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Interview: Warum gibt es bei der Bahn so viele Verspätungen?

Mal sind es nur fünf Minuten, mal eine ganze Stunde: Immer wieder kommt es im deutschen Bahnverkehr zu Verspätungen. Im Jahr 2018 waren nur knapp drei Viertel aller Züge pünktlich – eine im Vergleich zu unseren Nachbarländern eher schlechte Bilanz. Aber woran liegt das? Und welche Lösungen gibt es für das chronische Verspätungsproblem der Bahn? Drei Experten der Fachhochschule Aachen erklären dies im Interview.
FH Aachen, 05.08.02

Blick auf die Anzeigetafel: Das weiße Tickerband mit der Problemmeldung in der rechten Spalte bedeutet meistens Ungemach.

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„Informationen zu RE1 nach Aachen. Abfahrt 7.20 Uhr. Heute ca. 20 Minuten später. Grund dafür ist die Verspätung eines vorausfahrenden Zuges“ — für viele Pendler, aber auch Fernreisende ist das ein wohlvertrauter Satz. Denn immer wieder kommt es im Zugverkehr zu Verspätungen. Gefühlt passiert dies im deutschen Bahnnetz immer häufiger. Täuscht dies oder ist da etwas Wahres dran? Und woran liegen die notorischen Verspätungsprobleme der Deutschen Bahn?

Antworten darauf geben drei Experten von der Fachhochschule Aachen. Bernd Schmidt lehrt am Fachbereich Maschinenbau und Mechatronik, sein Kollege Haldor Jochim ist Experte für Verkehrswesen und Ingo Elsen vom Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik ist auf Big Date spezialisiert.

Ganz zu Beginn: Wie sind Sie heute hier nach Aachen gekommen?

Schmidt: Ich komme jeden Morgen mit dem Zug von Köln-Ehrenfeld nach Aachen.

Jochim: Wunderbar! Das habe ich auch lange gemacht — mehr als 15 Jahre. Aber jetzt wohne ich in Burtscheid. (lacht)

Elsen: Das ist bei mir ähnlich. Wenn ich aber beruflich unterwegs bin, dann auf jeden Fall mit dem Zug.

Umweltfreundlich und sicher — die Schiene hat Zukunft. Und doch ist sie ein ständiges Aufregerthema, vor allem in puncto Pünktlichkeit. Wie schlimm würden Sie die aktuelle Verspätungslage im deutschen Zugverkehr bewerten?

Jochim: Also der Fernverkehr ist mittlerweile schon dramatisch schlecht.

Und der Nahverkehr?

Jochim: Der Nahverkehr ist deutlich besser. Mit gewissen Ausnahmen allerdings: Nordrhein-Westfalen ist da leider äußerst problematisch, hier ist häufig auch der Nahverkehr betroffen.

Der Fernverkehr ist aktuelle das größte Sorgenkind der Bahn.

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Die Deutsche Bahn AG gab in einer Pressemitteilung Anfang des Jahres bekannt, dass im Gesamtjahr 2018 eine durchschnittliche Jahrespünktlichkeit von 74,9 % im Fernverkehr und 94 % im Nahverkehr erreicht wurden — damit war die Bahn unpünktlicher als im Vorjahr. Unter diesen Umständen trifft man häufig auf verärgerte Reisende — sind wir heute in Zeiten gesellschaftlicher Beschleunigung vielleicht unzufriedener als früher?

Jochim: Die Bewertung ist wissenschaftlich ganz gut erforscht. Es gab sowohl in den 1990er-Jahren als auch in den 2010ern Kundenumfragen. Und es ist jedes Mal dasselbe rausgekommen. Der Fahrgast bewertet eine Verspätungsminute dreimal so schlimm wie eine zusätzliche Fahrzeitminute. Das scheint eine ziemlich konstante und international gleiche Angelegenheit zu sein.

Schmidt: Und im Vergleich zur Nutzung des eigenen Autos, das auch im Stau stehen kann, ist die Bewertung sogar fünfmal so hoch.

Woher kommt diese Bewertung?

Jochim: Daher, dass die Zugverspätung unvorhersehbar ist.

