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Deborah Wearing: Gefangen im Augenblick

Mit jedem Wimpernschlag erwacht Clive Wearing in einer unbekannten Welt. Was eben war, ist ausgelöscht. Und was jetzt ist, wird er gleich vergessen. Seit 21 Jahren ist sein Gedächtnis zerstört. Seit 21 Jahren ist die einzige Konstante die Liebe zu seiner Frau. Jetzt erzählt Deborah Wearing ihre Geschichte.

Text: Ruth Hoffmann; Foto: Martin Salter

Martin Salter; buecher
Das Virus schläft in einem Nervenknoten nahe der Wirbelsäule. Wenn es erwacht, löst es normalerweise harmlose Lippenbläschen aus. Diesmal aber überwindet es die Blut-Hirn-Schranke, macht sich über die Stirnlappen her, befällt Thalamus, Hypothalamus und Amygdala. Innerhalb weniger Tage vernichtet es die seepferdchenförmigen Strukturen namens Hippocampus, griechisch für Seepferdchen: das Zentrum für Gedächtnis und Erinnerung. Als man Deborah Wearing im Londoner St. Mary’s Hospital kurz darauf ein Computertomogramm vom Kopf ihres Mannes Clive zeigt, ist von seinem Gehirn kaum mehr geblieben als seepferdchenförmige Narben. Zwar konnte die Zerstörungswut des Herpes-simplex-Virus gestoppt werden, doch ist der Schaden bereits unabsehbar. »Läsionen« nennt der Arzt die riesigen dunklen Flecken der Verwüstung. Wie sie sich auf Clive auswirken werden, vermag niemand zu sagen. »Herpes« ist das griechische Wort für »schleichender Schaden«. Noch weiß Deborah nicht, dass sie ihren Mann verlieren wird, obwohl er überlebt – sie verliert ihn an die Zeit. Clive wird sich nach seiner Genesung an nichts mehr erinnern können, was länger als einige Sekunden zurückliegt. Es ist das Jahr 1985. Das Jahr, in dem Clive Wearing aus der Zeit fällt.

 

Martin Salter; buecher
»Gefangen im Augenblick« heißt das Buch, das Deborah über die Erkrankung ihres Mannes geschrieben hat. Sie erzählt von 21 Jahren Hoffen, Verzweifeln und Aufgeben, dem mühsamen Alltag, den durchwachten Nächten, der Qual, jemanden zu vermissen, der eigentlich da ist, von der Unmöglichkeit, mit dem Geliebten zu leben – und ohne ihn. Es ist ein Buch über einen der schwersten Fälle von Amnesie, der je beobachtet wurde. Aber auch über eine unzerstörbare Liebe: Clive weiß nicht, wo er ist; an die Namen seiner Kinder aus erster Ehe kann er sich nicht erinnern; jeder Mensch, der ihm neu begegnet, ist ihm schon einen Lidschlag später wieder unbekannt. Doch er erkennt seine Frau, wenn er sie sieht, und er weiß, dass er sie liebt. »Es gibt etwas«, sagt Deborah Wearing im Gespräch mit bücher, »das unangetastet bleibt, egal, was mit jemandem passiert. Etwas Einzigartiges, das jeden Menschen ausmacht. Damals konnte ich es noch nicht so sehen, heute bin ich mir völlig sicher: Es gibt eine Seele. Wir sind mehr als die Summe unserer Einzelteile.« Clive ist 46, als das Virus in sein Hirn eindringt und die Erinnerung an sein gesamtes Leben vernichtet, Deborah 27. Seit sieben Jahren sind die beiden ein Paar. Clive ist Musiker und Dirigent, Deborah arbeitet in der Pressestelle einer Warenhausgruppe. Sie verlieben sich ineinander, als Clive die Leitung des Firmenchors übernimmt. Die erste Zeit zu zweit – »die Zeit davor« – beschreibt Deborah, als sei sie eben erst gewesen und läge nicht schon beinahe 30 Jahre zurück. Sie gibt Unterhaltungen wörtlich wieder, erinnert sich an Konzerte und Opernbesuche, ans gemeinsame Zeitunglesen, den Kauf der Couchgarnitur, Spaghetti vor dem Fernseher. Als wollte sie jedes Detail bewahren, als sei ihr erst jetzt, wo dieser Alltag unwiederbringlich Vergangenheit ist, klar, wie kostbar er war, wie unendlich kostbar. Je erfolgreicher Clive als Musiker und später als Produzent bei der BBC ist, desto mehr beschleunigt sich sein Leben. »Er blickte nicht auf die Überanstrengung in seinem Gesicht«, schreibt Deborah. »Er sah nicht, was ich sah.« Immer wieder bittet sie ihn, alles etwas ruhiger anzugehen. Er verspricht es, doch es ändert sich nichts. »Nie konnte er einen Kompromiss eingehen, niemals würde er eine uninspirierte Rundfunksendung produzieren.« Auch in den Tagen, bevor er krank wird, arbeitet er bis zum Umfallen. »Musik war seine Hauptantriebsfeder. Sie trug ihn über seine begrenzten Kräfte hinaus. In dieser Woche, in jeder Woche hätten wir uns ein Leben ohne Musik in dessen Zentrum nicht vorstellen können, doch genau darauf rasten wir in diesem Moment zu. Wir steuerten auf die absolute Stille zu.«

