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Medizin: Fünf Bereiche, in denen Frauen den Kürzeren ziehen
Jahrhundertelang waren es fast ausschließlich Männer, die Wissenschaft und Medizin vorangetrieben haben beziehungsweise die einzigen, die dies überhaupt durften. Dadurch fehlte lange der weibliche Blick auf viele Forschungsfragen und der männliche Körper wurde deutlich besser untersucht als der weibliche. Im Alltag führt diese sogenannte Gender Health Gap bis heute zu vielen medizinischen Nachteilen für Frauen. Wir stellen fünf Beispiele vor, bei denen sich die Gesundheitslücke zwischen den Geschlechtern besonders deutlich zeigt.
Frauen sterben häufiger an einem Herzinfarkt
Das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, liegt bei Frauen 20 Prozent höher als bei Männern. Das liegt vor allem daran, dass Frauen häufig andere Symptome erleben als Männer – körperliche Anzeichen, die nicht immer direkt mit einem Herzinfarkt in Verbindung gebracht werden. Während Männer bei einem Herzinfarkt meist einen starken Schmerz in der Brust spüren, begleitet von einem Brennen und Engegefühl, kann sich ein Herzinfarkt bei Frauen auch durch Schmerzen in Oberbauch und Rücken, Kurzatmigkeit, Schweißausbrüche und Übelkeit bemerkbar machen.
Viele Frauen begreifen daher nicht auf Anhieb, dass sie gerade einen Herzinfarkt haben, und rufen im Schnitt eine komplette Stunde später als Männer den Krankenwagen. Das ist ein großes Problem, denn: „Bei einem Herzinfarkt entscheidet jede Minute über Leben oder Tod“, erklärt Christiane Tiefenbacher von der Deutschen Herzstiftung. Doch selbst wenn Frauen sich bei einem Herzinfarkt in die Notaufnahme begeben, haben sie ein um 50 Prozent höheres Risiko als Männer, eine falsche Diagnose zu erhalten, was ebenfalls zu der geringeren Überlebensrate beiträgt. Denn nicht nur Laien, auch Ärzten sind die weiblichen Symptome oft weniger bekannt.
Frauen warten länger auf eine korrekte Diagnose
Neben Herzinfarkten zeigen sich viele weitere Krankheiten bei Frauen anders als bei Männern, darunter Parkinson. ADHS und Autismus rufen ebenfalls bei Mädchen und Frauen häufig nicht die gleichen Symptome hervor wie bei Jungen und Männern, was auch an den unterschiedlichen gesellschaftlichen Erwartungen an beide Geschlechter liegen könnte, wie die Organisation „Autismus Schweiz“ erklärt: „Mädchen verhalten sich vielmehr passiv und ziehen sich oft zurück. Dies entspricht den gesellschaftlichen Erwartungen an Mädchen und Frauen. Auch der mangelnde Blickkontakt wird bei Frauen eher mit Schüchternheit erklärt.“
Die unterschiedlichen Ausprägungen von Erkrankungen und Neurodiversität führen dazu, dass über 700 Krankheiten bei Frauen deutlich später diagnostiziert werden als bei Männern. Bei Krebs dauert es zum Beispiel zweieinhalb Jahre länger, bis Frauen eine Diagnose erhalten, bei Diabetes sogar viereinhalb Jahre. In dieser Zeit können die Krankheiten gefährlich weit voranschreiten und großes Leid verursachen .
Frauen werden weniger ernst genommen
Dass Frauen so lange auf eine Diagnose warten, hängt auch damit zusammen, dass ihre Beschwerden im Schnitt weniger ernst genommen werden als die von Männern. In einer großen Erhebung in Großbritannien gaben 85 Prozent der befragten Frauen an, sich von ihren Ärzten nicht gehört zu fühlen. Eine kanadische Studie aus dem Jahr 2012 kam zu dem Ergebnis, dass Sanitäter verunfallte Männer mit höherer Priorität behandeln und häufiger in spezielle Traumazentren bringen als Frauen mit vergleichbaren Verletzungen. Ähnliches gilt bei akuten Schmerzen: Studien zufolge erhalten Frauen mit ähnlich starken Schmerzen wie Männer seltener Schmerzmittel als diese und müssen überdies länger darauf warten.
Frauen haben häufiger Medikamenten-Nebenwirkungen
Selbst wenn Frauen dann endlich korrekt diagnostiziert und behandelt wurden, kann sich die Benachteiligung weiter fortsetzen. Denn Frauen sind die Hauptleidtragenden von Medikamenten-Nebenwirkungen. „Frauen haben ein 52 Prozent höheres Risiko als Männer, eine unerwünschte Arzneimittelwirkung zu erleiden, und ein 29 Prozent höheres Risiko, an einer unerwünschten Arzneimittelwirkung zu sterben“, erklärt Kelle Moley von dem Schweizer Pharmaunternehmen Ferring.
Das liegt unter anderem daran, dass Medikamente zumindest in der Vergangenheit fast ausschließlich an Männern und männlichen Versuchstieren getestet wurden. Da der weibliche Körper durch Zyklus, Schwangerschaften und Wechseljahre großen hormonellen Schwankungen unterworfen ist, sind Studien an ihm umständlicher, zeitaufwändiger und teurer. In vielen Fällen wurden klinische Studien daher ohne Frauen durchgeführt, so dass frauenspezifische Nebenwirkungen vor der Arzneimittelzulassung für beide Geschlechter nicht erkannt werden konnten.
Frauen verbringen mehr Jahre in schlechtem Gesundheitszustand
Zusammengenommen führen all diese Benachteiligungen dazu, dass Frauen im Schnitt neun Jahre ihres Lebens in einem schlechten Gesundheitszustand verbringen. Bei Männern sind es „nur“ sechs Jahre und neun Monate – ganze 25 Prozent weniger. Doch was lässt sich gegen das Problem unternehmen? Ein wichtiger Schritt zur Schließung der Gender Health Gap ist zum Glück schon erfolgt: Frauen müssen mittlerweile verpflichtend in klinischen Studien und Medikamententests einbezogen werden. In den USA ist das seit 1994 Pflicht, in der Europäischen Union seit 2005.
In den anderen Bereichen kann eine Besserung vor allem dann erfolgen, wenn insgesamt mehr Frauen in der Medizin tätig sind und außerdem mehr (angehende) Mediziner für das Problem sensibilisiert werden. „Die gendersensible Medizin ist noch immer nicht ausreichend in den Curricula der medizinischen Fakultäten integriert“, kritisiert Nicola Buhlinger-Göpfarth vom Deutschen Hausärzteverband.
Darüber hinaus wäre es essenziell, mehr Geld in die Erforschung frauenspezifischer Symptome zu investieren. Derzeit fließt nur ein Prozent der weltweiten Forschungsgelder in die Erforschung von Aspekten der Frauengesundheit, die nicht mit Krebs zusammenhängen.