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Deborah Wearing: Gefangen im Augenblick
Mit jedem Wimpernschlag erwacht Clive Wearing in einer unbekannten Welt. Was eben war, ist ausgelöscht. Und was jetzt ist, wird er gleich vergessen. Seit 21 Jahren ist sein Gedächtnis zerstört. Seit 21 Jahren ist die einzige Konstante die Liebe zu seiner Frau. Jetzt erzählt Deborah Wearing ihre Geschichte.
Es beginnt mit leichtem Unwohlsein. Alles sieht zunächst nach einer simplen Erkältung aus. Kopfschmerzen sind für Clive durch die Anstrengung seines Jobs ohnehin so normal, dass das Fläschchen Aspirin stets griffbereit auf dem Nachttisch steht. Doch die Schmerzen werden von Tag zu Tag schlimmer, er bekommt hohes Fieber und muss sich immer wieder übergeben. Herbeigerufene Notärzte diagnostizieren eine schwere Grippe, verordnen Schlafmittel und Schmerztabletten und gehen wieder. Clive erkennt die Wohnung nicht mehr, kann sich nicht artikulieren, am sechsten Tag verliert er das Bewusstsein und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Dort beginnt der Kampf um sein Le-ben: Die Untersuchungsergebnisse deuten auf eine Hirnhautentzündung, entfacht durch das Herpes-Virus; Clives Körper zuckt in schweren epileptischen Anfällen. »Es sieht nicht gut aus«, sagen die Ärzte. Mit unerbittlicher Präzision zeichnet das EEG die Kurve der Hirnstromwellen als wüstes Auf und Ab: In Clives Kopf tobt ein Sturm. Als das Virus durch antivirale Medikamente gestoppt werden kann, sind bereits große Teile von Clives Gehirn zerstört. Aber er lebt. »Was wird als Nächstes geschehen?«, fragt Deborah immer wieder. Niemand hat eine Antwort. In den ersten Tagen ist Clive nicht in der Lage, sich mitzuteilen; was man ihm sagt, begreift er nicht. »Aber er konnte mir in die Augen sehen und sagen, dass er mich liebte. Es war der einzige Satz, an den er sich erinnerte.« Mit der Zeit kehrt seine Sprache zurück, körperlich geht es ihm gut. Doch mit jedem Tag wird offenbar, wie wenig ihm von dem geblieben ist, was er einmal war. Seine Intelligenz hat ihn nicht verlassen, aber er hat nichts, woran er anknüpfen kann: Jeder Moment erscheint ihm wie der erste nach langer Ohnmacht. »Ich bin eben erst erwacht«, sagt er immer wieder. »Wie lange bin ich schon krank?«
»Neun Wochen.«
»Neun Wochen …? Ich habe nichts gehört, nichts gesehen, nichts berührt, nichts gerochen. Es ist, als wäre man tot. Wie lange geht das jetzt schon?«
»Neun Wochen.«
»Neun Wochen …? Ich habe nichts gehört, nichts gesehen, nichts berührt, nichts gerochen. Es ist wie eine einzige lange Nacht, und die dauert jetzt schon … wie lange?«
Keine Antwort dringt zu ihm vor, und ihm bleibt nichts als das Erschrecken. Jedes Mal aufs Neue. Monatelang. Jahrelang. »Diese immer gleichen Dialoge waren grauenvoll und zermürbend«, erzählt Deborah. »Aber wie es mir ging, war nichts im Vergleich zu dem Horror, den er durchmachte.«
Man kann ihn nur erahnen, diesen Horror. In Clives Tagebuch spiegelt er sich wider: »Zum ersten Mal wach«, heißt es da, fast ununterbrochen, Zeile für Zeile. Akribisch notiert er exakte Uhrzeiten, um sie wenige Minuten später zu korrigieren: »17.08 zum ersten Mal wach. 17.11 zum ersten Mal wirklich wach. 17.14 erstes klares Bewusstsein 17.18 Und JETZT zum ersten Mal wach.«
