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Strawinskys Sacre du printemps: Avantgarde im primitiven Kleid

Wie verlief die Uraufführung der Ballettmusik?

Es kam zu tumultartigen Szenen. Mit »Le Sacre du printemps« – übersetzt »Das Frühlingsopfer« – gelang Igor Strawinsky (1882 bis 1971) ein in der Musikgeschichte beispielloser Affront. Bei der Uraufführung 1913 am Pariser Théâtre des Champs-Eliysées brach das schockierte Publikum in eine Lärmorgie mit wüsten Beleidigungen und Handgreiflichkeiten zwischen Anhängern und Gegnern aus. Doch bereits in der dritten Aufführung gab der Applaus der Tobsucht keine Chance mehr.

War »Sacre du Printemps« eine Art kubische Musik?

Nein, dieser Vergleich wurde bemüht, weil für ungeübte Ohren der strukturelle Zusammenhang der vielen kurzen Motive und Motivpartikel ebenso verborgen war wie für ungeübte Augen das kubistische Gewirr von Einzelformen in der Malerei. Folkloristische Elemente lassen sich in ihren Brechungen nur als musikalisches Rohmaterial ausmachen. Und die geballten Mischklänge aus Dur und Moll waren zwar ungewohnt, doch keineswegs neu; schon Richard Strauss hatte sie vier Jahre zuvor in »Elektra« eingesetzt.

Ist das Stück »primitiv«?

Keineswegs. Was sich im »Sacre du printemps« als Primitivismus zur Schau stellt, ist Teil des Konzepts, denn das Werk entpuppt sich als musikalisch urtümliche Gewalt, in der sich das Archaische und Barbarische eines heidnischen Rituals widerspiegeln. So heterogen die Einzelteile dieser meisterhaft instrumentierten Partitur auf den ersten Blick erscheinen mögen, Bezüge und Innenspannungen ergeben sich aus einem raffinierten, variantenreichen Rhythmusgeflecht, das einen zwingenden Zusammenhang herstellt.

Was war die thematische Grundidee des Balletts?

Die »Vision einer großen heidnischen Feier« war Ausgangspunkt für dieses dritte Ballett nach »Feuervogel« (1910) und »Petruschka« (1911), das Igor Strawinsky für Sergej Diaghilews »Ballets Russes« komponierte: »Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen«. Strawinsky kam von diesem Stoff, den er schon im Frühjahr des Jahres 1910 entwickelte, nicht mehr los.

Wie gestaltete sich der tänzerische Ablauf?

Strawinsky unterteilte ihn in zwei Teile, in »Die Anbetung der Erde« und »Das Opfer«. Nur für die Opferhandlung, die »Danse sacrale«, war eine Solotänzerin vorgesehen. »Ich möchte«, so schrieb er, »dass mein Werk das Gefühl der engen Verbundenheit der Menschen mit der Erde, des menschlichen Lebens mit dem Boden vermittelt.« Das Tanzlibretto richtete er in Zusammenarbeit mit Nikolas Roerich ein, einem profunden Kenner der slawischen Frühgeschichte.

Wer entwarf eine adäquate Tanzsprache?

Den erste Versuch machte Vaclaw Nijinskij, der Epoche machende Tänzer, aber er war als Choreograf der Uraufführung den Anforderungen der Partitur kaum gewachsen. Die neue Musiksprache erforderte eine vollkommen neue Tanzsprache. Das gelang erst 1920 Léonide Massine. Musikalisch wie tänzerisch hat sich der »Sacre« als ein bedeutendes Werk des 20. Jahrhunderts durchgesetzt.

Wussten Sie, dass …

in Paris am Vorabend des Ersten Weltkriegs die künstlerische Atmosphäre so aggressiv und aufgeheizt war, dass beispielsweise in der Malerei der Kubismus wegen einer ihm unterstellten »Gemeingefährlichkeit« sogar das französische Parlament beschäftigte? Die künstlerischen Verformungen des Körperlichen bis hin zur optischen Zertrümmerung aller Formenzusammenhänge, die sich die Maler Picasso, Braque, Léger und Gleizes erlaubten, wurden als avantgardistische Exzesse des Primitiven geschmäht.

War Igor Strawinsky ein musikalischer Tausendsassa?

Ja, Strawinsky besaß nicht nur als Komponist ein breites Spektrum von Symphonien bis zu Klavier-Miniaturen. Er war außerdem ein berühmter Dirigent und Pianist und verfasste musiktheoretische Schriften. Geboren wurde Igor Fjodorowitsch Strawinsky am 17. Juni 1882 im russischen Oranienbaum bei St. Petersburg und wuchs in beengten Verhältnissen auf. 1910 reiste er nach Paris, um dort sein Ballett »Feuervogel« und die Nachfolger »Petruschka« (1911) und »Le Sacre du Printemps« (1913) aufzuführen. Dank der Unterstützung durch Mäzene führte er dort ein relativ sorgenfreies Komponistenleben. 1940 floh Strawinsky vor den Nationalsozialisten nach New York, wo er nach anfänglichen Schwierigkeiten beruflich Fuß fassen konnte und bis zu seinem Tod am 6.4.1971 blieb.

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