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Chaucers Canterbury Tales: Spiegel der Ständegesellschaft

In welchem politischen Umfeld entstand die Erzählungssammlung?

Geoffrey Chaucer (um 1343–1400) sah sich unter dem tyrannischen Richard II. seiner offiziellen Funktionen am Hof und in der Politik beraubt. In dieser für ihn kritischen Phase entstand, beeinflusst durch Boccaccio und dessen Hauptwerk »Decamerone«, Chaucers wichtigstes Werk, die »Canterbury Tales«; einzelne Erzählungen, die bereits in früherer Zeit geschrieben waren, wurden mit einbezogen. Chaucer kam erst wieder zu Amt und Würden, als Richards Cousin Heinrich Bolingbroke, der Sohn von Chaucers Gönner Johann von Gent als Heinrich IV. 1399 König wurde.

Welche Figuren treten in dem Text auf?

Von Boccaccio übernommen wurde das Prinzip der Rahmenhandlung: Eine Wallfahrt zum Grab des heiligen Thomas Becket in der Kathedrale von Canterbury führt 30 Pilger im »Tabard Inn«, einem Gasthaus am Ufer der Themse, zusammen. In lebensnahen Porträts werden sie von ihrer äußeren Erscheinung bis hin zu ihren individuellen Gepflogenheiten vorgeführt, ein exakter Spiegel der englischen Ständegesellschaft des 14. Jahrhunderts in Form eines wild bewegten Panoptikums: Adel (ein weitgereister Ritter mit Sohn) und Großgrundbesitzer, geistlicher Stand in verschiedenen Facetten (Äbtissin und Priester, feister Benediktiner und abgerissener Bettelmönch), Studierte wie Justitiar und Arzt, Handwerker aller Art, Bediensteter, Ackermann und Ablasskrämer, Büttel und Seemann, bunt gemischt, und schließlich der Erzähler selbst als Vertreter der eigenen Profession.

Wie kommt es zu den Binnenerzählungen?

Der Gastwirt macht den Vorschlag zu einem Wettbewerb, den er selbst als Schiedsrichter begleiten will. Jeder der Teilnehmer soll in dem Gasthaus vier Geschichten erzählen, je zwei auf der Hin- und Rückreise. Von diesen geplanten 120 »Canterbury Tales« wurden nur 24 ausgeführt, drei davon blieben Fragment, eine davon absichtlich. Als »Sir Topaz« ironisiert der Dichter darin seine eigene Rolle ebenso wie den zeitgenössischen Versroman, indem er sich vom Wirt als erbärmlicher Poet schwerfälliger »Knittelverse« das Wort abschneiden lassen muss.

Auf welche Vorbilder griff Chaucer zurück?

Um in einer Art zwanglosem Reigen die Gesellschaft seiner Zeit vor Augen zu führen, bediente sich Chaucer aus verschiedensten Quellen: von der Antike (Ovid und Livius) über das frühe Mittelalter bis hin zu beliebten zeitgenössischen Genres, wie Heiligenlegende und Predigt, höfischer Roman, Fabel und Schwank (die in der Tradition der derben französischen mittelalterlichen Erzählungen stehen). Natürlich werden die Vorlagen abgewandelt, völlig neu gestaltet oder ironisch parodiert.

Wie ist der Text gebaut?

Dem Prinzip der Abwechslung entspricht auch die kontrastierende Anordnung der Geschichten, die durch die Rahmenerzählung geschickt verknüpft werden; der konsequent durchgehaltene Reim kommt bald flüssig und raffiniert, bald ungeschickt holpernd daher, dann wieder getragen von heroischem Pathos. Einer pathetischen Romanze über die höfische Liebe (nach Boccaccios »Teseide«) etwa folgt ein obszöner Schwank des betrunkenen Müllers. Die zynischen Reden des Ablasskrämers über den Machtmissbrauch der Kirche finden ebenso Platz wie die derben Zoten des Seemanns oder Kochs.

Welche Wirkung hatten die »Canterbury Tales«?

Chaucer gab die Wirklichkeit realistisch wieder und betonte gegenüber dem Formelhaft-Künstlichen der mittelalterlichen Konventionen das Individuelle. Damit verlieh sein Werk einem neuartigen Lebensgefühl Ausdruck; es strahlte nicht nur auf seine Heimat aus, wo es den Ausgangspunkt einer humorvoll-realistischen Erzähltradition bildete. Stärker noch war seine Wirkung in einer novellistischen Literatur in der Nachfolge Boccaccios, die von verschiedenen Personen vorgetragene Erzählungen in einer Rahmenhandlung zusammenfasst: von Margarete von Navarras »Heptameron« (1558) bis hin zu Christoph Martin Wielands »Hexameron von Rosenhain«, Johann Wolfgang Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« (1794/95) oder E. T. A. Hoffmanns »Serapionsbrüdern« (1819–1821).

Woher hatte Chaucer seinen Stoff?

Ein bewegtes Leben lieferte Geoffrey Chaucer das Material für sein komplexes Werk. Als Page am Königshof ausgebildet, trat der Weinhändlersohn aus London in den diplomatischen Dienst, der ihn nach Italien und Frankreich führte; später war er in höchsten Verwaltungsämtern tätig. Zunächst beeinflusst durch die altfranzösische Literatur, wurde er durch die Begegnung mit Petrarca und Boccaccio zu eigenen Werken angeregt. Darunter sind »The Book of the Duchesse« (1369), ein Traumgedicht über den Tod der Gattin eines Gönners und »Troilus and Chryseyde« (1385), das die Geschichte des trojanischen Prinzen Troilus erzählt, der mithilfe einer Intrige die geliebte Cressida gewinnt, sie dann aber wieder verliert.

Wussten Sie, dass …

Chaucer durch die Verwendung der Volkssprache das Mittelenglische zur Literatursprache machte?

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