hilbert hat selbst zwei Kinder von 9 und 10 Jahren, eine Pianistin zur Frau, eine Zimmerlinde vor dem Wohnzimmerfenster in Essen und eine 8-saitige Gitarre, auf der er zur Entspannung ein bisschen Bach klimpert. Sein Urururgroßvater war Bildhauer und hat das Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar gearbeitet, außerdem gehört der Dichter Joachim Ringelnatz zur Familie. Meine Tochter ist davon nicht zu beeindrucken, die Reime von Hilbert findet sie offensichtlich trotzdem super. Die Musik auch, die Felix Janosa zu den Reimen seines Freundes Hilbert macht. Aber das hatten wir ja schon. Aber jetzt, Hilbert: Mies, den Wolf, den mag sie nicht. Und den sprechen und singen Sie selbst! Ich fürchte, dass das nächste Ritter-Rost-Abenteuer Lilly nicht so gut gefallen wird, weil Ritter Rost dann in die Schule kommt und Mies dort den Hausmeister spielt. Nimm das, Hilbert!

 

Das war jetzt eine kleine stilistische Schwankung (und nicht die erste), die ich deshalb hier stehen lasse, weil »die Ansprache« ein großes Problem auch in Kinderbüchern ist. Es ist eine Herausforderung für Erwachsene, über das Denken von Kindern zu schreiben: Oft versteht man es nicht und wird selbst immer so kindisch. Das geht oft daneben. Nehmen Sie als Beispiel dieses alberne Dutzidutzidu, mit dem sich Wildfremde über den Kinderwagen beugen. Und jetzt beugen Sie sich mal über eine Figur wie den Wolf Mies, ohne aus der Erwachsenenhöhe gleich dutzidutzidu zu sagen. Wenn Ihnen das übrigens gelingt, wissen Sie auch, was aus einem Kinderbuch ein gutes Kinderbuch macht: Es beugt sich nicht über den Kinderwagen.

Hilbert, der eigentlich zuerst den Drachen Koks auf dem Papier hatte, ehe ihm der Ritter Rost und das Burgfräulein Bö dazu einfielen, kann das. Und er weiß auch, was ausgerechnet einen Ritter im 21. Jahrhundert zum Kinderhelden macht: »Der Ritter Rost ist ein richtiger kleiner Junge. Und zusammen mit Bö und Koks sind sie eine Familie.« Und warum hat Bö einen sprechenden Hut? »Ein bisschen Dada gehört schon dazu.« Das war schon ein großer Satz von dem Hilbert. Wenn ich mich jetzt mit anderen Vätern über die merkwürdige Faszination unterhalte, die manche Figuren auf die Fantasie unserer Kinder ausüben, anworte ich einfach: »Das ist Kinder-Dada.« Diese Erklärung finden alle großartig. Was ich genau damit meine, hat mich bisher noch niemand gefragt. Nicht mal Mütter.

Aber ich sehe meine eigene Vergangenheit als Kind jetzt viel klarer. Die lag in den Händen von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer, geschrieben von Michael Ende, mit der Musik von Hermann Amman. Und natürlich habe auch ich später gedacht: Was mir gefallen hat, kann für meine Tochter nicht schlecht sein. Außerdem war ich mal kurzzeitig auf einem Gymnasium, an dem Amman unterrichtete. Und ich werde nie vergessen, wie er einem Mitschüler ein Algebrabuch wegnahm, der sich in der Musikstunde auf Mathe vorbereitete. Amman warf das Buch aus dem Fenster. Mir imponierte das schon damals – heute bewundere ich ihn dafür. Er war ein Dadaist. Wenn ich mit Lilly auf dem Sofa und wir beide mitten im Lummerland sitzen und die Augsburger Puppenkiste (verbotenerweise zwei Folgen hintereinander!) vom Video läuft, haut es uns beide um: ein Scheinriese, Drachen, eine zum Perpetuum mobile umgebaute fliegende Lokomotive, der Kaiser von China: Kinder-Dada.

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