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Mittelalter und Renaissance – höfische Kultur und Antikenrezeption

Neben Sprüchen in Stabreimen entwickelte sich im 9. Jahrhundert das Heldenlied, dessen Stoffe im »Beowulf« und in der »Edda« weiterwirkten. Im 12. Jahrhundert begann sich eine übernationale höfische Kultur herauszubilden. In der Lyrik erreichte sie ihre Höhepunkte in der provenzalischen Troubadourdichtung sowie im deutschen Minnesang. Chrétien de Troyes begründete die höfische Epik und führte die Idealgestalten König Artus' und seiner Ritterrunde ein. Auch das Heldenepos stand im Hochmittelalter in Blüte, genannt seien das in Spanien um 1140 entstandene »Lied vom Cid« oder das »Nibelungenlied« (um 1200). Allerdings wurde die höfische Tradition seit dem frühen 13. Jahrhundert von der volkstümlichen Spielmannsepik überlagert. Den endgültigen Niedergang der höfischen Kultur zeigten Parodien auf Ritterepen. Mit Heinrich von Meißen ging die höfische Minnelyrik in den Meistersang bürgerlicher Dichter-Handwerker über.

Den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit bestimmten die an der Antike orientierte Renaissance und der Humanismus. Ausgehend von Italien, erfuhr die europäische Literatur durch die Dichtkunst von Petrarca, die Prosaerzählungen von Boccaccio und die Renaissance-Epik innovative Impulse. In Frankreich entstand Rabelais' satirischer Abenteuerroman »Gargantua und Pantagruel« und in Spanien wurden im 16. Jahrhundert mit dem Schelmenroman die Grundlagen des modernen Romans geschaffen. Ganz maßgeblich für die Entwicklung einer deutschen Schriftsprache wurde Luthers großartige Bibelübersetzung (1522 bis 1534). Der neue Buchdruck machte Bücher billiger und mit volkstümlichen Genres wie Satire und Schwank auch attraktiv. Eine völlig neue Qualität erreichte das Theater. So waren die ersten historischen Dramen – an den Jesuitenkollegien aufgeführt – Vorformen des Barockdramas. Die Blütezeit des Theaters brach Ende des 16. Jahrhunderts in England mit Christopher Marlowe an, dem Vorläufer von William Shakespeare.

Lancelot von Chrétien de Troyes: Epos über einen idealen Ritter

In welchem Umfeld ist die Geschichte des »Lancelot« angesiedelt?

Während die Epen der chansons de geste (»Heldenlieder«) um fassbare Persönlichkeiten der Geschichte wie etwa Karl den Großen und Wilhelm von Oranien kreisen, siedelt Chrétien de Troyes (um 1135 bis vor 1190) hier die Handlung im zeitlos-mythischen Raum des Artushofs an, womit ein politisch opportunes Gesellschaftsmodell (Vasallentum und Lehenswesen) idealisiert wird. Im ritterlich-»höfischen« Lebensstil mit seinen Idealen Lehenstreue, Minnedienst, Maßhalten, Disziplin (»Zucht«) und christliche Barmherzigkeit verlieh sich die Gesellschaft Normen, die sich in ganz Europa durchsetzten und auch nach dem Niedergang des Rittertums ihre Gültigkeit bewahren sollten.

Etwa um 1170/1180 entstand das Epos über Lancelot, den vorbildlichen Ritter, in achtsilbigen Reimpaaren; nur eine kurze Zeit später schrieb ein unbekannter Autor auch eine Prosafassung (»Lancelot en prose«, um 1220).

Was passiert im Verlauf der Handlung?

Méléagant, der Sohn des Baudemagus von Gorre, fordert den Artushof heraus und entführt die Königin Guenièvre (Guinevere), nachdem er den großspurigen Seneschall Keu bezwungen hat. Artus selbst und Gauvain (Gawain) nehmen die Verfolgung auf.

Gleichzeitig macht sich ein weiterer Ritter, geleitet von unbeirrbarer Liebe zu seiner Königin, auf den Weg. Weil er im Kampf sein Pferd, das Symbol des Ritterstolzes, verliert, muss er auf einen Schinderkarren steigen und sich so im Namen der Minne zum »Karrenritter« erniedrigen. Um ins Reich von Baudemagus zu gelangen, überwindet er todesmutig die Schwertbrücke und wird von jenem in allen Ehren empfangen. Nachdem der unbekannte Ritter Méléagant im Zweikampf besiegt hat, ohne ihn zu töten, offenbart er seinen Namen: »Lancelot vom See«. Doch Guenièvre empfängt ihn kühl.

Wie gewinnt Lancelot Guenièvres Gunst?

Lancelot bricht auf, um Gauvain zu suchen, wird jedoch von Baudemagus gefangen genommen. Als Guenièvre hört, dass er im Kampf gefallen sei, verweigert sie jede Nahrung. Bevor sich Lancelot auf diese Nachricht hin das Leben nehmen kann, kommt es zur klärenden Aussprache, und beide verbringen die Nacht miteinander.

Ein weiterer Zweikampf mit Méléagant endet zugunsten Lancelots, der seinen Gegner auf Bitten Guenièvres wieder verschont.

Warum gerät Lancelot erneut in Gefahr?

Lancelot wird auf der Suche nach Gauvain ein zweites Mal von den Mannen des Königs ergriffen, die ihm jedoch gestatten, unerkannt an einem Turnier teilzunehmen. Guenièvre, die in dem tapferen Ritter den Geliebten vermutet, stellt ihn auf eine demütigende Probe, bevor sie ihn (an)erkennt. Nachdem sich Lancelot aus der Gefangenschaft befreit und anschließend am Artushof ein drittes Mal mit Méléagant gekämpft (und ihn diesmal getötet) hat, bricht der Text ab.

Was ist neu an Chrétien de Troyes' Roman?

Neben dem Konflikt zwischen allgemeinen Normen (Minnedienst versus Treueverrat am Lehensherrn) führt das Epos Chrétiens ein psychologisches Moment ein: die Minnehörigkeit beziehungsweise die Legitimation des Ehebruchs. Das Motiv wurde später von Dante mit der Episode von Paolo und Francesca in seiner »Divina Commedia« aufgegriffen.

Warum wurde das Epos verschieden überliefert?

Wegen vieler struktureller Mängel – wozu noch das Fehlen eines Schlusses kommt, der die Widersprüche versöhnt hätte – wurde das Epos allgemein als misslungen angesehen. Aus diesem Grund fand die Lancelot-Überlieferung ganz im Gegensatz zum Erec- und zum Iwein-Zyklus keine homogene Ausgestaltung, sondern wurde in der durchaus reichen Überlieferung unterschiedlich gestaltet.

Welche Themen stehen im Zentrum des höfischen Romans?

Die Legenden um den keltischen König Artus, beschrieben durch Geoffrey von Monmouth in seiner »Geschichte der Könige von Britannien« (1139), bildeten den Themenkreis, aus dem der höfische Roman des hohen Mittelalters seine Stoffe schöpfte. Im Mittelpunkt des höfischen Romans steht idealtypisch ein Held, der die widersprüchlichen Anforderungen des Rittertums – zwischen Vasallendienst für den Lehensherrn und persönlicher Entwicklung (»Minnedienst« für die idealisierte, hoch stehende Dame) – in Einklang zu bringen versucht. In Prüfungen (»aventiuren«), die der archetypischen Struktur der »Fahrt ins Ungewisse« oder Suche (französisch »queste«) folgen, muss er sich bewähren: Erec, der nach der Hochzeit mit Eneide seine Pflichten als Ritter versäumt, Iwein (Yvain), der durch seine Aventüren die Gattin Laudine vernachlässigt, oder Parzival (Perceval), der erst nach mehreren Anläufen den Gral erringt.

