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Mann als Standardpatient der Medizin

1,75 Meter groß, 79 Kilogramm schwer, fit und männlich – das ist der medizinische Standardpatient. Für eine lange Zeit wurden Medikament-Studien fast ausschließlich an Probanden statt an Probandinnen durchgeführt. Und auch viele typisch weiblichen Krankheiten sind noch größtenteils unerforscht. Doch woher stammt der Männerfokus in der Medizin? Welche Folgen hat er auf Personen weiblichen Geschlechts? Und was lässt sich dagegen tun?
THE, 21.03.2024
Geschlechtsspezifische Medizin
Einige Wirkstoffe entfalten bei Frauen eine komplett andere Wirkung als bei Männern, sodass es eigentlich geschlechtsspezifische Medikamente und Dosierungen geben müsste.

© Hintergrund: artisteer, ThinkstockPhotos; Blisterpackung: Talaj, iStock

Nachdem eine junge Frau seit einigen Wochen an schweren Schlafstörungen leidet, sucht sie einen Arzt auf. Dieser verschreibt ihr das Schlafmittel Zolpidem – jeden Abend soll sie eine Tablette mit einer Standarddosis von zehn Milligramm einnehmen. Nach der Einnahme schläft die junge Frau wunderbar, doch als sie am nächsten Morgen zur Arbeit fährt, baut sie einen Autounfall und stirbt.  Der Grund für ihr frühzeitiges Dahinscheiden: Die verschriebene Dosis des Schlafmittels wurde nicht für Frauen ermittelt, sondern für den Durchschnittsmann. Die für sie zu hohe Dosis kostete die Frau letztlich das Leben.

Dieses Szenario ist zwar fiktiv, doch auf diese Weise sind vor einigen Jahren diverse Autounfälle zustande gekommen. Damals wurde Männern und Frauen noch dieselbe Dosis des Schlafmittels Zolpidem verabreicht. Doch wie man heute weiß, bauen Frauen das Medikament nur halb so schnell ab. Am Morgen nach der Einnahme hatten die Betroffenen daher noch eine gehörige Dosis des Wirkstoffes im Blut.

Der medizinische Standardpatient ist männlich

Leider sind derartige Behandlungsfehler an weiblichen Patientinnen keine Seltenheit. Der Grund für die Komplikationen: Der Mann gilt in der Medizin immer noch als Standardpatient. „Klinische Studien werden immer noch meist an jungen Männern durchgeführt, und die Labortests nehmen Forscher an jungen männlichen Mäusen vor“, erklärt die Wissenschaftlerin Vera Regitz-Zagrosek. Die biologischen Unterschiede von Frauen werden dabei einfach ignoriert und sie werden medizinisch behandelt, als wäre sie Männer. "In Lehrbüchern wird noch immer so getan, als wäre der Mensch ein geschlechtsneutrales Wesen", kommentiert Vera Regitz-Zagrosek gegenüber der ZEIT.

Als Grund für die gängige Testpraxis werden häufig hormonelle Unterschiede angeführt. Während der männliche Testosteronspiegel über die Zeit relativ konstant bleibt, haben Frauen zyklusbedingte monatliche Hormonschwankungen – während der Periode ist der Östrogenspiegel bei Frauen beispielsweise besonders niedrig und steigt danach kontinuierlich an. „Frauen einzubinden, gilt als kompliziert, da ihre Reaktionen auf Medikamente hormonell bedingt variieren können“ kommentiert Ute Seeland von der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Aus Angst vor Komplikationen in ihren Studien bevorzugen Pharmafirmen deshalb männliche Testpersonen.

Symbolbild männlicher Standardpatient
Der Mann gilt in der Medizin immer noch als Standardpatient – auch in der Forschung.

© metamorworks, iStock

Was sind die Folgen für Frauen?

Doch der medizinische Männerbias hat teilweise schwerwiegende gesundheitliche Folgen für die vergessenen weiblichen Patientinnen. Überdosierungen von Medikamenten wie beim Schlafmittel Zolpidem sind keine Seltenheit. Einige Medikamente entfalten bei Frauen außerdem eine komplett andere Wirkung, als bei Männern – aus diesem Grund leiden weibliche Personen auch bis zu 1,5-mal häufiger an medikamentösen Nebenwirkungen. Den Extremfall verdeutlicht das häufig verschriebene Herzmedikament Digoxin: Während es das Leben von Frauen verkürzt, bleiben Männer vor dieser verheerenden Nebenwirkung bewahrt.

