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L'Homme qui marche von Giacometti: Annäherung an das Sein
Was drücken Giacomettis fragile Skulpturen aus?
Die Werke des Schweizers Alberto Giacometti strahlen eine eigenartige Zerbrechlichkeit aus. Sie weisen überlange Proportionen und unruhig strukturierte Oberflächen auf. Sich selbst fremd und eigenartig beziehungslos scheinen sich die Figuren im Raum zu bewegen. Giacomettis Freund, der französische Schriftsteller Jean-Paul Sartre, sah in seinen Skulpturen eine Verkörperung des Menschenbildes der existenzialistischen Philosophie.
Wie erzielte Giacometti die eigenartige Wirkung?
Beispielhaft lässt sich Giacomettis Gestaltungsweise anhand der Skulptur »L'Homme qui marche« erläutern. Auf einer Platte steht eine 1,90 Meter große, extrem dünne männliche Gestalt. Wie eine archaisch-griechische Statue hat »L'Homme qui marche«, der »Gehende Mann«, die Beine in Schrittstellung geöffnet, die Arme parallel zum Körper. Die einzelnen Glieder der Figur wirken fragil, anatomische Einzelheiten wie Knochen, Muskeln oder Haut sind nur andeutungsweise, Füße und Hände übergroß wiedergegeben. Die Einzelheiten des Gesichts sind stark vereinfacht. Der Eindruck der Bewegung entsteht durch den abgehobenen hinteren Fuß und den vorgebeugten Oberkörper. Zusammen mit den unruhigen Lichtreflexen auf der zerklüfteten Oberfläche der Bronzeplastik ergibt sich das Bild eines rastlosen, unruhigen menschlichen Wesens in dauernder Bewegung.
Wie fand der Künstler zu seinem eigenen Stil?
Nach einem Ausflug in den Surrealismus zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn in Paris orientierte sich Giacometti ab Mitte der 1930er Jahre wieder am menschlichen Modell, geriet aber prompt in eine Schaffenskrise. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebte er in Genf von Möbelentwürfen, die sein Bruder Diego ihm vermittelte. Diego saß ihm auch Modell für winzige Köpfe und Figurinen aus Gips oder Ton.
Mit der »Frau auf dem Wagen« schuf er 1942 seine erste großformatige Arbeit. Viele Stilmerkmale späterer Werke wie dem »Gehenden Mann« nimmt sie voraus: den langen schmalen Körper, die strenge Frontalität, die bewegte Oberfläche. Die Frau wirkt wie eine alte Kultfigur, etwa eine etruskische Bronzegöttin. Um sie bei der Arbeit bewegen zu können, hatte Giacometti sie auf den Spielzeugwagen seines Neffen gestellt und diese Kombination bei der Ausführung auch beibehalten. Der Kontrast zwischen einer unbeweglich stehenden Figur und einem beweglichen Wagen beschäftigte ihn danach immer wieder.
Wie wurde Giacometti zum Bildhauer des Existenzialismus?
Mit seinen Skulpturen in der Manteltasche kehrte Giacometti zu Kriegsende nach Paris zurück. Hier vertiefte sich die Freundschaft zu Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, die Giacometti erst nur als geistreichen Gesprächspartner im Café de Flore, dann aber auch als Bildhauer schätzten. In seinen Skulpturen sahen sie eine künstlerische Umsetzung der existenzialistischen Idee vom Ausgeliefertsein des Menschen in einer feindlichen Umgebung, auf einer nur schmalen Grenze zwischen dem »Sein« und dem »Nichts«. Sartres Schriften über Giacometti machten den Künstler zu dem Bildhauer des Existenzialismus.
Wann gelang der künstlerische Durchbruch?
Im Paris der Nachkriegszeit konnte Giacometti dann endlich auch die großformatigen Skulpturen schaffen, für die er berühmt geworden ist. Nun entstanden jene überlängten, zerbrechlich wirkenden Gestalten, deren Distanz psychologisch wie physisch erlebbar ist. Zugleich eröffneten sie dem Betrachter eine neue Wahrnehmung der Beziehung zwischen Plastik und Raum. Ab dem Jahre 1945 malte Giacometti auch zahlreiche Porträts von Menschen aus seiner Umgebung, seine Frau Annette, seinen Bruder Diego oder verschiedene Freunde wie den Schriftsteller Jean Genet. Stilistische Übereinstimmungen mit seinen Plastiken findet man in der Frontalität der Porträts und ihrer Längung. Ein Netz von Strichen in Grau, Weiß oder Braun ohne festen Umriss ist in seiner Unruhe der Oberfläche der Skulpturen sehr ähnlich.
Wussten Sie, dass …
Giacomettis Vater Giovanni ein bekannter impressionistischer Maler war? Früh förderte er das Talent seines Sohnes; auch Giacomettis Brüder wurden Maler, Architekten und Designer.
Alberto Giacometti einen Gehfehler hatte? 1938 wurde er von einem Auto angefahren und am Fuß verletzt, ein traumatisches Erlebnis, das er nie verarbeitete.
der Künstler bekannt für seine äußerst ungesunde Lebensweise war? Sein Kaffee- und Zigarettenkonsum waren Begleiterscheinungen seiner rastlosen Arbeitsweise.
Wie verlief Alberto Giacomettis künstlerische Entwicklung?
Der am 10. Oktober 1901 geborene Giacometti stammte aus Stampa im Schweizer Kanton Graubünden. Ab 1919 studierte er ein Jahr lang Bildhauerei in Genf und nach einer Italienreise seit 1922 weiter in Paris. 1925 bezog Giacometti mit seinem Bruder Diego ein Atelier in Paris und experimentierte mit Kubismus und Konstruktivismus. Gegen 1927 luden ihn die Surrealisten um André Breton ein, sich ihnen anzuschließen. Aus dieser Zeit stammt »Der Palast um vier Uhr morgens«, eine räumliche Konstruktion aus Holz, Draht und Schnur, die Giacometti 1932 nach einem Traumerlebnis schuf. Die surrealistische Phase fand 1935 ein jähes Ende, als Giacometti seine Absicht verkündete, wieder nach der menschlichen Gestalt arbeiten zu wollen. Auf dem Höhepunkt der künstlerischen Anerkennung erkrankte Giacometti in den 1960er Jahren an Magenkrebs. Im Juni 1966 starb er im schweizerischen Chur an Herzversagen.
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