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Warum analoge Computer eine Renaissance erleben

Wir leben im Zeitalter des Digitalen: In nahezu jeder Alltagselektronik stecken heute mit Bits und Bytes rechnende Mikrochips – und auch künstliche Intelligenzen beruhen auf digitalen Computern. Doch das könnte sich in Zukunft ändern. Denn gerade in der KI, bei Quantencomputern und anderen hochmodernen Systemen könnte eine totgeglaubte Technologie das Digitale ablösen: analoge Computer. Doch was genau ist das? Und wo liegen ihre Vorteile?
NPO, 13.11.2023
Symbolbild Analogcomputer

© metamorworks, GettyImages

Digitale Computer sind heute allgegenwärtig: Die mit Bits und Bytes rechnenden Systeme stecken in Handys, PCs und Supercomputern, steuern Autos, Ampeln und unzählige andere technische Anlagen und bilden die Basis für künstliche Intelligenzen.

Warum digitale Computer nicht immer optimal sind

Doch digitale Computer stoßen allmählich an ihre Grenzen – und sind längst nicht für alle Aufgaben optimal. So hapert es immer dann an der Schnelligkeit, wenn komplexe Aufgaben mit vielen Variablen zu lösen sind. Denn ein digitaler Rechner benötigt einen Algorithmus, der die Arbeit in eine Reihe von Einzelschritten herunterbricht. „Was man mit einem digitalen Computer macht ist, dass man ein eigentlich kontinuierliches Problem in lauter kleine Scheibchen zerhackt – ähnlich wie beim Berechnen eines Integrals in der Schule“, sagt der deutsche Informatiker Bernd Ulmann.

Je komplexer die Aufgabe ist, desto mehr solcher Einzelschritte sind nötig – und desto höher ist der Rechenaufwand. Hinzu kommt: Weil dieser zentrale Algorithmus alle Rechenprozesse steuert, muss der Computer immer wieder Informationen zwischen Speicher und Prozessor hin- und herbewegen. Auch das kostet Zeit und Energie. Moderne Hochleistungsrechner verbrauchen deshalb viel Strom. Allein um beispielsweise das KI-System ChatGPT am Laufen zu halten und die Anfragen der Nutzer zu beantworten, werden jüngsten Schätzungen zufolge rund 564 Megawattstunden Strom pro Tag benötigt.

Symbolbild elektronische Routenplanung
Komplexe Optimierungsprobleme wie etwa die Routenplanung sind für digitale Computer schwer zu lösen, weil der Rechenaufwand rasch unbeherrschbar wird.

© alexsl, GettyImages

Was sind analoge Rechner?

Auf der Suche nach einer energiesparenderen Alternative oder wenigstens Ergänzung zum digitalen Rechnen rückt eine lange totgeglaubte Technologie wieder in den Fokus: analoge Computer. Schon vor Jahrhunderten halfen sie Menschen dabei, die Bewegung der Gestirne oder den Wechsel von Ebbe und Flut zu berechnen. Und selbst an Bord der Apollo-Mondmissionen waren noch analoge Computerkomponenten im Dienst.

Im Unterschied zu digitalen Computern werden diese Analogrechner nicht von einem Algorithmus gesteuert und rechnen nicht mit Nullen und Einsen. Stattdessen spiegelt die mechanische oder elektrische Verschaltung ihrer Komponenten die Gesetzmäßigkeiten und Einflussfaktoren wider, die es zu berechnen gilt. In den alten Gezeitenrechnern repräsentieren beispielsweise Zahnräder und ihre Kettenverbindungen die sich verstärkenden oder aufhebenden Einflüsse von Mond, Sonne, Erddrehung und Küstenform. In elektrischen Analogrechnern übernehmen dies die Verkabelungen.

Der Vorteil: Ist ein solcher Analogrechner einmal an seine Aufgabe angepasst, braucht er vergleichsweise wenig Zeit und Energie. Der Nachteil: Er ist nicht universell einsetzbar. Im Extremfall müssen erst hunderte von Leitungen umgesteckt werden, um einen solchen Analogrechner auf eine neue Aufgabe zu "programmieren".

 Erste deutsche Gezeitenrechenmaschine im Deutschen Schifffahrtsmuseum, Bremerhaven
Die erste deutsche Gezeitenrechenmaschine wurde 1915-16 im Auftrag des Reichsmarineamtes erbaut, weil durch den Ersten Weltkrieg die englischen Hydrographie-Daten nicht mehr verfügbar waren. Wie komplex diese Geräte waren, erkennt man an der Tatsache, dass im 20. Jahrhundert weltweit nur rund 30 gebaut wurden.

