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Verhaltensforschung: Von Instinkten und Geistesblitzen

Was bringt der Instinkt?

Angeborene Verhaltensweisen, auch Instinkte genannt, lassen lebensnotwendige Reaktionen schnell und sicher ablaufen und entlasten das Gehirn.

Typische Instinkthandlungen sind die sog. unbedingten Reflexe. Diese werden immer von einem ganz bestimmten äußeren Reiz ausgelöst, dem Schlüsselreiz. Dass sie für das Überleben eines Tiers wichtig sind, sieht man auch daran, dass sie bei praktisch allen Arten inklusive des Menschen und innerhalb einer Art bei allen Individuen anzutreffen sind. Sie können jederzeit hervorgerufen werden und laufen schnell ab. Wird ein unbedingter Reflex in einem Lernvorgang mit zusätzlichen Reizen verknüpft, spricht die Wissenschaft von einem bedingten Reflex.

Ein Beispiel für einen unbedingten Reflex ist das Schnabelsperren, das bei den Nestlingen der meisten Vogelarten zu beobachten ist. Jungvögel sind in ihrem Nest den vielfältigsten Reizen aus ihrer Umwelt ausgesetzt, wie beispielsweise Wärme, Kälte oder Erschütterungen. Aber nur Erschütterungen rufen das Schnabelsperren der noch blinden Jungen hervor: Sobald sich ein Altvogel auf dem Nestrand niederlässt, reißen die Jungen ihre Schnäbel auf. Dabei treten die gelben Wülste am Rand des Schnabels deutlich hervor und das Innere des Rachens wird sichtbar. Es ist meist intensiv gefärbt und manchmal mit einer Zeichnung versehen, die für die Art charakteristisch ist. Der Sperrrachen seinerseits ist wiederum für den Altvogel der auslösende Reiz, die Jungen mit Futter zu versorgen.

Gibt es auch beim Menschen Reflexe?

Ja. Bereits direkt nach der Geburt können auch beim Menschen unbedingte Reflexe nachgewiesen werden. So führt ein Neugeborenes mit dem Kopf Drehbewegungen aus und verzieht den Mund, wenn man es an der Wange berührt. Die Berührung löst nämlich den Suchreflex aus, der dazu dient, die mütterliche Brust zu finden. Auf die Berührung der Lippen reagiert der Säugling dann mit Saugbewegungen. Such- und Saugreflex bleiben etwa bis zum dritten Lebensmonat erhalten.

Auch beim erwachsenen Menschen lassen sich unbedingte Reflexe beobachten, beispielsweise der Kniesehnenreflex, der durch einen Schlag auf die Kniesehne hervorgerufen wird und oft bei allgemeinärztlichen Untersuchungen mit einem kleinen Hämmerchen überprüft wird. Weiterhin gibt es den Lidschlussreflex, der das Eindringen von Fremdkörpern ins Auge verhindert, den Speichelreflex, der bereits beim Anblick von Essbarem den Speichelfluss in Gang setzt, oder den Pupillenreflex, der die Pupillengröße den Lichtverhältnissen anpasst.

Wille oder Instinkt: Was steuert den Menschen?

Beides. Dass Menschen frei Willensentscheidungen treffen können, gehört zu den zentralen Grundüberzeugungen der europäischen Kultur. Doch es gibt auch bei uns komplexe Verhaltensweisen, die auf angeborenen Mechanismen beruhen. Dies lässt sich beispielsweise zeigen, wenn man das Verhalten von Menschen unterschiedlicher Kulturkreise miteinander vergleicht. So konnte der österreichische Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt belegen, dass Ausdrucksbewegungen des Grüßens, Flirtens, Lachens und Weinens, der Abwehr und der Verachtung in allen Kulturen im Wesentlichen übereinstimmen, also mit großer Wahrscheinlichkeit angeboren sind. Dies scheinen auch Beobachtungen an taubblind Geborenen nahe zu legen, die wie Menschen mit gesunden Augen und Ohren lachen, schmollen, zürnen und weinen, obwohl sie keine Möglichkeit hatten, diese Ausdrucksformen ihrer Gefühle durch Nachahmung zu lernen.