Wussten Sie, dass …

Chrétien de Troyes »Lancelot« nach Motiven schrieb, die ihm Marie, die Gattin seines Gönners Heinrich I., vorgab – und zwar in der Bischofsstadt Troyes, der Residenz der Grafen der Champagne?

die Artus-Romane Chrétien de Troyes' richtungweisend für diese Gattung waren? Die zentralen Motive wurden von den deutschen Epikern des 12./13. Jahrhunderts – Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg – aufgegriffen.

Das Nibelungenlied: Ein mittelhochdeutsches Heldenepos

Auf welche Quellen geht das »Nibelungenlied« zurück?

Der in Stoff und Stil heterogene Charakter verweist darauf, dass ältere, mündlich vorgetragene Dichtungsformen, Heldenlieder aus verschiedenen Sagenkreisen (»Uns ist aus alten maeren / wunders vil geseit …«), unter der Regie eines unbekannten Kompilators zu einem Großwerk vereinigt wurden. Die mehr als 2000 Strophen aus je vier sich paarweise reimenden Langzeilen (»Nibelungenstrophe«) gliedern sich in 39 aventiuren, die durch einen inhaltlichen Einschnitt in der 19. aventiure zwei etwa gleich große Teile bilden.

Worum geht es im ersten Teil des Heldenepos?

Er beginnt mit der Werbung Siegfrieds, dem Herrn des sagenhaften Schatzes der Nibelungen (»Nibelungenhort«), um die schöne Kriemhild, Tochter des Burgundenkönigs und Schwester Gunthers, Gernots und Giselhers. Er erhält sie erst zur Frau, nachdem er mit Hilfe einer Tarnkappe die isländische Königin Brünhild im Kampf besiegt und so für König Gunther gewonnen hat. Nach der Doppelhochzeit in Worms muss der getarnte Siegfried noch einmal Brünhild für Gunther niederringen. Bevor diese beiden die Ehe vollziehen können, stiehlt Siegfried ihr Ring und Gürtel.

Warum kommt es zu einem offenen Konflikt?

Jahre später geraten die beiden Königinnen vor dem Münster in Worms in Streit, welcher der Vortritt gebühre. Da offenbart Kriemhild der Brünhild das Geheimnis der beiden Schmuckstücke, die sie ihr triumphierend vor die Nase hält. Die tödlich beleidigte Brünhild rächt sich; sie veranlasst Hagen, den Onkel und Waffenmeister der Könige, der Siegfried ebenfalls feindlich gesonnen ist, diesen aus dem Weg zu räumen.

Wie wird der unverwundbare Siegfried besiegt?

Mit Gunthers Hilfe entlockt Hagen Kriemhild das Geheimnis von Siegfrieds Stärke: Dieser hatte einst in Drachenblut gebadet, das ihn bis auf eine Stelle zwischen den Schulterblättern – auf die ein Lindenblatt gefallen war – unverwundbar machte. Hagen tötet Siegfried, legt den Leichnam vor Kriemhilds Schlafgemach und raubt ihr später den Hort der Nibelungen, den er im Rhein versenkt.

Wovon handelt der zweite Teil des Epos?

Im zweiten Teil wird Kriemhilds Rache beschrieben, die zum Untergang des Burgundenreiches führt. Nach ihrer Hochzeit mit dem Hunnenkönig Etzel (Attila) lädt sie ihre Brüder zu einem Fest nach Ungarn ein, wo sie 9000 burgundische Ritter hinmetzeln lässt. Beim anschließenden Kampf der Fürsten fallen alle außer Gunther und Hagen, die aber von dem am Hunnenhof lebenden Dietrich von Bern überwältigt und Kriemhild übergeben werden. Nachdem diese noch einmal erfolglos die Rückgabe des Nibelungenhorts gefordert hat, lässt sie ihren Bruder enthaupten, ihrem Todfeind Hagen schlägt sie selbst den Kopf ab. Die Klage Etzels, dessen Sohn ebenfalls getötet wurde, entfacht den Zorn Hildebrands, des Waffenmeisters Dietrichs, der die Rasende erschlägt.

Woher stammt der Stoff des Heldenliedes?

Der Stoff stammt im ersten Teil aus der mythischen Tradition (Sigurd-Überlieferung und »Atli-Lied« der altisländischen »Edda«, althochdeutsches »Hildebrandslied«), während im zweiten Teil historische Fakten die Oberhand gewinnen, die aber ohne Rücksicht auf Kausalität und Chronologie freizügig verknüpft und in eine Familienfehde umgedeutet werden: die burgundischen Könige Giselher/Gislaharius und Gunther/Gundahari, von denen Letzterer bei der Zerstörung seines Reichs am Rhein im Jahr 436 fiel; Gerüchte um die Ermordung Attilas nach seiner Hochzeit mit der Germanenprinzessin Ildico 453. Am Ende erscheint mit Dietrich von Bern (Theoderich, 451–526, Begründer des Ostgotenreiches in Italien) der mächtigste der germanischen Sagenhelden als eine Art Richtergestalt, die jedoch den selbstmörderischen Zwiespalt der Welt nicht verhindern kann.

Welche Wirkungsgeschichte hatte das Epos?

Der Stoff wirkte bis in die Neuzeit hinein, nicht zuletzt durch die epischen (J. J. Bodmer 1757) und dramatischen Bearbeitungen (unter anderem Hans Sachs 1557, Fouqué 1808–1810, Friedrich Hebbel 1861). Noch im 18. Jahrhundert wurde das Nibelungenlied zur »teutschen Ilias« stilisiert und in der Romantik gar zum Sinnbild für den deutschen Nationalcharakter (F. v. Schlegel).

Richard Wagner gab dem Stoff mit seinem vierteiligen Opernzyklus »Der Ring des Nibelungen« (1869–1874) den pathetischsten Ausdruck, und die Nationalsozialisten machten die »Nibelungentreue« zu einem der zentralen Begriffe ihrer mörderischen Ideologie. Ein expressives Meisterwerk des Stummfilms gelang Fritz Lang mit seiner zweiteiligen Verfilmung des Stoffs (»Siegfried«, 1922; »Kriemhilds Rache«, 1924).

Walther von der Vogelweide: Lobgesang auf würdige Frauen

Wo lernte Walther von der Vogelweide dichten?

Walther von der Vogelweide, um das Jahr 1168 »ze Ôsterrîche« geboren, lebte bis 1198 als Vertreter des niederen Dienstadels am Hof des Babenberger-Herzogs Friedrich I. in Wien. Nach dessen Tod führte er als fahrender Sänger ein wechselvolles Dasein (»Fröide und sorge kenn ich beide«, Lied 110,34). So wirkte er von 1198 bis 1201 beim Stauferkönig Philipp von Schwaben und von etwa 1205 bis 1211 bei Hermann von Thüringen, für den auch Wolfram von Eschenbach tätig war. Ab 1212 stand Walther zusammen mit Heinrich von Morungen im Dienst Dietrichs von Meißen und 1212/13 des Welfenkönigs Otto IV., der 1209 von Papst Innozenz III. zum Kaiser gekrönt und später mit dem Bann belegt worden war. Dann schloss er sich dessen siegreichem Gegner an, dem Stauferkönig und späteren Kaiser Friedrich II., der ihm 1220 das lang ersehnte Lehen zusprach: »Ich hân mîn lehen … / daz hât der künec gemachet reine« (28,31).

