Wissensbibliothek
Rilkes Aufzeichnungen des Laurids Brigge: Poetische Innenschau
Was ist das zentrale Thema des Werks?
Die zum Teil autobiografisch geprägten, zwischen 1904 und 1910 entstandenen »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« von Rainer Maria Rilke (1875–1926) sind ein sprachgewaltiges Musterbeispiel der Sprachlosigkeit. Nur einmal versucht sich Rilkes 28-jähriger Titelheld – der übersensible Spross eines zerfallenden dänischen Adelsgeschlechts, den es nach Paris verschlagen hat– an einem »Briefentwurf«. Dann gibt er die Korrespondenz zugunsten von Tagebucheinträgen gänzlich auf: »Wozu soll ich jemandem schreiben, dass ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, dass ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.«
Wie ist das Verhältnis von äußerer und innerer Handlung?
Eine fortlaufende »äußere« Handlung ist im Roman nicht mehr auszumachen; die einzelnen Abschnitte der »Aufzeichnungen« nähern sich bisweilen dem Prosagedicht: »Dass man erzählte, wirklich erzählte, das muss vor meiner Zeit gewesen sein.« Das Schreiben wird zu einem introspektiven Dialog mit sich selbst: »Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste.«
Wodurch sind Gegenwart und Vergangenheit charakterisiert?
Die Gegenüberstellung von urbaner Gegenwart und ländlicher Vergangenheit ist ein zentrales Moment der Erzählung: In den »Aufzeichnungen« ist Paris der Ort der Krankheit und der Ängste: »So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier«, lautet der erste Satz des Romans. Demgegenüber lässt Malte seine Kindheit auf dem Familiensitz Schloss Ulsgaard im »Zurückdenken« wieder auferstehen. Wird im industrialisierten Paris »fabrikmäßig« gestorben, so hatte auf Ulsgaard jeder (namentlich der Kammerherr Detlev August) seinen eigenen, »bösen, fürstlichen Tod«. Diese Personifizierung des Untergangs korrespondiert mit spiritistischen Sitzungen auf dem Familiensitz, bei denen die Toten wieder in den Kreis der Lebenden kommen. Das Diesseits in Paris ist gespenstisch, das Jenseits auf Ulsgaard real.
Im zweiten Teil der »Aufzeichnungen« weitet sich Maltes Bewusstsein mit der Vergegenwärtigung von Persönlichkeiten der Weltgeschichte (Karl der Kühne, Karl VI., die Päpste in Avignon). Privates und Kollektives mischen sich in immer handlungsärmeren Reflexionen.
Welchen geistigen Prozess durchläuft Brigge?
Der in der Großstadt verlorene Adelssohn begibt sich auf die Suche nach seiner »ungetanen Kindheit«, der die »Aufzeichnungen« eine neue (poetische) Heimat geben. Darüber hinaus nimmt der sensibilisierte Malte Paris und seine Bewohner mit neuen Augen wahr. Er »lernt sehen«. Es gelingt ihm, unter die »Oberfläche des Lebens« und der Dinge (etwa einer isoliert übrig gebliebener Hauswand) zu schauen, hin auf einen Wesenskern, das »Dahinter« der Fassade auch jener »verschütteten Gesichter« der »Fortgeworfenen« von Paris. Aus poetischer Sicht wird das Ganze (»Häuser, die nicht mehr da waren«) rekonstruierbar. Hugo von Hofmannsthal hatte schon 1902 davon gesprochen, dass man »mit dem Herzen denken lernen« müsse. Rilkes Malte richtet den »Scheinwerfer seines Herzens« nach innen und beginnt, mit dem Herzen zu sehen.
Hat Lyrik noch Sinn?
Ja, durch ihre poetische Innenschau legitimieren die »Aufzeichnungen«, die mit der Absage an die Korrespondenz mit der Außenwelt begannen, die Rolle des Dichters: »Denn die Erinnerungen sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, erst dann kann es geschehen, dass in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.« Diese Wende hat Rilkes Roman, der sich mit seiner lyrischen Sprache vom Realismus des 19. Jahrhunderts verabschiedet, seinen Platz in der Weltliteratur gesichert.
Wie entwickelte Rilke seinen individuellen lyrischen Ausdruck?
Der am 4.12.1875 in Prag geborene Rainer Maria Rilke war zunächst vom Symbolismus beeinflusst, entwickelte aber um 1900 eine ausgeprägt eigenständige poetische Bildlichkeit. In den Gedichtbänden »Das Buch der Bilder« (1902) und »Das Stunden-Buch« (1905) trat das lyrische Ich zugunsten des Gegenständlichen zurück. Der Begegnung mit dem Bildhauer Auguste Rodin verdankte Rilke die Auffassung von Dichtung als religiöser Handlung. Die »Duineser Elegien« und »Die Sonette an Orpheus« (1923) gelten als seine Hauptwerke. In den Elegien beschrieb Rilke den Tod als Übergang in einen Zustand nicht sichtbarer, doch absoluter Substanz der inneren Wahrheit, in den Sonetten pries er Leben und Tod als kosmische Erfahrung. Er starb am 29.12.1926 in der Nähe von Montreux.
Wussten Sie, dass …
Rilke, der eigentlich René hieß, seinen Vornamen in Rainer änderte, weil seine Freundin Lou Andreas-Salomé den Namen für einen Schriftsteller passender fand?
die wesentlich ältere und verheiratete Lou, die Rilke 1897 in München traf, auch nach dem Ende ihrer mehrjährigen Beziehung eine enge Vertraute und seine wichtigste Ratgeberin blieb?
Das Labor im All
Medizinische Experimente gehören bei Weltraummissionen zur Tagesordnung. Sie lohnen sich in vielerlei Hinsicht. von FRANK FRICK Der Weltraum-Veteran Dafydd Rhys („Dave“) Williams beklagte im Herbst 2021: „Die Menschen spüren den Nutzen des Raumfahrtprogramms im Alltag oft nicht. Doch gleichzeitig ist die Technologie aus dem...
Jagdgemeinschaft aus Oktopus und Fischen
Eigentlich gelten Große Blaue Kraken als Einzelgänger. Bei der Jagd jedoch führen sie artübergreifende Teams an, um versteckte Beute zu finden. Das haben Forschende nun mit Hilfe von Unterwasseraufnahmen im Roten Meer beobachtet. Demnach führen Fische verschiedener Arten den Oktopus zu nahrhaftem, aber schwer zugänglichem Futter...