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Gustav Mahler - der Komponist, der die Musik revolutionierte (Podcast 88)

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Düsternis, Schwere, Irrsinn – Gustav Mahler haftet der Ruf des Dunklen und Eigenartigen an. Aber verrückt war Mahler nicht. Er schwankte nur zwischen Todessehnsucht und Hoffnung, lustig konnte er sein und ganz depressiv. Er schockte seine Umwelt mit kühnen Instrumentationen, sei es, dass er Kuhglocken bimmeln oder ein monströs großes Orchester antreten ließ. Er wollte sterben und er wollte leben. Mal war ihm der Glaube heilig, ein anderes Mal Mittel zum Zweck. Kurz: Mahler war ein Mann voller Gegensätze. Die Nachwelt ehrt ihn in diesem Jahr ganz besonders. Er wäre nämlich am 7. Juli 2010 150 Jahre alt geworden. Hören Sie heute: "Gustav Mahler - zwitschernde Töne und ungelöste Rätsel“.

 

Mühsam schleppen sich die Töne vorwärts. Gelangweilt scheinen sie, energielos - so als wollten sie sich nur noch in den Abgrund stürzen. Die Musik dieser Neunten Mahlerschen Sinfonie schwebt irgendwo zwischen Dieseits und Jenseits als hätte Mahler geahnt oder sogar gehofft, dass es seine letzte sein würde. Sie schließt musikalisch unmittelbar an die Achte an – vor allem in Bezug auf die Atmosphäre. Die Achte war eine Flucht ins Grandiose. Jubel, Freude und Weltfrieden waren nur Schein.

Mahlers in vermeintliche Freude gekleidete Verzweiflung der Achten mündet in der Bereitschaft zum Tode der Neunten. Diese ist teilweise spätromantisch, teilweise klingt sie modern. Sie enthält weniger Zitate aus dem Militärischen oder Volkstümlichen, die Mahler sonst gern in seine Musik einflocht – wie hier in den Wunderhornliedern.

 

Mahler wurde 1860 im böhmischen Kalisch als zweites von 14 Kindern einer jüdischen Familie geboren. Bereits als Kind bekam er Akkordeon- und Klavierunterricht, fing früh zu komponieren an und trat mit zehn Jahren das erste Mal als Pianist auf. Mahler entwickelte sich zu einem Genie des Fin de Siécle und wurde zum Wegbereiter der Neuen Musik. Generell reizte Mahler das Extreme, möglichst laut sollte seine Musik sein, deren oft melancholische Züge stets einen ironischen und grotesken Grundton hatten.

 

Diese Rondo-Burleske aus der 9. Sinfonie strotzt von Fratzenhaftem, tanzt von banaler Caféhausmusik und Kurkonzerttrivialität zu Bach’scher Polyphonie wie ein unaufhaltsames dämonisches Perpetuum Mobile eines von Schmerz erfüllten, in Todesahnung Dahinsiechenden. Zumindest, wenn die Interpreten dieses Werkes darauf verzichten, den Tönen wenigstens einen blassen Hoffnungsschimmer zu verleihen, den Mahler in seiner Zerrissenheit durchaus in sich trug.

 

Komponiert hat der Musiker die Neunte in seinem Komponierhäuschen in Toblach in Südtirol. Dort schwitzte er nur allzu gern über den Notenblättern: Im Fichtenwald, abgeschirmt von der Umwelt. Schon um sechs Uhr in der Früh stand er auf, ließ sich ein Frühstück aus Tee, Kaffee, Butter, Honig, Eier, Gebäck, Obst und Geflügel bringen und malte Bilder aus Tönen.

 

Da ist zum Beispiel das "Lied von der Erde“. In den ersten Takten des zweiten Satzes lässt der Musiker beispielsweise einige Töne im Hintergrund wie einen Bach plätschern. An anderer Stelle glaubt man mit Mahler einen Waldspaziergang zu machen und Blumen, Bäume, Bäche oder Tiere zu sehen und Vögel zwitschern zu hören.

 

Die Natur inspirierte den Musiker. Er liebte es, "auf Bergen und in Wäldern herumzustreifen und in einer Art keckem Raub meine Entwürfe davonzutragen“, wie er im Sommer 1908 in einem Brief an den deutschen Dirigenten Bruno Walter schrieb. Die Gedanken und Töne hielt er dann auf dem Notenzettel fest. Auch vor Naturgewalten machte Mahler in der Musik keinen Halt. In seiner zweiten Sinfonie erzeugt er etwa ein Erdbeben: Ein Ruf nimmt taktweise von fortissimo bis pianissimo ab, gefolgt von einem Schlagzeugcrescendo, das vom Pianissimo sehr langsam, aber stetig bis zum Fortissimo anschwillt.