Was schrieb Walther für den Kaiser?

Als Vertreter höfisch-antiklerikaler Propaganda bezog Walther von der Vogelweide in seiner Spruchdichtung, die er zu einer eigenständigen Kunstform entwickelte, immer wieder politisch Stellung: etwa zum Thronstreit zwischen Welfen und Staufern oder zum Dauerkonflikt zwischen Kaiser- und Papsttum, auch im Zusammenhang mit dem Kreuzzug, den Friedrich II. mehrmals versprach und wieder aufschob. In seinen »Kreuzzugssprüchen« befürwortete Walther ihn nachdrücklich.

Wogegen wandte sich der Dichter?

In seinen Minneliedern pflegt Walther von der Vogelweide wiederholt die Auseinandersetzung mit literarischen und gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit, besonders mit dem zur Formel erstarrten Begriff der hohen Minne. Walther sah dieses Ideal in künstlerisch vollendeter Form in der Lyrik Reinmars von Hagenau verwirklicht, dem er am Babenberger-Hof in Wien begegnete. Gemäß traditioneller Interpretation, die Walthers Lieder in eine hypothetische thematische und chronologische Reihenfolge bringt, gipfelte ihre Rivalität in der so genannten Reinmar-Fehde.

Welches Liebeskonzept vertrat Walther?

Walther setzt Reinmars schematischer Virtuosität eine Alternative entgegen, die spontane Minne, die sich an »würdige« Frauen wendet: »Ich wil mîn lop kêren / an wîp die kunnen danken / waz hân ich von den überhêren [was soll ich mit den Überheblichen]?« (49,22). In seinen der niederen Minne gewidmeten »Mädchenliedern« (»unter der linden« [39,11], »Meiengrün«-, Sommer- und Blumen-Metaphorik) feierte Walther von der Vogelweide fast provokant die beglückende, »fröiden« schenkende Minne zu einem Mädchen niederer Herkunft, in der auch erotische Befriedigung Raum findet.

Darin zeigt sich besonders der Einfluss Heinrich von Morungens, der in einer bilderreichen Sprache die Person der Geliebten auch physisch greifbar werden lässt.

Wie stand Walther zur Dichtung seiner Zeit?

Den »Dörperpoeten« wie Neidhart von Reuental mit ihrer polemischen Kritik an der höfischen Kultur und am anmaßenden Bauerntum wirft Walther vor, wie selbstverliebte Frösche zu schreien, die selbst die Nachtigall zum Verstummen brächten. Auch wenn sich immer wieder Kontroversen um die Chronologie der Minnelieder entspinnen, ist ihr innovativer Charakter unumstritten.

Was unterscheidet »hohe« und »niedere« Minne?

Das Ideal der »hohen« Minne (althochdeutsch minna), ursprünglich die »gedenkende«, liebevolle Unterstützung, hatte sich in der höfischen Kultur des Mittelalters zu einer Gesellschaftskunst mit sittlich veredelndem Anspruch entwickelt – im Gegensatz zur »niederen« Minne als ethisch minderwertiger, nur der Befriedigung des Geschlechtstriebs dienender Kraft. Als wichtigstes Motiv ritterlichen Handelns steht die Minne im Mittelpunkt des höfischen Romans, dessen Protagonist sich ohne Aussicht auf Liebeserfüllung in den »Dienst« einer sozial hoch stehenden verheirateten Frau begibt, wie auch in der Minnelyrik, die von der französisch-provenzalischen Troubadourlyrik geprägt ist. Je mehr der Minnedienst zum artifiziellen Spiel erstarrte, desto stereotyper wurden seine Inhalte: die Klage um nicht erfüllte Liebessehnsucht, die Betonung von Standhaftigkeit und Treue, der formelhafte Preis der »hêren vrouwe«.

Wussten Sie, dass …

Walther im Kreuzgang des Würzburger Neumünsters begraben sein soll?

der Dichter von den späteren Meistersingern unter ihre »Zwölf Alten Meister« gerechnet wurde?

Walther erstmals das Thema des Alterns in die mittelalterliche Lyrik einführt?

Eschenbachs Parzival: Vom tumben Toren zum edlen Ritter

Wer war Wolfram von Eschenbach?

Der im fränkischen Eschenbach in der Nähe von Ansbach geborene Wolfram (um 1170 bis 1220) lebte am Hof des kunstsinnigen Landgrafen Hermann von Thüringen, unter dem auch der berühmte »Sängerkrieg auf der Wartburg« stattgefunden haben soll. Neben höfischen Epen (»Willehalm«, um 1215, und »Titurel«, nach 1215, der die Familiengeschichte Parzivals um die Vorgeschichte erweitert) ist Wolfram für seine Tagelieder bekannt, in denen die Liebenden nach einer gemeinsam verbrachten Nacht ihren Abschiedsschmerz kundtun. Unter den Dichtern seiner Zeit ist er formal wie inhaltlich einer der interessantesten; sein Werk zeugt ebenso von vielfältiger Bildung wie von Eigenwilligkeit und Menschenkenntnis.

Welche Bedeutung hat der »Parzival«?

Der »Parzival« (um 1200/1210), Wolframs wichtigstes und einziges vollständig erhaltenes Werk, ist ein 25 000-Verse-Epos in 16 Büchern nach dem Vorbild von »Perceval oder Die Erzählung vom Gral« von Chrétien de Troyes. Es wurde mehrmals umgearbeitet und auf diese Weise zu einem nahezu unentwirrbaren, anspielungsreichen Geflecht von Einzelhandlungen verdichtet, an dem bislang fast alle strukturanalytischen, stoff-, religions- oder ideengeschichtlichen Deutungsversuche scheiterten.

Worum geht es in dem Vers-Epos?

Thema ist das Heranreifen Parzivals zum vorbildlichen Ritter und Gralskönig, wobei der wie ein Leitmotiv erscheinende »zwîvel« (auch in religiöser Hinsicht) sich nach und nach zur »staete« (Beständigkeit) wandelt. Schon zu Beginn klingt das religiöse Thema an: Parzivals Vater Gahmuret, der dem Artusgeschlecht entstammte, stürzte zwei Frauen ins Unglück, indem er sie verließ und auf einem Kreuzzug das Leben verlor: die »Mohren«-Königin Belcane mit dem gemeinsamen Sohn Feirefiz und Parzivals Mutter Herzeloyde aus dem Geschlecht der Gralskönige. Herzeloyde, die dem Sohn das Schicksal seines Vaters ersparen will, zieht ihn in der Wildnis groß und stattet ihn mit einer Mähre und einem Narrengewand aus, als sie nicht verhindern kann, dass er nach einer Begegnung mit Rittern ebenfalls nach »aventiure« dürstet.

Welche Entwicklung durchläuft Parzival?

Analog zur Heilsgeschichte vollzieht sich Parzivals Wandlung vom »tumben toren« zum Gralskönig, vom naiven Paradieszustand des Nicht-Wissens über den Sündenfall zur Erlösung. Durch naive Befolgung der Ratschläge, die man ihm gegeben hat, wird er mehrfach schuldig: an seiner Mutter Herzeloyde, die aus Schmerz über seinen Weggang stirbt, an der schlafenden Jeschute, der er Kuss und Brosche raubt, und an seinem Verwandten Ither, den er erschlägt, ohne zu wissen, wen er vor sich hat.

Bei seinem Onkel Gurnemanz durchläuft er die formale Ritterschule, wobei er dessen Ermahnung »ir sult niht vil gefragen« falsch interpretiert: Nachdem er Condwiramurs als Gattin gewonnen und wieder verlassen hat, vermeidet er auf der Burg Munsalvaesche die durch die christliche caritas gebotene Frage nach der tödlichen Wunde seines Onkels, des Gralskönigs Anfortas.

