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ADHS – Wie TikTok das Bild einer Störung verändert

Wenn man sich auf TikTok oder Instagram umschaut, scheint heutzutage fast alles ein Zeichen für die Entwicklungsstörung ADHS zu sein. Inhalte darüber werden millionenfach angeschaut, denn sie sind oft so unterhaltsam und mit hohem Wiedererkennungswert, dass sich viele Menschen darin wiederfinden. Doch was ist ADHS genau? Und welche Rolle spielen Social Media auf dem Weg zur Diagnose?
CMA, 18.12.2025
Symbolbild ADHS bei Erwachsenen

© KI-generated (Copilot)

Immer mehr Erwachsene erhalten die Diagnose ADHS: Die Zahl der Erstdiagnosen pro 10.000 gesetzlich Krankenversicherten ist den letzten zehn Jahren sogar um 199 Prozent gestiegen. Auch auf Social Media ist Content über ADHS scheinbar allgegenwärtig. Auf Plattformen wie TikTok teilen Betroffene ihre Erfahrungen und ihren Alltag mit der Störung und machen das Thema für viele erstmals sichtbar. Um ADHS einordnen zu können, lohnt sich jedoch ein Blick auf die medizinische Definition der Störung.

Was ist ADHS?

ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Sie ist eine neuronale Entwicklungsstörung und gilt als eine Form von Neurodiversität, bei der Betroffene Reize, Gefühle und Aufmerksamkeit anders verarbeiten als neurotypische Menschen – also Menschen, deren Gehirnentwicklung als durchschnittlich gilt. Menschen mit ADHS haben von Kindesalter an Probleme damit, sich konzentrieren, ihre Impulse zu kontrollieren und sind manchmal auch hyperaktiv – körperlich sowie geistig.

ADHS galt lange, auch in der Fachwelt, als eine Störung des Kindes- und Jugendalters, die sich mit der Zeit auswächst. Inzwischen ist jedoch klar, dass ADHS keine Frage des Alters ist. Bei vielen Betroffenen bleiben die Symptome auch im Erwachsenenalter bestehen und verändern sich lediglich in ihrer Ausprägung.

Auch neurotypische Menschen können sich in manchen ADHS-Symptomen wiedererkennen, denn jeder ist einmal vergesslich oder lässt sich leicht ablenken. Entscheidend ist jedoch, dass ADHS nur dann vorliegt, wenn die Symptome deutlich ausgeprägt sind, in mehreren Lebensbereichen auftreten, also sowohl im Berufsalltag als auch im Privatleben, und für die betroffene Person einen spürbaren Leidensdruck oder Einschränkungen verursachen. Erst dann haben sie Krankheitswert.

Der steinige Weg zur Diagnose

Umso problematischer ist es, dass viele Betroffene trotz erheblicher Einschränkungen lange ohne Diagnose bleiben. Wenn ADHS erst spät oder gar nicht diagnostiziert wird, kann das schwere Folgen haben: Viele wachsen mit dem Gefühl auf, nicht zu funktionieren oder ständig hinter den eigenen Möglichkeiten zurückzubleiben. Nicht selten entwickeln sich daraus zusätzliche psychische Belastungen wie Depressionen oder Angststörungen. Umso größer ist für viele Erwachsene die Erleichterung, wenn sie endlich eine Erklärung für ihre Schwierigkeiten finden und lernen, sich selbst neu einzuordnen.

Doch der Weg zur Diagnose ist steinig: Erst nach Kontakt zu 20, 30 oder noch mehr Psychotherapiepraxen landen potenziell Betroffene zumindest schon mal auf einer Warteliste – aber oft mit Wartezeiten von über einem Jahr. Manche fühlen sich deshalb gezwungen, für eine schnelle Diagnostik selbst zu bezahlen und müssen dafür meist mehrere hundert Euros blechen.

ADHS-Aufklärung auf TikTok und Co

In dieser Versorgungslücke spielen soziale Netzwerke für viele eine zentrale Rolle. Ersten Kontakt zur Diagnose ADHS haben viele Menschen auf Plattformen wie TikTok. Sie können Menschen mit der Störung „empowern“, offen über ihre Probleme im Alltag zu sprechen und sich mit anderen Betroffenen verbunden zu fühlen. Inhalte über mentale Gesundheit können außerdem ein niedrigschwelliges Angebot sein, über ADHS aufzuklären, besonders wenn professionelle Hilfe in weite Ferne rückt.

Jedoch ist die Aufklärung von ADHS auf TikTok nicht immer hilfreich: Denn die Plattform ist nicht dafür ausgelegt, nuancierte Beiträge zu fördern. Was dort gut funktioniert, sind kurze und unterhaltsame Clips, die komplexe Zusammenhänge oft stark vereinfachen und mit denen sich möglichst viele Nutzer identifizieren können. Dadurch entsteht schnell ein verzerrtes Bild davon, wie sich ADHS tatsächlich äußert und welche Kriterien für eine Diagnose erfüllt sein müssen.

Mehr als die Hälfte des ADHS-Contents ist irreführend

Eine neue Studie von Forschenden um Vasileia Karasavva von der University of British Columbia bestätigt diesen Eindruck. Sie untersuchten die 100 beliebtesten TikTok-Videos mit dem Hashtag #ADHD – der Abkürzung für ADHS im englischsprachigen Raum. Zwei klinische Psychologen mit ADHS-Expertise bewerteten die Inhalte nach Genauigkeit, Differenziertheit und ihrem Wert als Aufklärung. Obwohl die Videos zusammen fast eine halbe Milliarde Aufrufe erreichten, entsprach weniger als die Hälfte der beschriebenen ADHS-Symptome den offiziellen Diagnosekriterien.

Es gilt also: Social Media kann dabei helfen, ADHS sichtbarer zu machen und vielen Menschen erstmals eine Sprache für ihre Erfahrungen zu geben, ersetzt aber keine professionelle Diagnose.

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