Er schreibt, legt den Stift zur Seite, liest – in seiner Handschrift – die Behauptung, er sei wach, dabei weiß er doch, dass er eben erst zu sich gekommen ist, nach Monaten oder Jahren der Bewusstlosigkeit. Also streicht er den Eintrag durch, sieht auf die Uhr und hält den Moment seines ersten, wirklichen Wachseins fest. Vom vielen Ausstreichen und Bekräftigen sind die Seiten des Tagebuchs weich und verbeult. Clive ringt um seinen Verstand, sucht Erklärungen für das Unerklärbare: Warum erwacht er ausgerechnet jetzt? Wer hat Interesse an seiner Bewusstlosigkeit? Bei jedem Wimpernschlag hat er das Gefühl, etwas völlig Neues vor sich zu haben. »Warum machen sie das mit mir?«, fragt er, kreidebleich vor Angst und Wut. »Wie schaffen sie es, das ganze System derart zu verändern? Sieh doch, so war es vorher nicht! Was geht hier vor? Ich verstehe es nicht!«
Deborahs Leben besteht im halsbrecherischen Spagat zwischen Clives Welt im Krankenhaus und dem, was Alltag heißt und es doch nie wieder sein kann. »Nettes, oberflächliches Geplauder ertrug ich nicht. Was ich mir wirklich (…) wünschte, war, wie ein Stein umzufallen, mich in Schlick zu legen, mit Erde zuzudecken und zu brüllen.« Wenn sie abends nach Hause kommt, schließt sie die Tür hinter sich und legt sich direkt davor auf den Boden. Durch den Türspalt weht ihr Luft von draußen ins Gesicht, aus den Nachbarwohnungen sickern Geschirrklappern und Hundegebell – das Leben der anderen, so fern, so nah. Für Clive ist Deborah die letzte Konstante, die Frage »Liebst du mich?« der Bannspruch, mit dem sie ihn auch aus tobender Verzweiflung und Wut zurückholen kann. »Wenn er mich in der Tür auftauchen sah, war er wie vom Donner gerührt, warf die Arme in die Luft, umklammerte mich und weinte vor Erleichterung. Dann erzählte er mir, jetzt sei alles okay, er sei am Leben, wach, und alles sei jetzt normal.« Doch wegen der Aufregung lösen ihre Besuche immer häufiger schwere epileptische Anfälle aus. Er vermisst sie, wenn sie nicht da ist, aber ist dann auch ausgeglichener, macht größere Fortschritte. 1993 zieht er in ein Heim auf dem Land, Deborah versucht den Absprung in ein neues Leben: »Mein Mann und ich waren uns näher als Zwillinge, aber ich meinte, ich hätte die Pflicht uns beiden gegenüber, wenigstens den Versuch zu machen, mich zu retten.« Sie lässt sich scheiden, geht nach New York, »aber der nie enden wollende Rhythmus seiner nie enden wollenden Nacht pochte in mir (…) weiter«, und bei den regelmäßigen Telefongesprächen fällt ihr das Auflegen schwer: »Es ging nichts über seine Stimme.« Andere Männer halten dem Vergleich mit Clive nicht stand. »Ich war nach wie vor verliebt in ihn«, sagt sie. »Er ist der beste Mann des Universums. Es hat mir das Herz gebrochen, nicht mit ihm leben zu können.«
Nicht mit und nicht ohne ihn. Es ist das Jahr 1997; zwölf Jahre hält Clives Krankheit ihn nun schon gefangen im Augenblick. Doch nicht nur ihn: »Mich verband eine gewaltige, nervenzerfetzende Liebe mit einem Mann, von dem die Ärzte sagten, er könne nie wieder mein Ehemann werden.« Deborah lässt den Antrag auf die Green Card liegen und kehrt zurück nach England, ohne zu wissen, wie sie es dort aushalten soll. Kein Ort, nirgends.
Es ist die Religion, mit deren Hilfe sie schließlich ihren Weg aus der Sackgasse findet. Das letzte Kapitel des Buches ist erfüllt vom Staunen über diese Wende, die sie wie eine Auferstehung erlebt: »Die große, klaffende Wunde, die ich all die Jahre gehabt hatte, schloss sich langsam.« Die Hinwendung zum Christentum stärkt sie so sehr, dass sie Clive vorschlägt, ihr Ehegelöbnis zu erneuern. »Es ist immer noch traurig, dass er so ist, wie er ist«, heißt es im letzten Kapitel, »und dass wir, von unserer aufrichtigen Liebe abgesehen, nichts haben, was einer regulären Ehe ähnlich sieht.« Das haben sie bis heute nicht. »Trotzdem«, sagt Deborah Wearing und klingt dabei ganz und gar nicht wie jemand, der sich aufopfert, »bin ich Clive treu und fühle mich verheirateter denn je. Natürlich nicht in konventioneller Weise, ich lebe ja nicht mit ihm, aber in der, die am meisten zählt.«