Wie kommt es zur Läuterung?

Zunächst folgt der doppelten Verfluchung (durch seine Cousine Sigune und die Gralsbotin Cundrie) ein trotziger Versuch, den Gral zu gewinnen – ohne Einsicht in seine Schuld. Erst nach der Begegnung mit dem idealen Ritter Gawan weist ihm sein Onkel, der Einsiedler Trevrizent, den Weg zu Reue und Gnade, und er erhält Gelegenheit, seine ritterliche Reife unter Beweis zu stellen. Ein Zusammentreffen mit seinem heidnischen Halbbruder Feirefiz, der sich als Muster an Ritterlichkeit erweist, führt zu seiner Aufnahme in die Artusrunde. Als die Gralsbotin Parzival noch einmal nach Munsalvaesche ruft, stellt er seinem Onkel die erlösende Frage. Er gewinnt Gral und »saelde« (irdisches und transzendentes Glück) und findet Condwiramurs wieder, die ihm inzwischen Zwillinge geboren hat.

Welchen Widerhall fand der »Parzival« in der Nachwelt?

Die breite Rezeption der Gralsthematik schlug sich in Bearbeitungen und Neudichtungen nieder (Wolframs »Titurel«, nach 1215; Heinrich von dem Türlin, »Krone«, 1220; Albrecht von Scharfenberg, »Jüngerer Titurel«, 1280; Colin und Wisse, 14. Jahrhundert; Ulrich Füetrer, 15. Jahrhundert). Ihre heutige Bekanntheit ist Richard Wagner zu verdanken, der unter dem Eindruck von Arthur Schopenhauers Willensmetaphysik sein 1882 uraufgeführtes Bühnenweihfestspiel »Parsifal« schuf. Im Zuge der Esoterikwelle trieb sie manch skurrile Blüte, etwa im Film »Indiana Jones und der letzte Kreuzzug« (1989).

Was ist der heilige Gral?

Im Mythos vom Gral (altfranzösisch graal), überliefert durch die Gralsromane von Chrétien de Troyes und Robert de Boron, verdichten sich jüdisch-christliche und keltische Symbolik, mystisch-alchemistische Vorstellungen (Kabbala, »Stein der Weisen«) und Motive der Artusepik in einem geheimnisvollen, heiligen Gegenstand, der seinem Besitzer himmlisches und irdisches Glück vermittelt. In der französischen Überlieferung wird er als christlich-eucharistisches Kultgefäß interpretiert, in dem Joseph von Arimathia das Blut Jesu auffing, bei Wolfram ist der Gral ein »stein« (Edelstein) mit mystischen Qualitäten. Er wird auf der Gralsburg Munsalvaesche von einem Ritterorden bewacht und ist nur Berufenen zugänglich.

Dantes Divina Commedia: Von der Hölle zum Paradies

Welche Rolle spielt Dante Alighieris Biografie?

Drei Dinge waren wichtig im Leben Dante Alighieris (1265–1321): seine enzyklopädische Erziehung bei Bruno Latini, die Hassliebe zu Florenz und die schöne Bankiersfrau Bice Portinari, die sich durch ihren frühen Tod als 24-Jährige zur Vergötterung förmlich anbot. In den 100 Gesängen seiner zwischen 1307 und 1321 in der Verbannung verfassten »Göttlichen Komödie« hat der Dichter über seine Geburtsstadt und den Lehrer zu Gericht gesessen: Im 26. Höllengesang wird Florenz mit Schmähungen bedacht, und Latini muss qualvoll bei den Sodomiten schmoren. Verklärt als engelsgleiche Beatrice aber darf Bice im Himmel auf den Dichter warten.

Welche Stationen hat Dantes Reise?

In kühner Metaphorik beschreibt Dantes »Göttliche Komödie« die Reise Dantes durch Hölle, Fegefeuer und Paradies, die in Beatrices Armen glücklich endet. Damit ist das verzweifelte Motto des Höllentors, durch das Dante zögernd schreitet (»Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr eintretet«), heils- und liebesgeschichtlich relativiert. Von seinem großen Vorbild Vergil an die Hand genommen, wird Dante durch Hölle und Läuterungsberg geleitet. Danach reicht der römische Autor, dem als Heiden die Pforten religiöser Glückseligkeit verschlossen sind, den Dichter an Beatrice weiter: War er Verkörperung der Vernunft, so ist Beatrice als Instrument des göttlichen Willens stilisiert, der durch den Himmel führt. In jeder der drei Jenseitszonen lernt Dante insgesamt fast 600 Helden aus Mythos und Geschichte kennen, darunter Odysseus, Judas, Petrus, Adam, Johannes oder Bernhard von Clairvaux: Sie alle sind eines speziellen Lasters schuldig oder waren früher im Erdenleben auf ganz bestimmte Weise tugendhaft. Konkrete Strafe (und konkreter Lohn) zeigen ihren Status in Gottes Heilsplan an.

Wie ist die dargestellte Welt aufgebaut?

Dante hat seine Architektur des Jenseits in 27 Stufen trichter- und terrassenförmig angelegt; damit wird der nach oben verengende Sog des Schwindel erregenden Höhenflugs ins Bild gefasst. Dabei ist jeder der drei Abschnitte aus 33 Gesängen aufgebaut, wobei dem ersten Teil eine zusätzliche Einführung beigegeben ist: ein raffiniertes Zahlenspiel, das die harmonische Struktur der »Göttlichen Komödie« symbolisch spiegeln soll.

Verfasst ist die Dichtung in Terzinen, die dem Reimschema aba, bcb, cdc … folgen. Dieser Strudel der Strophen zieht auch den Leser hinein in die 14233 besten Verse Italiens. Seinen Grundsätzen gemäß hat Dante sein Gedicht in Volkssprache und nicht in Latein verfasst, und so das Italienische zur Literatursprache erhoben. Um darauf hinzuweisen, dass seine Fahrt von der Hölle zum Himmel auch stilistisch durch alle Höhen und (komischen) Tiefen führen will, wählte er in Anlehnung an Horaz »comœdia« als Titel.

Wie wurde das Werk aufgenommen?

Dantes Dichtung wurde in über 25 Sprachen übertragen, Künstler wie Botticelli und Michelangelo, William Blake und Gustave Doré ließen sich vom Ideenkosmos der »Göttlichen Komödie« zu Illustrationen inspirieren. Nur Johann Wolfgang von Goethe fühlte sich unwohl im »Moderduft aus Dantes Hölle« und Arno Schmidt sah im Inferno-Kapitel gar düstere Konzentrationslagerfantasien flackern.

Die meisten Dichter aber lasen anders. So beginnt die Erzählung »Dante und der Hummer« (1934) von Samuel Beckett mit dem lähmenden Leseerlebnis eines aus Dantes Purgatorium entnommenen (und beim irischen Autor zum »Mondcanto« um Beatrice aufgestiegenen) Helden: »Es war Vormittag, und Belaqua hatte sich im ersten Mondcanto festgelesen. Bis zum Hals steckte er drin, er konnte weder vor noch zurück.«

Wussten Sie, dass …

das von Touristen heute als Casa di Dante in Florenz besuchte Haus keine Bausubstanz mit dem Geburtshaus des Dichters gemein hat?

Dante mit seiner Ehefrau Gemma Donati drei Söhne und eine Tochter hatte?

die politischen Unruhen dieser Zeit zu einer Verurteilung des Dichters zum Tod und zu seinem Exil führten?