 

Es beginnt mit leichtem Unwohlsein. Alles sieht zunächst nach einer simplen Erkältung aus. Kopfschmerzen sind für Clive durch die Anstrengung seines Jobs ohnehin so normal, dass das Fläschchen Aspirin stets griffbereit auf dem Nachttisch steht. Doch die Schmerzen werden von Tag zu Tag schlimmer, er bekommt hohes Fieber und muss sich immer wieder übergeben. Herbeigerufene Notärzte diagnostizieren eine schwere Grippe, verordnen Schlafmittel und Schmerztabletten und gehen wieder. Clive erkennt die Wohnung nicht mehr, kann sich nicht artikulieren, am sechsten Tag verliert er das Bewusstsein und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Dort beginnt der Kampf um sein Le-ben: Die Untersuchungsergebnisse deuten auf eine Hirnhautentzündung, entfacht durch das Herpes-Virus; Clives Körper zuckt in schweren epileptischen Anfällen. »Es sieht nicht gut aus«, sagen die Ärzte. Mit unerbittlicher Präzision zeichnet das EEG die Kurve der Hirnstromwellen als wüstes Auf und Ab: In Clives Kopf tobt ein Sturm. Als das Virus durch antivirale Medikamente gestoppt werden kann, sind bereits große Teile von Clives Gehirn zerstört. Aber er lebt. »Was wird als Nächstes geschehen?«, fragt Deborah immer wieder. Niemand hat eine Antwort. In den ersten Tagen ist Clive nicht in der Lage, sich mitzuteilen; was man ihm sagt, begreift er nicht. »Aber er konnte mir in die Augen sehen und sagen, dass er mich liebte. Es war der einzige Satz, an den er sich erinnerte.« Mit der Zeit kehrt seine Sprache zurück, körperlich geht es ihm gut. Doch mit jedem Tag wird offenbar, wie wenig ihm von dem geblieben ist, was er einmal war. Seine Intelligenz hat ihn nicht verlassen, aber er hat nichts, woran er anknüpfen kann: Jeder Moment erscheint ihm wie der erste nach langer Ohnmacht. »Ich bin eben erst erwacht«, sagt er immer wieder. »Wie lange bin ich schon krank?«

»Neun Wochen.«

»Neun Wochen …? Ich habe nichts gehört, nichts gesehen, nichts berührt, nichts gerochen. Es ist, als wäre man tot. Wie lange geht das jetzt schon?«

»Neun Wochen.«

»Neun Wochen …? Ich habe nichts gehört, nichts gesehen, nichts berührt, nichts gerochen. Es ist wie eine einzige lange Nacht, und die dauert jetzt schon … wie lange?«

Keine Antwort dringt zu ihm vor, und ihm bleibt nichts als das Erschrecken. Jedes Mal aufs Neue. Monatelang. Jahrelang. »Diese immer gleichen Dialoge waren grauenvoll und zermürbend«, erzählt Deborah. »Aber wie es mir ging, war nichts im Vergleich zu dem Horror, den er durchmachte.«

Man kann ihn nur erahnen, diesen Horror. In Clives Tagebuch spiegelt er sich wider: »Zum ersten Mal wach«, heißt es da, fast ununterbrochen, Zeile für Zeile. Akribisch notiert er exakte Uhrzeiten, um sie wenige Minuten später zu korrigieren: »17.08 zum ersten Mal wach. 17.11 zum ersten Mal wirklich wach. 17.14 erstes klares Bewusstsein 17.18 Und JETZT zum ersten Mal wach.«