Auch bei der Partnerwahl spielen angeborene Verhaltensweisen eine Rolle. Obwohl man sich dessen nicht bewusst ist, erregen zunächst bestimmte äußere Merkmale, die als sexuelle Schlüsselreize wirken, die Aufmerksamkeit. Bei Männern gehören dazu breite Schultern, ein schmales Becken, ein flacher Bauch und ein muskulöser Körperbau. Diese Merkmale werden als Mann-Schema zusammengefasst. Das entsprechende Frau-Schema im westlichen Kulturkreis umfasst einen schlanken Körper, lange Beine, große Augen, einen wohlgeformten Busen, lange Haare sowie eine schmale Taille mit breiten Hüften. Solche sexuellen Schlüsselreize werden auch erfolgreich in der Werbung eingesetzt, um den Blick der Käufer auf ein Produkt zu lenken.

Wie lernen Tiere?

Es gibt verschiedene Formen des Lernens im Tierreich: Prägung, Lernen durch Belohnung und Strafe oder durch Nachahmung bis hin zum Lernen durch Einsicht, was viele nur dem Menschen zutrauen, aber bei verschiedenen Arten zweifelsfrei nachgewiesen wurde. Allen Lernformen ist gemeinsam, dass in einer Reizsituation zunächst neue Informationen aufgenommen und im Gedächtnis gespeichert werden (Lernphase); sie können dann bei Bedarf abgerufen werden und bewirken aufgrund der Erfahrung ein geändertes Verhalten (Kannphase).

Denken Tiere beim Lernen nach?

Ja. Nachgewiesen wurde dies in sog. Umwegversuchen. Dabei kann das Tier ein Ziel nicht auf direktem Weg erreichen, sondern ist gezwungen, einen Umweg zu nehmen. Findet es diesen Weg auf Anhieb, ohne dass es einfach alle Möglichkeiten ausprobiert, so kann man auf Einsicht schließen. Solche gedanklichen Leistungen sind nicht nur von Säugetieren bekannt. Versuchen beispielsweise Kolkraben ein Stück Fleisch zu ergattern, das an einem Bindfaden außerhalb ihrer Reichweite hängt, so können sie dafür Strategien entwickeln, die ebenfalls auf ein Lernen durch Einsicht schließen lassen. Und auch beim intelligentesten Weichtier, dem Kraken, sind erstaunliche Lernleistungen beobachtet worden.

Bei Menschenaffen ist zielgerichtetes Verhalten besonders ausgeprägt. So entwickelten etwa Orang-Utans und Schimpansen in verschiedenen Versuchen die unterschiedlichsten Techniken, um an für sie unerreichbare Bananen heranzukommen. Sie stapelten herumliegende Kisten aufeinander oder steckten mehrere kurze Stöcke zu einem langen Stock zusammen, bis sie das Futter schließlich erreichen konnten. Der Handlungsphase ging dabei immer eine Planungsphase voraus, die sich von ihr deutlich unterschied. Während dieser Phase verhielten sich die Tiere still und schienen sich eingehend in Gedanken mit der Situation zu beschäftigen.

Übrigens: Man hat herausgefunden, dass Tiere Werkzeuge nicht nur nutzen, sondern sogar selbst herstellen. Die britische Biologin Jane Goodall beobachtete 1960 zum ersten Mal, dass Schimpansen in freier Wildbahn nicht nur einen Stock als Werkzeug gebrauchten, um damit nach Termiten zu angeln, sondern dass sie zum Teil die Zweige erst für diesen Zweck brauchbar machten, indem sie gezielt alle Blätter entfernten.

Wie organisieren Tiere ihr Zusammenleben?

Sofern die Angehörigen einer Art nicht, wie etwa die Eisbären, als strenge Einzelgänger jede Gesellschaft meiden, bilden sich zwischen mehr oder weniger gemeinsam lebenden Individuen Rang- oder Hackordnungen aus. Ein Wolfsrudel, eine Gorillahorde oder eine Hühnerschar bilden einen Verband aus nur wenigen Tieren, die sich durch Geruch, Stimme und Aussehen persönlich kennen. Innerhalb einer solchen Gruppe nimmt jedes Tier seinen Platz ein, an dem es eine bestimmte Funktion erfüllt. An der Spitze steht das ranghöchste Tier, das auch als Alpha-Tier bezeichnet wird. Zwar werden ihm bei der Fortpflanzung und der Nahrungsaufnahme Vorrechte eingeräumt, dafür muss es aber auch die Gruppe führen und verteidigen sowie Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern schlichten. Zuweilen gibt es für Männchen und Weibchen getrennte Ordnungen – im Wolfsrudel etwa paaren sich in der Regel nur Alpha-Männchen und Alpha-Weibchen. Es gibt aber auch Arten, bei denen nur die Weibchen Gruppen mit Rangordnung bilden, während die Männchen allein umherziehen.