Wie ist das Werk zu verstehen?

Eine Lektürereise durch Dantes Jenseitswelt kann auf vielen Ebenen beginnen: Neben einer wörtlichen Lesart der »Göttlichen Komödie« sind, ganz nach dem mittelalterlichen Fahrplan der Lehre vom vierfachen Schriftsinn, auch allegorische und moralische Zugänge möglich. Ein »anagogischer« Einstieg sollte die Leser damals gar ihrem Seelenheil näher bringen. Tatsächlich ist Dantes Epos nur mit genauer Kenntnis des politischen, wissenschaftlichen und philosophischen Hintergrundes seiner Entstehungszeit ganz zu verstehen.

Petrarcas Canzionere: Im Zwiespalt der Gefühle

Wie lebte Petrarca?

Der italienische Dichter und Humanist Francesco Petrarca (1304–1374) wurde als Sohn eines Notars im toskanischen Arezzo geboren und wuchs in Frankreich auf, dem Land der Troubadourdichtung. Nach dem Studium der Rechte trat er in den geistlichen Stand. Im Dienst des Kardinals von Colonna und der Mailänder Adelsfamilie Sforza unternahm er Reisen durch ganz Europa und wirkte als Gesandter bei Kaiser Karl IV. in Prag; er lebte in der Vaucluse, in Mailand, Venedig, Padua und auf seinem Landgut in Arquà.

Wie beeinflusste die Antike den Dichter?

Als einer der ersten Humanisten neben Boccaccio begann Petrarca, die christliche Lehre mit intensiven Studien der Antike (»studia humanitatis«) – besonders auf den Gebieten der Rhetorik (Cicero), Moralphilosophie (Augustinus) und Geschichtsschreibung – in eine fruchtbare Verbindung zu setzen. Sein Menschenbild, das die Würde des Individuums betonte und damit die Grenzen der mittelalterlichen Scholastik im Sinne der Renaissance überschritt, fand in seinen philosophischen Schriften in lateinischer Sprache ihren Ausdruck. Sie behandeln Themen wie die »Weltverachtung« oder das »Einsiedlerleben« im Einklang mit der Natur, versunken in Studium und Gebet.

Neben den lateinischen Dichtungen, unter anderem dem Hexameter-Epos »Africa« über die Taten des älteren Scipio nach dem Vorbild von Vergils »Aeneis«, schuf er unter dem Einfluss von Dante eine anspruchsvolle Gefühls- und Gedankenlyrik in italienischer Sprache, die damit erstmals in den Rang einer Literatursprache erhoben wurde.

Wann entstand Petrarcas wichtigstes Werk?

Petrarcas bedeutendstes Werk, der »Canzoniere« (»Buch der Lieder«, auch »Rerum vulgarium fragmenta«), entstand ab 1336. Das Werk ist eine Sammlung von Gedichten; neben Kanzonen, Sextinen, Balladen und Madrigalen enthält es hauptsächlich Sonette. Die 1470 im Druck erschienenen Verse beschreiben die unerfüllte Liebe des Dichters zu der – historisch nicht genau fassbaren – Laura, der er 1327 bei einem Gottesdienst begegnete. In der Tradition höfischer Troubadourlyrik und nach dem Vorbild von Dantes »Beatrice« stilisiert er sie zum unerreichbaren Idealbild. Dabei geht er jedoch über das abstrakte Modell des Minnedienstes, aber auch über das Pathos der provenzalischen Troubadoure hinaus, die das »engelhafte« Wesen der Frau in stereotypen Floskeln feiern; er nimmt Laura in ihrer Individualität wahr, etwa auch in ihren Bewegungen und ihrem Mienenspiel. Ihre Zurückhaltung, deren tiefere Ursachen nie offengelegt werden, stürzt ihn in einen Zwiespalt unterschiedlichster Gefühlsregungen, die er fast psychologisch auslotet, ohne dabei jedoch das strenge Korsett virtuoser Antithetik abzustreifen.

Lässt sich die berühmte Lyriksammlung inhaltlich gliedern?

Das streng durchkomponierte Werk teilt sich in die Teile »In vita …« (Gedicht 1–266) und »In morte di Madonna Laura« (267–366); der zweite entstand nach dem Tod Lauras, die vermutlich der Pestepidemie von 1348 zum Opfer fiel. Geprägt ist es durch das Schwanken zwischen sinnlichem Begehren und distanzierter Entsagung, in den späten Gedichten auch zwischen Verlangen nach Dichterruhm und christlicher Demut. Mit ihren gewählten Metaphern und Wortspielen, wie der Symbolik Laura – lauro (italienisch für »Lorbeer«), schufen seine Gedichte erstmals seit dem Minnesang eine komplexe, hochartifizielle Liebeslyrik, die in ganz Europa Einfluss gewann.

Welchen Einfluss hatte die Lyrik des Dichters?

Der Ruhm des Poeta laureatus lebte in der breiten, bis in die Epoche des Barock wirksamen Tradition des »Petrarkismus« fort, einer ästhetisch stilisierten Liebesdichtung, die in ihren Motiven und Formen an die Dichtung Petrarcas anknüpft (in Deutschland durch Martin Opitz und Paul Fleming). In späterer Zeit ging der individuelle Charakter dieser Lyrik allerdings teilweise verloren, indem ihre preziösen Metaphern (»Korallenlippen«) zunehmend »katalogisiert« und stereotyp-floskelhaft verwendet wurden. Andererseits bildete die kunstvolle Sonettform in der Nachfolge Petrarcas eine formale Herausforderung, an der sich Dichter von William Shakespeare bis in die jüngere Zeit – so etwa Rainer Maria Rilke mit »Sonette an Orpheus« aus dem Jahr 1923 – zu messen versuchten.

Wussten Sie, dass …

Petrarcas Vater als Anhänger des Papstes aus Florenz verbannt wurde?

der Dichter im französischen Montpellier Jura studierte?

Petrarca aufgrund seiner Beschreibung eines Aufstiegs auf den Mont Ventoux am 26. April 1336 als erster Bergsteiger gilt?

Welche Form bevorzugte Petrarca?

Unsterblichen Ruhm errang Petrarca, der 1341 in Rom nach antikem Vorbild mit Lorbeer zum Dichter gekrönt wurde (»Poeta laureatus«), mit der Form des Sonetts, das in Klarheit und Symmetrie zwei widersprüchliche Gedanken formuliert – das Phänomen der Liebe in seinen paradoxen Erscheinungsformen – und sie anschließend dialektisch versöhnt.

Das petrarkische Sonett besteht aus einer acht- und einer sechszeiligen Strophe, die sich in zwei Quartette (Reimschema abba) und zwei Terzette gliedern. Das erste Quartett führt das Thema ein (These), dem im zweiten ein gegensätzlicher Gedanke folgt (Antithese). Die beiden Terzette schließlich bringen beide Gedanken zur Synthese.

Boccaccios Decamerone: Amouröses in Novellenform

Wie entstand der Novellenzyklus?

Im Jahr 1348, nach der großen Pest in Florenz, begann der italienische Dichter und Humanist Giovanni Boccaccio (1313–1375) seinen berühmten Erzählzyklus »Decamerone«, der die Tradition der Novelle begründete und mit seinen amourösen und witzigen Geschichten bis heute bezaubert.

Was enthält das Werk?

Das »Decamerone« (von griechisch »deka«, zehn, und »hemera«, Tag), 1353 fertiggestellt und 1470 gedruckt, nimmt in einer realistischen Beschreibung der grausam wütenden Pest seinen Ausgang. Es ist eine Sammlung von 100 lebendig erzählten und raffiniert komponierten »Geschichten, Fabeln, Parabeln oder wirklichen Begebenheiten«, die eine Rahmenhandlung zusammenhält.