Er schreibt, legt den Stift zur Seite, liest – in seiner Handschrift – die Behauptung, er sei wach, dabei weiß er doch, dass er eben erst zu sich gekommen ist, nach Monaten oder Jahren der Bewusstlosigkeit. Also streicht er den Eintrag durch, sieht auf die Uhr und hält den Moment seines ersten, wirklichen Wachseins fest. Vom vielen Ausstreichen und Bekräftigen sind die Seiten des Tagebuchs weich und verbeult. Clive ringt um seinen Verstand, sucht Erklärungen für das Unerklärbare: Warum erwacht er ausgerechnet jetzt? Wer hat Interesse an seiner Bewusstlosigkeit? Bei jedem Wimpernschlag hat er das Gefühl, etwas völlig Neues vor sich zu haben. »Warum machen sie das mit mir?«, fragt er, kreidebleich vor Angst und Wut. »Wie schaffen sie es, das ganze System derart zu verändern? Sieh doch, so war es vorher nicht! Was geht hier vor? Ich verstehe es nicht!«

 

Deborahs Leben besteht im halsbrecherischen Spagat zwischen Clives Welt im Krankenhaus und dem, was Alltag heißt und es doch nie wieder sein kann. »Nettes, oberflächliches Geplauder ertrug ich nicht. Was ich mir wirklich (…) wünschte, war, wie ein Stein umzufallen, mich in Schlick zu legen, mit Erde zuzudecken und zu brüllen.« Wenn sie abends nach Hause kommt, schließt sie die Tür hinter sich und legt sich direkt davor auf den Boden. Durch den Türspalt weht ihr Luft von draußen ins Gesicht, aus den Nachbarwohnungen sickern Geschirrklappern und Hundegebell – das Leben der anderen, so fern, so nah. Für Clive ist Deborah die letzte Konstante, die Frage »Liebst du mich?« der Bannspruch, mit dem sie ihn auch aus tobender Verzweiflung und Wut zurückholen kann. »Wenn er mich in der Tür auftauchen sah, war er wie vom Donner gerührt, warf die Arme in die Luft, umklammerte mich und weinte vor Erleichterung. Dann erzählte er mir, jetzt sei alles okay, er sei am Leben, wach, und alles sei jetzt normal.« Doch wegen der Aufregung lösen ihre Besuche immer häufiger schwere epileptische Anfälle aus. Er vermisst sie, wenn sie nicht da ist, aber ist dann auch ausgeglichener, macht größere Fortschritte. 1993 zieht er in ein Heim auf dem Land, Deborah versucht den Absprung in ein neues Leben: »Mein Mann und ich waren uns näher als Zwillinge, aber ich meinte, ich hätte die Pflicht uns beiden gegenüber, wenigstens den Versuch zu machen, mich zu retten.« Sie lässt sich scheiden, geht nach New York, »aber der nie enden wollende Rhythmus seiner nie enden wollenden Nacht pochte in mir (…) weiter«, und bei den regelmäßigen Telefongesprächen fällt ihr das Auflegen schwer: »Es ging nichts über seine Stimme.« Andere Männer halten dem Vergleich mit Clive nicht stand. »Ich war nach wie vor verliebt in ihn«, sagt sie. »Er ist der beste Mann des Universums. Es hat mir das Herz gebrochen, nicht mit ihm leben zu können.«

 

Nicht mit und nicht ohne ihn. Es ist das Jahr 1997; zwölf Jahre hält Clives Krankheit ihn nun schon gefangen im Augenblick. Doch nicht nur ihn: »Mich verband eine gewaltige, nervenzerfetzende Liebe mit einem Mann, von dem die Ärzte sagten, er könne nie wieder mein Ehemann werden.« Deborah lässt den Antrag auf die Green Card liegen und kehrt zurück nach England, ohne zu wissen, wie sie es dort aushalten soll. Kein Ort, nirgends.

Es ist die Religion, mit deren Hilfe sie schließlich ihren Weg aus der Sackgasse findet. Das letzte Kapitel des Buches ist erfüllt vom Staunen über diese Wende, die sie wie eine Auferstehung erlebt: »Die große, klaffende Wunde, die ich all die Jahre gehabt hatte, schloss sich langsam.« Die Hinwendung zum Christentum stärkt sie so sehr, dass sie Clive vorschlägt, ihr Ehegelöbnis zu erneuern. »Es ist immer noch traurig, dass er so ist, wie er ist«, heißt es im letzten Kapitel, »und dass wir, von unserer aufrichtigen Liebe abgesehen, nichts haben, was einer regulären Ehe ähnlich sieht.« Das haben sie bis heute nicht. »Trotzdem«, sagt Deborah Wearing und klingt dabei ganz und gar nicht wie jemand, der sich aufopfert, »bin ich Clive treu und fühle mich verheirateter denn je. Natürlich nicht in konventioneller Weise, ich lebe ja nicht mit ihm, aber in der, die am meisten zählt.«

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