Analoge Chips für die künstliche Intelligenz 

Trotzdem erleben Analogcomputer heute eine Renaissance, Branchenriesen wie Microsoft, IBM oder Google Research tüfteln wieder an analoger Rechnertechnik. Der Grund dafür ist vor allem die künstliche Intelligenz. Denn wie ein analoger Computer beruhen auch die neuronalen Netzwerke der KI-Systeme auf dem vernetzten Zusammenwirken vieler dezentraler Recheneinheiten. „Ich habe ganz viele einzelne Rechenelemente, die auf schlaue Art und Weise miteinander vernetzt sind, aber ich habe keine zentrale Verarbeitungseinheit mehr“, erklärt Ulmann.

Künstliche Intelligenzen lernen, indem sie bestimmte "Pfade" in diesem Netzwerk stärker gewichten als andere. Solche sich kontinuierlich verändernden Werte müssen für das digitale Rechnen erst in Folgen von Nullen und Einsen "übersetzt" werden – ein analoger Computer kann diese Gewichtungen direkt abbilden - beispielsweise im Stromfluss. Und noch ein Faktor macht Analogrechner für die KI-Branche interessant: Sie benötigen viel weniger Strom, weil der ständige Datentransfer zwischen Prozessor und Speicher entfällt.

Symbolbiild Vernetzung
Die neuronalen Netzwerke künstlicher Intelligenz beruhen ähnlich wie analoge Computer auf dem vernetzten Zusammenwirken vieler Einheiten.

© Andrii Shyp / Getty images

Analoge Lichtrechner fürs Finanzwesen

KI-Unternehmen forschen daher an Analogchips, die neuronale Netzwerke künftig schneller und sparsamer machen sollen. Im August 2023 hat IBM Research einen ersten Baustein für solche analogen KI-Systeme vorgestellt: einen analogen Chip auf elektrochemischer Basis. Dieser kann die Gewichtungen der neuronalen Netzwerkpfade kodieren, ohne dass auch nur ein Bit an Daten bewegt werden muss. Bei ersten Tests liefen zwei auf solchen Analogchips betrieben KI-Sprachmodelle tatsächlich schneller und energieeffizienter als auf gängigen digitalen Chips.

Noch einen Schritt weiter geht ein Projekt der Microsoft Research Labs in Cambridge. Ihre „Analog Iterative Machine“ (AIM) nutzt Licht statt Elektronen zum Rechnen. Dabei verändern, teilen und kombinieren spezielle photonische Kristalle und Linsen die Lichtstrahlen entsprechend der gestellten Aufgabe. Das Ergebnis dieser parallelen, analogen Rechnung ist ein Lichtstrahl, dessen Intensität und Merkmale die Lösungswerte der Aufgabe kodieren. Diese werden dann in elektronische Signale umgewandelt und von digitalen Komponenten weiterverarbeitet.

"Mit unserer Analog Iterative Machine bauen wir einen optischen Rechner, der harte Optimierungsprobleme mit Lichtgeschwindigkeit lösen kann – Aufgaben, an denen gängige Siliziumtechnologien und selbst Quantencomputer scheitern“, erklärt Hitesh Ballani von Microsoft Research. Konkret wird die AIM zurzeit darin erprobt, Optimierungsprobleme bei finanziellen Transaktionen zu lösen. „Alle potenziell möglichen Optionen zu prüfen, würde die gesamte Zeitdauer unsers Universums erfordern“, erklärt Lee Braine, Chefingenieur der Barclays Bank. Ein Analogcomputer auf photonischer Basis könnte diese Zeitdauer aber drastisch verkürzen. Erste Tests waren bereits erfolgreich.

Gute Kombination mit Quantencomputern

Und es gibt noch ein Gebiet, für das Analogrechner zurzeit intensiv erforscht werden: Quantencomputer. „Analogrechner fallen wie Quantencomputer in das Gebiet des Unconventional Computing. Sie sind diesen insofern ähnlich, als dass direkt ein physikalisches System als Modell für ein zu lösendes Problem dient, wobei das Auslesen von Variablen messend geschieht“, erklärt Robert Axmann, Leiter der Quantencomputing-Initiative am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). „Aus diesem Grund können Analogrechner voraussichtlich auch direkter mit Quantencomputern gekoppelt werden, als klassische speicherprogrammierte Digitalrechner.“ Auch hier laufen bereits erste Tests.

Noch steht die Renaissance der Analogcomputer zwar am Anfang. Aber Experten sind sich schon jetzt relativ sicher, dass diese Technologie die gängigen digitalen Chips zumindest in einigen Bereichen ergänzen oder sogar ablösen könnten. Gute Chancen dafür bestehen überall dort, wo Computer für eine bestimmte, komplexe Aufgabe im Einsatz sind – in der KI, bei Optimierungsproblemen oder als Ergänzung zum Quantencomputer.

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