Wer erzählt die einzelnen Geschichten?

Sieben Frauen und drei Männer fliehen für zehn Tage vor Pest und drohendem Tod in ein idyllisches Landhaus nahe Florenz. Das Schreckensszenario des Anfangs wird durch die arkadische Utopie des Landlebens abgelöst. In der Abgeschiedenheit vertreiben sich die Protagonisten die Zeit, indem sie einander jeden Tag in wechselndem Turnus je eine Geschichte (also täglich zehn Geschichten) erzählen.

Thema sind die teils amourös-lasziven, teils galanten, teils witzigen Erlebnisse von unkeuschen Mönchen, raffinierten Bäuerinnen, tumben Rittern, tollpatschigen Handwerkern, durchtriebenen Edelfrauen und klugen Halunken. Am Ende jedes Tages trägt einer der Erzähler eine Kanzone, ein Lied in Gedichtform, vor. Hier zeigt sich Boccaccio als fulminanter Lyriker. Nach der 100. Geschichte kehrt die Gruppe nach Florenz zurück.

Wie wurde die Falkennovelle zum Modell?

Boccaccios »Decamerone« gilt als unübertroffenes Meisterwerk italienischer Renaissanceprosa. In anspruchsvoller Komposition wird das Leben der Helden psychologisch pointiert und treffsicher dargestellt. Stilistisch ließ sich Boccaccio von den lateinischen Rhetorikern beeinflussen.

Herausragend ist vor allem die neunte Geschichte des fünften Tages, die von der wahrhaft aufopfernden Liebe des jungen Federigo degli Alberighi zu der schönen Adeligen Monna Giovanna erzählt. Sie will zunächst nichts von ihm wissen. Um sie zu beeindrucken, verschwendet der Edelmann seinen ganzen Besitz und muss sich mit seinem geliebten Falken auf ein kleines Bauerngut zurückziehen. Als Giovannas Sohn erkrankt und um den Falken bittet, um wieder gesund zu werden, besucht die Dame Federigo und fleht ihn an, sie zum Mittagessen einzuladen. Weil er sonst nichts Angemessenes zu essen anbieten kann, tötet er den Falken. Giovanna ist gleichermaßen gerührt und entsetzt von dieser Tat, und nach dem Tod ihres Sohnes willigt sie ein, Federigo zu heiraten. Die »Falkentheorie« des deutschen Schriftstellers Paul Heyse (1830 bis 1914), die dieser zur Illustration seines Novellenmodells heranzog, nimmt auf diese Erzählung Bezug. Bei Heyse wird der Falke zum Sinnbild eines Erzählens, das mit einem motivisch immer wiederkehrenden Dingsymbol, »in einem einzigen Kreise nur einen einzigen Konflikt« bündelnd, zusammenfasst.

Woher hatte der Dichter seine Stoffe?

In Boccaccios »Decamerone« flossen viele traditionelle Stoffe ein, deren Ursprung zum Teil nicht mehr sicher auszumachen ist; Vorbilder waren die französischen Fabliaux, französische Verserzählungen, griechische und lateinische Sagen, Volkssagen, orientalische Märchen und mittelalterliche Schwänke: Rund neun Zehntel des Werks nähren sich aus diesen (allerdings stark bearbeiteten) Quellen.

Nicht zuletzt schöpfte Boccaccio aber aus eigener Beobachtung und Menschenkenntnis. Indem er die Klugheit seiner Helden über göttliche Vorsehung stellte, wandte er sich vom Erzählimpuls des Mittelalters kategorisch ab. Statt hoher Minne herrscht eine eher triebhaft-sexuelle, stark körperlich-diesseitige Liebesvorstellung vor. Das von Krankheit beherrschte dunkle Mittelalter weicht literarisch der Sinnenfreude der Renaissance – was der Dominikanermönch Girolamo Savonarola zum Anlass nahm, das »Decamerone« öffentlich zu verbrennen.

Wie verlief Boccaccios Lebensweg?

Giovanni Boccaccio wurde 1313 als unehelicher Sohn eines Kaufmanns und einer adeligen Französin in Certaldo bei Florenz geboren. Obwohl er schon im Alter von 10 Jahren erste Gedichte verfasste, machte der Dichter zunächst eine Ausbildung zum Kaufmann und ging im Auftrag seines Lehrherrn 1327 nach Neapel. Ein Studium der Rechte brach er nach sechs Jahren ohne Abschluss ab. Am neapoletanischen Hof gewann er eine uneheliche Tochter des Königs zur Geliebten. 1340 kehrte Boccaccio nach Florenz zurück, 1350 starb sein Vater an der Pest. Er befreundete sich mit dem Lyriker Petrarca und arbeitete als Diplomat für seine Vaterstadt. 1363 zog sich Boccaccio unter dem Einfluss des Kartäusermönchs Giachino Giani auf sein Landgut zurück. Den Plan, in ein Kloster einzutreten, führte er nicht mehr aus. 1375 starb er auf seinem Landgut Certaldo.

Wussten Sie, dass …

auf Betreiben Boccaccios der erste Lehrstuhl für Altgriechisch in Florenz eingerichtet wurde?

der Schriftsteller 1360 in den niederen Geistlichenstand trat?

Boccaccios Novellenmodell die gesamte europäische Erzählliteratur späterer Generationen beeinflusste?

sich die berühmte »Ringparabel« aus Gotthold Ephraim Lessings Drama »Nathan der Weise« dem Decamerone-Modell verdankt?

Chaucers Canterbury Tales: Spiegel der Ständegesellschaft

In welchem politischen Umfeld entstand die Erzählungssammlung?

Geoffrey Chaucer (um 1343–1400) sah sich unter dem tyrannischen Richard II. seiner offiziellen Funktionen am Hof und in der Politik beraubt. In dieser für ihn kritischen Phase entstand, beeinflusst durch Boccaccio und dessen Hauptwerk »Decamerone«, Chaucers wichtigstes Werk, die »Canterbury Tales«; einzelne Erzählungen, die bereits in früherer Zeit geschrieben waren, wurden mit einbezogen. Chaucer kam erst wieder zu Amt und Würden, als Richards Cousin Heinrich Bolingbroke, der Sohn von Chaucers Gönner Johann von Gent als Heinrich IV. 1399 König wurde.

Welche Figuren treten in dem Text auf?

Von Boccaccio übernommen wurde das Prinzip der Rahmenhandlung: Eine Wallfahrt zum Grab des heiligen Thomas Becket in der Kathedrale von Canterbury führt 30 Pilger im »Tabard Inn«, einem Gasthaus am Ufer der Themse, zusammen. In lebensnahen Porträts werden sie von ihrer äußeren Erscheinung bis hin zu ihren individuellen Gepflogenheiten vorgeführt, ein exakter Spiegel der englischen Ständegesellschaft des 14. Jahrhunderts in Form eines wild bewegten Panoptikums: Adel (ein weitgereister Ritter mit Sohn) und Großgrundbesitzer, geistlicher Stand in verschiedenen Facetten (Äbtissin und Priester, feister Benediktiner und abgerissener Bettelmönch), Studierte wie Justitiar und Arzt, Handwerker aller Art, Bediensteter, Ackermann und Ablasskrämer, Büttel und Seemann, bunt gemischt, und schließlich der Erzähler selbst als Vertreter der eigenen Profession.

Wie kommt es zu den Binnenerzählungen?

