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Muslime in Deutschland: Die dritte religiöse Kraft im Land

Wie praktizierten die Muslime ihren Glauben in der Anfangszeit?

Die türkischen Arbeitnehmer richteten sich häufig in Wohnungen oder auch in Hinterhöfen kleine Moscheen ein, die nach außen nicht als Gotteshäuser zu erkennen waren. Der Bau klassischer Moscheen im orientalischen Stil ist in Deutschland bis heute nicht einfach. So ist es beispielsweise aufgrund des Widerstands von Anwohnern häufig schwierig, entsprechende Bauflächen zu bekommen. Unter anderem deshalb richteten sich die ersten muslimischen »Gastarbeiter« nur provisorisch ein. Es entwickelten sich auch keine religiösen Institutionen, die im Namen des Islam zu bestimmten Themen hätten sprechen können. Diese Rolle übernahmen später politische Gruppierungen, die jedoch lediglich eine Minderheit der Muslime repräsentierten.

Warum lebten die Muslime ihren Glauben zunächst nur im Privaten?

Der Grund dafür ist in den Zielen zu suchen, die die große Mehrheit der türkischen Arbeitskräfte in Deutschland zunächst verfolgte. Mit einem Anteil von etwa 2,5 Millionen ist die überwiegende Mehrheit der drei Millionen heute in Deutschland lebenden Muslime türkischer Herkunft. Die meisten der seit den 1960er Jahren angeworbenen Arbeitskräfte hatten ursprünglich überhaupt nicht geplant, lange in der Bundesrepublik zu bleiben. Vielmehr wollten sie in die Türkei zurückkehren, sobald sie genügend Geld gespart hatten, um unter besseren ökonomischen Voraussetzungen in ihrer Heimat einen Neuanfang wagen zu können. Aus diesem Grund blieben zunächst auch ihre Familien in der Türkei zurück.

Haben sich die Migranten in die deutsche Gesellschaft eingegliedert?

Hier liegt noch einiges im Argen. Zwar wurden aus den anfangs »Gastarbeiter« genannten Arbeitnehmern mehr als nur Gäste. So führten bessere Arbeitsmöglichkeiten als in der Türkei, die gute Sozial- und Krankenversorgung und anderes dazu, dass sich immer mehr türkische Muslime auf Dauer in Deutschland niederließen. Aus muslimischen Gästen wurden muslimische Bürger, mit Familien, Kindern und Kindeskindern. Mittlerweile ist ein Großteil der türkisch-stämmigen Muslime bereits in Deutschland geboren und auf Friedhöfen gibt es erste muslimische Gräberfelder.

Doch die Eingliederung ging nur sehr stockend voran. Bis zur Reform des Staatsbürgergesetzes im Jahr 2001 konnten in Deutschland geborene Türken erst nach mehreren Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben. Darüber hinaus blieb vor allem aufgrund der Sprachbarriere das Bildungsniveau der zweiten und dritten Generation türkischer Migranten hinter dem der Mehrheitsgesellschaft zurück. Auch in der Arbeitswelt sahen sich junge Türken und Türkinnen mitunter Diskriminierungen ausgesetzt.

Welche radikal-islamischen Gruppen gibt es?

Die Chancenungleichheit förderte die Unzufriedenheit vieler Migranten und führte zum Erstarken eines stärker politisch orientierten Islam. Türkische Vereinigungen wie die Islamische Gemeinschaft Milli Görüsh (IGMG) legten ihren Anhängern nahe, sich von der nichtmuslimischen Gesellschaft abzuschotten. Seit Jahren wird die Organisation vom Verfassungsschutz beobachtet. Ihr Ziel, einen islamischen Staat in der Türkei zu errichten, sei nicht vereinbar mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik, so die Begründung. Milli Görüsh gilt als deutscher Arm der in der Türkei verbotenen Wohlfahrtspartei.

Seit den 1990er Jahren geht die IGMG verstärkt auf Kirchen, Parteien und Behörden zu und bietet sich als Vertreterin des Islam in Deutschland an. Milli Görüsh ist mit rund 27000 Mitgliedern die größte muslimische Vereinigung in Deutschland. Darüber hinaus besucht eine noch wesentlich größere Anzahl von Gläubigen ihre Moscheen. Dennoch kann sie kaum den Anspruch erheben, »den Islam« in Deutschland zu vertreten. Nur 36 Prozent der Muslime in der Bundesrepublik gehören zu einer bestimmten Moschee. Nach Meinung von Petra Kappert, Turkologie-Professorin in Hamburg, praktiziert die Mehrheit der Muslime eine säkularisierte Form des Islam, wie er auch in der Türkei verbreitet ist. Dazu gehört unter anderem, dass man seinen Glauben weitgehend als Privatsache betrachtet. Milli Görüsh aber kritisiert das als »unislamisch«.

Warum findet kein islamischer Religionsunterricht statt?

Eine Ursache hierfür ist, dass es im Islam keine dem Christentum entsprechende religiöse Hierarchie gibt. Um einen Lehrplan zu entwickeln, bedarf es aber auf muslimischer Seite eines Gesprächspartners, der für sich in Anspruch nehmen kann, im Namen der Muslime zu sprechen. Als Ansprechpartner bieten sich häufig Organisationen wie Milli Görüsh an, die aber letztlich nur eine Minderheit der Muslime vertreten. Ehe der tatsächlich vorherrschende Islam in Deutschland eigene Strukturen entwickelt hat, wird es weiter zu rechtlichen Benachteiligungen kommen.

So kommt es, dass an deutschen Schulen mit Ausnahme des Bundeslandes Berlin bislang kein geregelter islamischer Religionsunterricht stattfindet, obwohl Muslime in der Bundesrepublik neben Katholiken und Protestanten die drittgrößte Religionsgemeinschaft bilden.

Wussten Sie, dass …

es seit Ende 2004 in Deutschland einen Lehrstuhl für die Religion des Islam gibt? An der Wilhelms-Universität in Münster sollen auch Lehrkräfte für den Religionsunterricht ausgebildet werden.

trotz aller Negativmeldungen die Integration der Türken voranschreitet? So verlassen jedes Jahr mehr als 4000 türkisch-stämmige Hochschulabsolventen eine deutsche Universität und die Zahl der türkischen Unternehmer in Deutschland hat schon lange die Marke von 50000 überschritten.

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