Schmidt: Und weil es die eigene Planung komplett durcheinanderbringt. Das Entscheidende ist die Frage, ob ich meinen Anschluss bekomme.

Jochim: … oder ob ich einen Termin verpasse.

Elsen: Wir wissen aber auch alle, dass, hätten die Leute dieselben zwei Stunden im Stau im Auto verbracht, die Zeit gefühlt viel schneller verflogen wäre. Weil — und das ist ein wesentlicher Punkt — die Leute ihr Auto als ihr Eigentum betrachten. Und bei der Bahn werde ich von jemand Drittem befördert.

Persönlich sehe ich das allerdings anders: Ich hasse es, auf langen Strecken Auto zu fahren. Ich sitze hinter dem Lenkrad und denke mir, was hättest du jetzt alles Gutes machen können.  Und das ist eigentlich ein wesentlicher Unterschied zum Auto. Man bekommt nützliche Zeit, ich kann lesen, schlafen, essen. Im Auto habe ich die nicht, ich bewege mich nur von A nach B. Und was Verspätungen angeht — mit dem Auto steht man ja wie gesagt schließlich auch irgendwo im Stau.

Was aber in den vergangenen Jahren ein großes Problem der Bahn war: Die Verspätungsinformationen stimmten oft nicht. Mein persönliches Erlebnis als Beispiel: Ich stehe am Aachener Hauptbahnhof. Der ICE aus Brüssel wird verspätet angekündigt, 10 Minuten, 25 Minuten, 45 Minuten. Die ganzen Gäste gehen runter in den Bahnhof und auf einmal kommt der Zug dann doch nur mit 10 Minuten Verspätung. Keiner bekommt die Durchsage mit, der ICE fährt durch und unten stehen dann 30 „extrem gut“ gelaunte Geschäftsreisende. Das ist aber in letzter Zeit dank des neuen Prognosesystems besser geworden, auch wenn das das eigentliche Problem nicht löst.

Für viele Pendler ist die fehlende Pünktlichkeit ein Reizthema.

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Und worin sehen Sie die Gründe für verspätete Züge?

Jochim: Das Blöde ist, der Hauptgrund für Verspätungen sind Verspätungen. (lacht) Das betrifft auf jeden Fall über die Hälfte der verspäteten Züge. Warum die vorausfahrenden Züge aber wiederum verspätet sind, kann man oft nicht mehr nachvollziehen. Ein Grund dafür ist aber mit Sicherheit, dass heute viel mehr Züge auf den Strecken rumfahren als vor 20 bis 30 Jahren.

Elsen: Genau, es handelt sich unter anderem um eine Frage der Kapazität des Netzes …

Jochim: … und das hat nicht Schritt gehalten.

Schmidt: Es kommt aber auch aus Managementproblemen, aus Materialproblemen oder auch aus politischen Weichenstellungen. Hinzu kommt die Fragmentierung der Arbeit: Die Fahrgastinformationen werden von der einen Gesellschaft erstellt, die Gleise von einer anderen, die Wagenumlaufplanung von einer dritten Gesellschaft und die Wartung der Züge von einer vierten. Pauschal eine Ursache zu suchen, da wäre ich extrem vorsichtig.

Elsen: Plus: Die Systeme, die für die Reiseinformationen genutzt werden, werden aus verschiedensten anderen Systemen gespeist. Da eine einheitliche Sicht auf alle Daten zu bekommen, ist eine große Herausforderung.

Stichwort IT-technische Katastrophe: Helfen uns digitale Ansätze eigentlich wirklich immer weiter?

Schmidt: Wenn ich ein System habe und versuche, den Menschen rauszunehmen, dann muss ich erst mal schauen: Was hat zum Beispiel der Bediener des Stellwerks hier gemacht? Das beste Beispiel: Als das Stellwerk des Aachener Hauptbahnhofs nach Duisburg verlagert wurde, haben wir etwa 15 Prozent Leistungseinbuße gehabt. Und zwar nur dadurch, dass in Duisburg kein Fenster mehr existiert. Der Bediener des Stellwerks sieht die einfahrenden Züge nicht mehr und genauso wenig, wie viele Personen auf dem Bahnsteig stehen und wie sinnvoll ein Gleiswechsel in Anbetracht dessen wäre.