Der Gastwirt macht den Vorschlag zu einem Wettbewerb, den er selbst als Schiedsrichter begleiten will. Jeder der Teilnehmer soll in dem Gasthaus vier Geschichten erzählen, je zwei auf der Hin- und Rückreise. Von diesen geplanten 120 »Canterbury Tales« wurden nur 24 ausgeführt, drei davon blieben Fragment, eine davon absichtlich. Als »Sir Topaz« ironisiert der Dichter darin seine eigene Rolle ebenso wie den zeitgenössischen Versroman, indem er sich vom Wirt als erbärmlicher Poet schwerfälliger »Knittelverse« das Wort abschneiden lassen muss.

Auf welche Vorbilder griff Chaucer zurück?

Um in einer Art zwanglosem Reigen die Gesellschaft seiner Zeit vor Augen zu führen, bediente sich Chaucer aus verschiedensten Quellen: von der Antike (Ovid und Livius) über das frühe Mittelalter bis hin zu beliebten zeitgenössischen Genres, wie Heiligenlegende und Predigt, höfischer Roman, Fabel und Schwank (die in der Tradition der derben französischen mittelalterlichen Erzählungen stehen). Natürlich werden die Vorlagen abgewandelt, völlig neu gestaltet oder ironisch parodiert.

Wie ist der Text gebaut?

Dem Prinzip der Abwechslung entspricht auch die kontrastierende Anordnung der Geschichten, die durch die Rahmenerzählung geschickt verknüpft werden; der konsequent durchgehaltene Reim kommt bald flüssig und raffiniert, bald ungeschickt holpernd daher, dann wieder getragen von heroischem Pathos. Einer pathetischen Romanze über die höfische Liebe (nach Boccaccios »Teseide«) etwa folgt ein obszöner Schwank des betrunkenen Müllers. Die zynischen Reden des Ablasskrämers über den Machtmissbrauch der Kirche finden ebenso Platz wie die derben Zoten des Seemanns oder Kochs.

Welche Wirkung hatten die »Canterbury Tales«?

Chaucer gab die Wirklichkeit realistisch wieder und betonte gegenüber dem Formelhaft-Künstlichen der mittelalterlichen Konventionen das Individuelle. Damit verlieh sein Werk einem neuartigen Lebensgefühl Ausdruck; es strahlte nicht nur auf seine Heimat aus, wo es den Ausgangspunkt einer humorvoll-realistischen Erzähltradition bildete. Stärker noch war seine Wirkung in einer novellistischen Literatur in der Nachfolge Boccaccios, die von verschiedenen Personen vorgetragene Erzählungen in einer Rahmenhandlung zusammenfasst: von Margarete von Navarras »Heptameron« (1558) bis hin zu Christoph Martin Wielands »Hexameron von Rosenhain«, Johann Wolfgang Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« (1794/95) oder E. T. A. Hoffmanns »Serapionsbrüdern« (1819–1821).

Woher hatte Chaucer seinen Stoff?

Ein bewegtes Leben lieferte Geoffrey Chaucer das Material für sein komplexes Werk. Als Page am Königshof ausgebildet, trat der Weinhändlersohn aus London in den diplomatischen Dienst, der ihn nach Italien und Frankreich führte; später war er in höchsten Verwaltungsämtern tätig. Zunächst beeinflusst durch die altfranzösische Literatur, wurde er durch die Begegnung mit Petrarca und Boccaccio zu eigenen Werken angeregt. Darunter sind »The Book of the Duchesse« (1369), ein Traumgedicht über den Tod der Gattin eines Gönners und »Troilus and Chryseyde« (1385), das die Geschichte des trojanischen Prinzen Troilus erzählt, der mithilfe einer Intrige die geliebte Cressida gewinnt, sie dann aber wieder verliert.

Wussten Sie, dass …

Chaucer durch die Verwendung der Volkssprache das Mittelenglische zur Literatursprache machte?

Chaucer als Erster ein Grabmonument im nationalen Dichterheiligtum der Westminster Abbey erhielt?

Rabelais' Gargantua und Pantagruel: Zwei Riesen auf Abwegen

Was wird im ersten Band erzählt?

Herkunft, Geburt, Erziehung und Waffentaten des riesenhaften Helden Pantagruel werden im 1532 erschienenen ersten Band von »Gargantua und Pantagruel« des François Rabelais geschildert. Der Name Pantagruel ist einem Teufelchen der spätmittelalterlichen Mysterienspiele entlehnt: Es streute Schlafenden Salz auf die Zunge, damit sie durstig erwachten. Ein kongenialer Gefährte erwächst Pantagruel in Panurge, einem »Tunichtgut, Falschspieler, Zechbruder … im Übrigen aber der beste Mensch auf der Welt«.

Was für ein Charakter ist Gargantua?

Die Geschichte von Pantagruels Vater Gargantua wird im zweiten Teil erzählt, der 1534 erschien und heutigen Ausgaben vorangestellt ist. Ob es daran liegt, dass er mit Wein statt mit Milch gesäugt wurde? Jedenfalls benimmt sich Gargantua gern daneben, ersinnt als Student unterhaltsame Spiele, tut sich im Krieg hervor und belohnt seinen besten Mitstreiter mit der Stiftung eines Klosters, in dem die Ordensregel »Tu, was du willst« gilt.

Wie geht es in den Bänden drei bis fünf weiter?

Der dritte Band (1546) beleuchtet in teils abstrusen Kommentaren die Schwierigkeit, die richtige Frau zu finden. Aussicht auf eine Problemlösung bietet das Orakel der »Göttlichen Flasche«, zu dem Pantagruel und seine Entourage sich im vierten Buch (1552) aufmachen. In der von zahlreichen Eskapaden und Exkursen unterbrochenen, letztlich erfolglosen Schiffsreise persifliert Rabelais das mittelalterliche Motiv der Gralssuche und gelangt dabei zu wahren Kabinettstücken der Erzählphantasie. Der postum nach Entwürfen des Verfassers vollendete fünfte Band (1564) vernachlässigt endgültig die Handlung zugunsten der Satire, ohne dabei an Rabelais' Brillanz anknüpfen zu können.

Mit welchen Einfällen verblüfft Rabelais?

Das Phantastische mancher Romanepisoden ergibt sich schon aus den gigantischen Körpermaßen Gargantuas und Pantagruels: Nach einer Schlacht streichen sie sich Kanonenkugeln aus dem Haar, sie verheeren mit einem Darmwind ganze Landstriche oder erledigen mit einem einzigen Schlag 600 Reiter.

Anatomisch exakt beschreibt der medizinisch beschlagene Autor aber auch die »Reparatur« eines Enthaupteten und geißelt in aberwitzigen Szenen Justizwillkür, etwa die Urteilsfindung durch Würfeln, und die Absurditäten scholastischer Gelehrsamkeit.

Zur Lieblingslektüre Pantagruels zählt der »Beschluss der Pariser Universität über die Busenfreiheit der Frauenzimmer« – nur ein Titel in einer Liste imaginärer Bücher, mit der Rabelais den Leser verblüfft, wie andernorts mit der detailierten Schilderung eines Narren oder der Auflistung dutzender Köche mit kuriosen Namen bei der Zubereitung einer Sau.

Worin zeigt sich das Sprachgenie Rabelais'?