Auch typische Krankheitssymptome haben geschlechterspezifische Unterschiede: Wenn der Onkel beispielsweise über Schmerzen in der Brust klagt, die in den linken Arm abstrahlen, klingeln vermutlich bei vielen Angehörigen direkt die Alarmglocken. Die Symptome gelten als typisch für einen Herzinfarkt. Doch was, wenn die Schwester über Übelkeit und Schmerzen in Oberbauch, Hals und Kiefer klagt? So kündigt sich die Herzerkrankung häufig bei Frauen an.

Weil diese geschlechtsspezifischen Vorboten der weitverbreiteten Herzkrankheit weitgehend unbekannt sind, werden Frauen mit Herzinfarkt im Schnitt zwei Stunden später in die Klinik eingewiesen als Männer. Die Folgen sind verheerend. „In Europa verzeichnen wir eine höhere Sterblichkeitsrate bei Frauen in Bezug auf Herzerkrankungen im Vergleich zu Männern“ sagt Andrea Bäßler, Leiterin der kardiologischen Ambulanz am Universitätsklinikum Regensburg. Auch Vera Regitz-Zagrosek warnt gegenüber der ZEIT "Wenn der Arzt oder die Ärztin den Unterschied der Symptome zwischen Mann und Frau nicht beachtet, stirbt ein Mensch".

Geschlechtsunterteilung auch für Männer ein Problem

Der fehlende medizinische Fokus auf Geschlechterunterschiede zieht schwerwiegende Folgen nicht nur für Frauen nach sich: Auch für Männer kann die mangelnde Unterscheidung tödlich enden.

Beispielsweise wirken sich die unterschiedlichen sozialen Erwartungen, die wir an Männer und Frauen haben, auf Diagnose von Depressionen aus. Lange Zeit sollten Männer dem Bild des toughen Mannes entsprechen, der alle Herausforderungen des Lebens problemlos meistern. Da sich derartige Klischees immer noch stur in der Gesellschaft halten, gehen depressive Männer auch heute noch seltener zum Psychologen. Auch deshalb wird die Krankheit bei Frauen doppelt so häufig diagnostiziert wie bei Männern.

Zudem äußern sich Depressionen bei Männern häufig nicht durch die klischeehaften Symptome. "So mancher Alkoholiker greift im Grunde nur deshalb zur Flasche, weil er an Depressionen leidet", erklärt Hubertus Himmerich vom Universitätsklinikum Leipzig. "Wir Psychiater wissen eigentlich, dass die Symptomatik der Krankheit bei Männern anders ist als bei Frauen. Denn Männer neigen bei Depressionen zu Aggressionen, Risikobereitschaft und Alkoholmissbrauch. Frauen wiederum sind eher traurig, ängstlich und sozial zurückgezogen." Die Folge: Die Suizidrate bei Männern ist drei bis fünfmal so hoch wie bei Frauen. 

Gendermedizin wird populärer

Die gute Nachricht: Das Ungleichgewicht in der medizinischen Behandlung von Frauen und Männern existiert zwar noch, doch das Bewusstsein dafür wächst. Viele Stimmen fordern, dass die medizinische Behandlung an die biologischen Gegebenheiten der Frauen angepasst werden soll. “Mittlerweile wächst das Bewusstsein dafür, dass es wichtig ist, Diagnose, Therapie und Prävention an die unterschiedlichen hormonellen Phasen anzupassen“ kommentiert Ute Seeland von der Charité in Berlin.

Sogar die aktuelle Bundesregierung hat die sogenannte Gendermedizin in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten. Dort lautet es: “Wir berücksichtigen geschlechtsbezogene Unterschiede in der Versorgung, bei Gesundheitsförderung und Prävention und in der Forschung und bauen Diskriminierungen und Zugangsbarrieren ab.“  In einigen Ländern, wie Österreich ist die Gendermedizin sogar schon fest im Studium und im praktischen Jahr des Medizinstudiums verankert. Mit Erfolg: Das Bewusstsein für Geschlechterunterschiede in der Medizin stieg seitdem unter den Studierenden, Ärzten und auch bei den Patienten und Patientinnen.

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