Elsen: Hinzu kommt, dass ich die Kapazität, wenn sie schon an der Grenze ist, nur schwer besser auslasten kann. Und das ist ein Problem, das Digitalisierung im ersten Moment gar nicht löst. Wenn ich erfahrene Leute an diesen Punkten sitzen habe, die die Züge, sobald es geht, durchwinken, dann muss ich diese Erfahrungen erst mal als Daten verarbeiten und in ein System einspeisen.

Jochim: Das ist der Punkt. Das typische Problem aller digitalen Systeme ist, dass das Bauchgefühl des Menschen und dessen Erfahrung sehr schlecht abbildbar ist.

Und hier hat man noch keine passenden Algorithmen gefunden, um genau dieses Bauchgefühl abzubilden?

Jochim: So ein Algorithmus ist sehr schwer hinzubekommen.

Schmidt: Der Mensch kann es da oft einfach besser.

Jochim: Ja, der Mensch kann es besser, weil er trotz der unvollständigen Informationen Entscheidungen trifft.

Elsen: Das würde ich so nicht pauschal unterschreiben. Man kann viel mit datenangetriebenen Ansätzen machen — nachweislich geht es bei der Prognose so deutlich besser. Es gibt aber Fälle, die zu kompliziert sind, um sie abzubilden.

Schmidt: Ein anderer Punkt sind die Ansagen am Bahnhof: Ich kenne das noch von früher: Da wurden vom Fahrdienstleiter zwischendurch Ansagen an Bahnhöfen gemacht und Gleiswechsel und Verspätungen rechtzeitig durchgegeben. Aber wenn diese Ansage eines Gleiswechsels von einer Automatikstimme, 2 Minuten bevor der Zug einfährt, kommt, dann herrscht Hektik. Grund dafür ist, dass der Computer, bevor der Zug nicht über das Fahrelement gefahren ist, das nicht mitbekommt.

Jochim: Ich bin allerdings vorsichtig bei der Huldigung der guten alten Zeit, weil die Durchsage vom Fahrdienstleiter auch früher nie konsequent gemacht wurde. Das wurde bei Zeit und Lust gemacht. Und wenn der Bahnhofsleiter keine Zeit und Lust hatte, hat er es eben nicht gemacht.

Schmidt: Ja, aber grundsätzlich gilt: Wenn man Innovation macht, muss das neue Zeug mindestens so gut sein wie das alte. Und nicht schlechter.

Die Bundesregierung nimmt sich in ihrem Koalitionsvertrag vor, die Anzahl der Zuggäste bis 2030 zu verdoppeln. Ist das realisierbar?

Frankreich arbeitet im Fernverkehr erfolgreich mit Doppelstöckern.

Jochim: Natürlich ist es realisierbar, nur nicht bis 2030.

Elsen: Das ist eher ein Projekt für die nächsten 25 Jahre, da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Verspätungen hier, Verspätungen da. Wenn ich mehr Leute dazu bewegen möchte: „Fahrt mit der Bahn!“, dann muss ich erst mal dafür sorgen, dass die Bahn ein ganz anderes Image bekommt. Pünktlichkeit ist da wesentlich. Wenn nach wie vor durch die Köpfe der Leute geistert, dass die Bahn vier Probleme hat, nämlich Frühling, Sommer, Herbst und Winter, dann werde ich keinen dazu bewegen, mit der Bahn zu fahren.

Allerdings verstehe ich auch nicht, wie sich jemand in der Politik dazu hinreißen lassen kann zu sagen, ich möchte doppelt so viele Leute auf die Schiene bringen, und gleichzeitig nicht zu sagen, dass er dafür in den nächsten 15 Jahren 100 Milliarden Euro in die Hand nimmt. Denn das wird es kosten.

Schmidt: Bis 2030 ist das vom Planungshorizont unzureichend. Meiner Meinung nach wird es darauf hinauslaufen, im Fernverkehr mit Doppelstöckern zu arbeiten — das haben die Franzosen sehr erfolgreich gemacht.

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