Seine Sprachkunst besticht durch Wortschöpfungen und poetische Erfindungsgabe, wie in der Szene aus Pantagruels Schiffsreise, als man am Rande des Eismeers auf den gefrorenen Schlachtenlärm einer vergangenen Epoche stößt: »Pantagruel warf uns ein paar Hände voll gefrorener Worte aufs Deck. Sie sahen ganz wie bunt gefärbte Zuckerkügelchen aus. Es waren rote, grüne, azurblaue, sandfarbene, auch vergoldete Worte, und nachdem wir sie wie Schnee in den Händen hatten auftauen lassen, vernahmen wir sie auch, verstanden sie aber nicht, denn sie waren alle aus einer barbarischen Sprache.«

Wird in der Geschichte viel gegessen?

Die Gefräßigkeit der Riesen ist ebenso groß wie sie selbst. So verspeist Gargantua mit einem Salat versehentlich auch mehrere Pilger, einem »bauchmächtigen Gott« wird ein Opfer-Menü von hundert Gängen gebracht, eine Insel wird komplett von Würsten bewohnt.

Wie wurde Rabelais zum Geistesriesen der französischen Renaissance?

Der Advokatensohn François Rabelais – um 1494 geboren bei Chinon, 1553 gestorben in Paris – war zunächst Franziskanermönch, dann Benediktiner, später Weltgeistlicher. Er studierte Theologie in Paris und Medizin an der Universität von Montpellier. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit wirkte er als Arzt, unter anderem in Lyon. Erst in seinen letzten Lebensjahren kam er als Inhaber einer Pfarrei nahe Paris zur Ruhe. Denn wie viele Intellektuelle seiner Zeit pflegte Rabelais den unruhigen Lebensstil der Vaganten. Dank seiner losen Zunge und seines satirischen Werks stand es um den Ruf des hochgebildeten Humanisten nicht zum Besten. Mehrmals wurde er der Ketzerei bezichtigt. Doch sein königlicher Förderer Franz I. von Frankreich (Reg. 1515-1547) hielt seine schützende Hand über ihn.

Wussten Sie, dass …

noch heute maßloses Schlemmen als »gargantuesk« bezeichnet wird?

sich der Gourmet und Gourmand Balzac, der wie Rabelais der fruchtbaren Touraine entstammte, sich sicher nicht zufällig als Wesensverwandter Gargantuas empfand?

Luthers Bibelübertragung: Gottes Wort in der Sprache des Volkes

Was suchte der Teufel auf der Wartburg?

Angeblich wollte er Luther in seinem Übersetzungswerk stören. Jedenfalls soll dem Übersetzer 1521 der Böse höchstselbst erschienen sein. Geistesgegenwärtig warf Luther ein Tintenfass nach dem flüchtenden Gottseibeiuns. Den dunklen Fleck, den die Begegnung hinterließ, kann man noch heute in der Wartburg bewundern. Vielleicht kam Martin Luther diese Erscheinung in den Sinn, als er später im fünften Buch Mose schrieb: »Der Teufel ist nicht so grewlich als man jn malet« – und damit die fratzenhaften Illustrationen des Antichristen auf reformatorischen Flugblättern, die gegen Papst und Ablasswesen polemisierten, Lügen strafte.

Bei seiner eigenen Tätigkeit ließ sich Luther lieber vom Göttlichen beflügeln: Schließlich habe er »das Evangelium nicht von Menschen, sondern allein vom Himmel durch unseren Herrn Jesus Christum« erhalten. Die eigene Leistung wird so selbstbewusst gepriesen wie das Werk eines fünften Evangelisten.

Warum übersetzte Luther die Heilige Schrift?

Luther glaubte, dass Häresie und klerikalem Machtmissbrauch nur durch eine Fassung der Heiligen Schrift in der Sprache des Volks zu begegnen sei. Im Spätsommer 1522 war der erste Akt dieser Aufklärung mit dem »Septembertestament« abgeschlossen. Aber erst nach 20 Jahren gewaltiger Anstrengung und permanenten Ringens um den richtigen Ausdruck konnte der Reformator in der ersten Druckfassung 1541 stolz verkünden, »die heilige Biblia hell und lauter in die deudsche Sprache bracht zu haben«. Nach mehreren Revisionen war bis 1546 ein Werk entstanden, das die Entwicklung der deutschen Kultur und Sprache schon deshalb wie kein zweites zuvor beeinflusste, weil es diese eigentlich erst schuf: Im Anfang war Luthers Wort.

Nach welchem Prinzip übersetzte Luther?

Noch bevor Luther 1534 seine »Biblia, das ist, die gantze Heilige Schrifft Deudsch« vorlegte, sah er sich der katholischen Kritik ausgesetzt, den Wortlaut des Originals im Sinn seiner »ketzerischen« Lehre teuflisch verdreht zu haben. 1530 antwortete der Reformator mit seinem »Sendbrieff. Von Dolmetzschen«, in dem er die sensible Wiedergabe des Textsinns (der »Meinung«) über den reinen Wortlaut stellte. Anders als der »Buchstabilist« könne der Dolmetscher »die Buchstaben fahren lassen«, wenn es der Wahrheit diene.

Wen warnt der Übersetzer zu Beginn?

Dem Bibeldruck von 1541 hat Luther eine Warnung vorangestellt, die alle »reubische Nachdrücker« und »untrewliche« Kopisten mit dem »Geitzteufel« und dem »Wucherteufel« in Verbindung bringt. Vor allem aber der Fehlerteufel war es, der dem Doktor der Theologie Kopfzerbrechen bereitete: »Sie machens hin rips raps / Es gilt gelt.« Deshalb wollte Luther nur den Besten gestatten, »Gottes wort wider an den tag ungefelscht / und wol geleutert / zu bringen«. Er könne nur hoffen, dass »unser Nachkommen werden in jrem nachdrücken / eben den selben vleis dran wenden / Da mit unser Erbeit rein und völlig erhalten werde«.

Tatsächlich haben Luthers Nachfolger seine Bibelübersetzung nur mehr nachgebessert; dies gilt für die revidierte Fassung des Jahres 1912 ebenso wie für alle »Neuübersetzungen«. Luther gebührt das Verdienst, ein Monument der deutschen Sprache – und das erste wahre Werk der neueren deutschen Literaturgeschichte – geschrieben zu haben.

Wussten Sie, dass …

Goethe betonte, die Deutschen seien durch Luther erst ein Volk geworden?

Heinrich Heine bemerkte, der Reformator habe »dem Geist einen Leib« und »dem Gedanken das Wort« gegeben?

Luthers Thesen nicht nur die Reformation, sondern auch den Bauernkrieg auslösten?

die Spaltung der Kirche letztlich auch zum Anlass für den verheerenden Dreißigjährigen Krieg wurde?

Wie wurde der Augustinermönch zum Reformator der Kirche?

Der Vater des späteren Bibelübersetzers war Bergmann und später Ratsherr in Mansfeld, wo Luther die Schule besuchte. Seit 1501 studierte dieser in Erfurt Philosophie.

Das Erlebnis eines Gewitters brachte den Studenten 1505 dazu, in ein Augustinerkloster einzutreten. 1512 wurde er Professor für Bibelerklärung in Wittenberg. Am 31. Oktober 1517 begann mit dem Anschlag der 95 »Thesen« – gegen katholische Bußpraktiken wie den Ablasshandel – an der Kirchentür die Reformation. 1521 wurde Luther vom Papst per Bannbulle exkommuniziert, im selben Jahr vom Reichstag geächtet.

Luther fand durch den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen Zuflucht auf der Wartburg. 1530 machte die Confessio Augustana die Kirchenspaltung perfekt. Ihr Auslöser hatte 1525 die ehemalige Nonne Katharina von Bora geheiratet. In der Folge verfasste er zahlreiche reformatorische Streitschriften. Er starb 1546 in Eisleben.

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