 

Die Wanderungen in der Natur fanden ein jähes Ende, als Mahler von seinem Herzklappenfehler erfuhr. Darunter litt der Komponist sehr. Neben der Affäre seiner Frau Alma mit dem Architekten Walter Gropius war das ein Grund für Mahlers depressive Ader. Mahler mutierte zunehmend zum Hypochonder mit Todessehnsucht. An Bruno Walter schrieb er:

"Ich hatte mich seit vielen Jahren an stete und kräftige Bewegung gewöhnt. (...) An den Schreibtisch trat ich nur wie ein Bauer in die Scheune, um meine Skizzen in Form zu bringen. Sogar geistige Indispositionen sind nach einem tüchtigen Marsch (hauptsächlich bergan) gewichen. – Nun soll ich jede Anstrengung meiden, mich beständig kontrollieren, nicht viel gehen...“

 

Dirigent Bruno Walter brachte seinerseits auf den Punkt, wie er Mahler und dessen Musik erlebte. Zur sechsten Sinfonie, auch die "Tragische“ genannt, sagte er:

"Die Sechste ist ein Werk von ausgesprochen pessimistischer Grundrichtung, ihre Grundstimmung stammt vom bitteren Geschmack im Trank des Lebens, sie sagt ein emphatisches Nein und sagt es vor allem in ihrem letzten Satz, in dem die Unerbittlichkeit des Kampfes aller gegen alle Musik geworden zu sein scheint.“

 

Mahler konnte aber auch anders. Ausgesprochen positiv klang der Inhalt mancher Briefe, die er an seine Frau Almschi schrieb:

"Halt den Kopf oben, Almschi! Das belohnt sich sicher, glaub mir, der darin eine große Erfahrung hat. Die Sonne kommt jetzt hervor und schon flattern die Falter draußen und heben die Blumen die Köpfe hoch – die es alle jetzt zwei Tage sehr schlecht gehabt haben – und gewiß am Leben verzweifelt haben. Ein Sonnenblick und weg ist alles Ungemach an Regen, Wind und Kälte...“

Das Interessante an Mahlers Musik sind einerseits die Bruchstellen zwischen der manchmal trivialen Wirklichkeit, der Suche nach Liebe und dem Leben nach dem Tod, andererseits die Tatsache, dass sie die zwischen Lebenslust und diffuser Zukunftsangst schwankenden Gefühle jener Zeit überhaupt widerspiegelt.

In der Stadt Wien, in der Mahler später lebte, machte sich um 1900 eine Zeitenwende bemerkbar: die Bevölkerung explodierte, der politische Ton war rau timbriert, Teile der Arbeiterschaft waren verelendet und Massenparteien hatten sich gebildet, Frauen kämpften um Gleichstellung, Sigmund Freud erforschte die Seelen und Mahler stellte die Wiener Oper auf den Kopf. Schluss mit Traditionen und Gemütlichkeit, Schluss mit Kürzungen von Werken. Was Theaterleute Tradition nannten, war für Mahler Bequemlichkeit und Schlamperei. Der Komponist Franz Schmidt schrieb über Mahler:

"Seine Direktion brach über das Operntheater wie eine Elementarkatastrophe herein. Ein Erdbeben von ungeheurer Intensität und Dauer durchrüttelte den ganzen Bau vom Giebel bis in die Grundfesten. Was da alt, überlebt oder nicht ganz lebensfähig war, musste abfallen und ging rettungslos unter. Und nun begann für Wien eine der großartigsten Musikepochen, die diese Stadt jemals erlebt hat.“

Hier sind zum Beispiel strichlose Wagner-Aufführungen und Neuinterpretationen von Opern Mozarts zu nennen, mit denen sich Mahler zahlreiche negative Kritiken und eine Pressekampagne einbrachte, die seinen Sturz als Operndirektor von Wien zum Ziel hatte.

 

Den Posten als Operndirektor hatte Mahler übrigens erhalten, weil er zum katholischen Glauben konvertiert war. Anders wäre es nicht möglich gewesen. Es ist unklar, ob er nur der Position wegen konvertierte oder es wirklich ernst mit dem Glauben meinte. Immerhin fußt seine 2. Sinfonie auf dem Auferstehungs- und Erlösungsgedanken des Christentums. Im fünften Satz verwendetet er beispielsweise das Gedicht „Die Auferstehung“ von Friedrich Gottlieb Klopstock, einem wichtigen Autor geistlicher Lieder im 18. Jahrhundert. Im Alt-Solo des vierten Satzes kommt einerseits die Hilflosigkeit des Menschen zum Ausdruck, andererseits weist Mahler auf Gott als den helfenden Retter hin: "Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben, wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben“.

 

Mahler, der am 18. Mai 1911 starb, hinterließ er mit seinem Werk mehr als eine Ansammlung an Widersprüchen, Riesenorchestern und kühnen musikalischen Mitteln. Sein Vermächtnis sind offene Fragen und ungelöste Rätsel, besonders aber auch der Zuspruch, dass sie sein dürfen.

 

Und übrigens: Auch der oft als trüber Kerl gescholtene Mahler hatte Humor. Eines Tages saß Mahler über den Notenblättern in seinem Komponierhäuschen im Fichtenwald, als ein vom Geier verfolgter Rabe bei ihm Schutz suchte. Mahler lief aufgeregt zum Eigentümer seines Heims in Toblach, und beklagte sich über den Eindringling. Der lachte nur laut. Da verflog auch bei Mahler jeder Missmut, und er lachte lauthals mit.

 

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