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Mahlers 9. Symphonie: Zwischen Lebenslust und Todesgewissheit

War Mahler ein populärer Komponist?

Nein, sperrige Monumentalsymphonien und orchestrale Liederwerke – das ist nicht der Stoff, der breiten Erfolg garantiert, zumal wenn man, zwischen Romantik und Moderne stehend, des Eklektizismus verdächtigt wird. So umstritten Gustav Mahler (1860–1911) als Komponist auch war, totschweigen ließ sich sein Werk weder zu seinen Lebzeiten noch nach seinem frühen Tod. Dirigenten wie Bruno Walter, Willem Mengelberg und Otto Klemperer pflegten sein Vermächtnis. Mahlers Zuversicht, seine Zeit werde noch kommen, sollte sich erst 50 Jahre nach seinem Tod erfüllen – dann aber mit einer Gewalt, die sich allem Modischen widersetzte.

Warum eroberte Mahlers Neunte die Konzertsäle?

Nicht zuletzt deshalb, weil die Visionen der Hoffnung und der Trauer, das Vexierrätsel der Natur, das Pandämonium des Schreckens und das Ringen um das Geheimnis des Todes sich als neue Hörerfahrungen entdecken lassen. Ein Musiker wird erkennbar, der in seiner Widersprüchlichkeit und inneren Zerrissenheit ein intuitives Sensorium für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts entwickelte und daher mit seiner Kunst den Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts näher steht als denen am Anfang. In seinem Schaffen wird die symphonische Traditionslinie erkennbar, die sich auf Beethoven als Ahnherrn beruft.

Welche Stellung nimmt die Neunte im Werk ein?

Mahlers Neunte, die in den Jahren 1909 bis 1910 entstand, zählt mit der Ersten, Fünften, Sechsten und Siebten zu den Instrumentalsymphonien, während die Vierte solistisch besetzt ist und die Nummern 2, 3 und 8 Chor und Solisten verwenden. Mit dem Verzicht auf das traditionelle Satzschema gibt der Komponist zu erkennen, dass ihm in dieser letzten vollendeten Symphonie nicht mehr an den herkömmlichen Steigerungseffekten gelegen ist, die in einer Apotheose kulminieren. Zwei langsame Sätze verklammern zwei scherzoartige Sätze. In epischer Breite »ist da etwas gesagt, was ich seit längerer Zeit auf den Lippen habe«, schrieb Mahler an Bruno Walter.

Was ist das Thema des ersten Satzes?

Alban Berg rühmte 1912 den ersten Satz, ein Andante comodo, als den »Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, im Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugießen bis in ihre tiefsten Tiefen – bevor der Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam. Dieser ganze Satz ist auf die Todesahnung gestellt. Immer wieder meldet sie sich. Alles irdisch Verträumte gipfelt darin […] – am stärksten natürlich bei der ungeheuren Stelle, wo diese Todesahnung Gewissheit wird, wo mitten in die —höchste Kraft‹ schmerzvollster Lebenslust, —mit höchster Gewalt‹ der Tod sich anmeldet – dazu das schauerliche Bratschen- und Geigensolo und diese ritterlichen Klänge: der Tod in der Rüstung. Dagegen gibt's kein Auflehnen mehr.«

Wie steigert sich die Symphonie?

Im Scherzo bedient sich Mahler gemächlicher Ländler, um noch einmal den Wechselbezug zwischen der Sehnsucht nach heiler Welt und ihrer Unmöglichkeit herzustellen. Groteske und Parodie dienen als Stilmittel, um diese Sehnsucht zu verzerren. Der Versuch, Lebensfreude zu erzwingen, wendet sich ins Gespenstische. Die Rondo-Burleske des dritten Satzes lässt das Orchester virtuos aufspielen. Themen- und Motivfetzen aus dem Repertoire billiger Unterhaltungsmusik fordern den Sarkasmus des Künstlers heraus, der der Trivialität eine Grimasse schneidet, ohne sich von ihr befreien zu können. Das abschließende Adagio formt sein Material aus der Burleske, als gälte es, Ohnmacht und Scheitern aus dem Wissen um die Trivialität des Lebens in Töne zu setzen. Mit letzter Leidenschaft steigert sich der orchestrale Klang ins Unvermeidliche. Die Melodie wird fahl und atemlos, verebbt, zerfällt schließlich im Nichts und befreit sich so von aller irdischen Verstrickung.

Wussten Sie, dass …

auch Beethovens und Bruckners jeweils Neunte Symphonie – wie auch Gustav Mahlers Neunte – ein in Partitur gesetztes Lebensfinale sind?

Mahler wohl auch deshalb seiner eigentlichen neunten Symphonie die Nummerierung neun verweigerte? Er nannte sie »Das Lied von der Erde«, sodass es sich bei seiner nächsten Symphonie, die er als Nummer neun ausweist, de facto um seine zehnte handelt. Sie ist, wie schon »Das Lied von der Erde«, ein Werk des Abschieds von der Welt. Eine zehnte Symphonie blieb Fragment.

Wie wurde Gustav Mahler zu einem gefeierten Dirigenten?

Gustav Mahler wurde am 7.7.1860 in der Nähe von Iglau im heutigen Tschechien in eine jüdische Kaufmannsfamilie geboren. Bereits im Kindesalter begann er, zu komponieren und als Pianist aufzutreten. Mit 15 Jahren ging er ans Konservatorium nach Wien, das er 1877 mit einem Kompositionsdiplom abschloss. Nach mehreren Stationen als Kapellmeister, in denen er sich zu einem der bekanntesten Dirigenten Europas hocharbeitete, wurde er 1897 erster Kapellmeister und Hofoperndirektor in Wien, übernahm damit die damals renommierteste Dirigentenstelle. Dort entstaubte er die Aufführungspraxis der Oper und modernisierte die Inszenierungen. Nach internen Querelen ging er 1908 an die Metropolitan Opera in New York, wo er begeistert aufgenommen wurde. Er starb am 18.5.1911 in Wien.

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