Wandernde Huftiere wie Gnus, Zebras oder Antilopen, Heuschrecken und Vögel bilden dagegen offene, anonyme Verbände, in denen sich die einzelnen Individuen nicht kennen. Einem solchen Sozialverband können sich Tiere jederzeit anschließen oder sich aus ihm verabschieden. Eine weitere Variante sind Ameisen- und Bienenstaaten oder Mäusesippen, wo sich die Mitglieder an einem gemeinsamen Merkmal erkennen, beispielsweise am Nestduft. Tiere, die nicht zur Gruppe gehören, werden erkannt und ausgestoßen bzw. nicht aufgenommen.

Gibt es Hackordnungen auch im zwischenmenschlichen Bereich?

Ja, auch wenn sie das Zusammenleben weniger zwangsläufig beherrschen als das von Wölfen oder Hühnern. Dennoch bestimmen in Betrieben, Behörden oder Armeen Arbeitskleidung, Rangabzeichen oder gar die Farbe des Kugelschreibers eindeutig den Platz des Einzelnen in der Hierarchie. Im privaten Bereich zeugen ein teures Auto, Markenkleidung, das Ausüben von Trendsportarten und die Benutzung von Szene- und »In-Jargons« vom Bemühen, in der Gesellschaft oder innerhalb einer Subkultur Ansehen und eine hohe Rangposition zu erlangen.

Warum war Konrad Lorenz der »Vater der Graugänse«?

Weil er erkannte, dass Gänseküken das erste Lebewesen, das sie nach dem Schlüpfen sehen, als »Mutter« ansehen – und er dies bei vielen Tieren praktisch demonstriert hatte. Auf diese Weise konnte Lorenz (1903–1989) beweisen, dass angeborene Instinkte auch das Zusammenleben zwischen Tieren beeinflussen. Mit diesem und anderen Versuchen schuf der österreichische Zoologe die Grundlagen für das Fachgebiet der vergleichenden Verhaltensforschung.

Schon als Kind zeigte Lorenz großes Interesse für Tiere, die in seinem weitläufigen Elternhaus in großer Zahl anzutreffen waren. Dennoch studierte er zunächst Medizin (u. a. in New York), um dann doch zur Zoologie zurückzukehren; beide Studien schloss er mit der Promotion ab. Während seine Rolle während des Nationalsozialismus umstritten ist, erntete er als Wissenschaftler großen Ruhm und wurde 1973 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Wussten Sie, dass …

Hunde ihren angeborenen Schutzinstinkt für Jungtiere auch auf menschliche Babys ihrer Halterfamilie übertragen?

bei vielen Tierarten Kämpfe nach einem ganz bestimmten Schema ablaufen, das bewirkt, dass ohne Verletzungen Rangfragen geklärt werden können? Bei manchen Arten finden solche »Kämpfe« sogar ohne jeden Körperkontakt statt.

genau wie bei Tieren auch bei Menschen in Konfliktsituationen Übersprunghandlungen auftreten können? Verlegenheit kann sich beispielsweise in Übersprungbewegungen äußern: Man kratzt sich am Kopf, streicht sich den (nicht vorhandenen) Bart oder fährt mit den Fingern durch die Haare.

nicht nur Konrad Lorenz, sondern auch der deutsche Verhaltensbiologe Oskar Heinroth einen Spitznamen hatte? Er galt in der Fachwelt als »Entenheinrich«, da er für seine Studien zwischen 1898 und 1913 fast alle europäischen Entenarten von Hand aufzog.

Was ist ein Pawlow'scher Hund?

Ein sprichwörtlich gewordenes Versuchstier des russischen Verhaltensforschers Iwan Pawlow (1849–1936), das man dazu gebracht hatte, beim Klang eines Glöckchens Speichel abzusondern. Der sog. Speichelflussreflex bewirkt normalerweise bei Hunden, dass beim Anblick von Nahrung Speichel produziert wird, damit die für die Verdauung wichtige Substanz beim Fressen in genügender Menge vorhanden ist. Pawlow läutete nun immer dann, wenn sein Hund einen Knochen zu sehen bekam, ein Glöckchen. Nach einer Weile lief dem Tier auch dann der Speichel, wenn es ohne Knochen nur das Glöckchen hörte. Der Versuch zeigte, wie Reflexe antrainiert werden können. Im übertragenen Sinn bezeichnet man als Pawlow'schen Hund jemanden, dessen Verhalten leicht zu »programmieren« ist.

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