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Rubens' Raub der Töchter des Leukippos: Sinnbild barocker Malerei

Welche Geschichte liegt dem Werk zugrunde?

Rubens interpretiert in seinem zwischen 1615 und 1618 gemalten »Raub der Töchter des Leukippos« einen antiken Mythos, der in verschiedenen Fassungen überliefert ist. Die Mehrzahl stellt die Verlobung der Töchter des Königs Leukippos von Messenien mit den Zwillingen Idas und Lynkeus dar. Die Entführung der Bräute durch die Dioskuren (Zeussöhne) Castor und Pollux führte zu einem blutigen Kampf, bei dem die beiden Bräutigame und – je nach Überlieferung – auch Castor starben. Rubens wählte für sein Bild die seltenere Variante, nach der die Entführung mit einer Hochzeit endete: Der unsterbliche Faustkämpfer Pollux ehelicht Phoebe; der sterbliche Castor, Rossebändiger und Reiter, Hilaeira.

Wie sind die Figuren angeordnet?

Rubens hat die Entführungsszene in eine kunstvoll balancierte Gruppierung umgesetzt. Die nackten Körper von Phoebe und Hilaeira werden dem Betrachter in ihrer ganzen Schönheit und Hilflosigkeit präsentiert, einmal als Rückenakt, das andere Mal von vorn. Es war nicht Rubens' Absicht, eine logische Bewegungsabfolge wiederzugeben. Das auf dem Boden kniende Mädchen hebt noch abwehrend seinen linken Arm. Die Emporgehobene streckt zwar ihren linken Arm Hilfe suchend aus und richtet ihren Blick, himmlischen Beistand erhoffend, nach oben; ihre Gestik kündigt jedoch schon Ergebung in ihr Schicksal, wenn nicht Hingabe an – die rechte Hand ruht zärtlich auf dem Unterarm ihres Entführers. Die Männer wirken ruhig und beherrscht, ihr Griff scheint behutsam. Der Blick Castors, des gerüsteten Reiters, fällt liebevoll auf das Gesicht des erschrockenen Mädchens unten, das von Pollux, dem Faustkämpfer mit nacktem Oberkörper, gehalten wird.

Die Pferde, um die sich Putti (geflügelte Liebesgötter in Kindergestalt) bemühen, rahmen die Gruppe der Helden und Mädchen. Ein Putto greift in die Zügel des braunen Pferdes und blickt den Betrachter vielsagend an – das Pferd steht für die Leidenschaft, die von der Liebe gezügelt wird.

Welche Bedeutung hat die Farbe im Bild?

Die sinnliche Farbgebung, die sich um die Frauenkörper entfaltet, betont die Erotik des gemalten Geschehens. Rubens wurde für seine reiche Farbgebung berühmt. Kaum ein anderer Künstler wusste Haut und Fleisch des menschlichen Körpers so lebendig zu charakterisieren wie er. Strahlende Farbigkeit, Harmonie im Gesamteindruck und Betonung der Handlung zeichnen seine Farbgestaltung aus. Rubens' Stil wurde zum Ausgangspunkt der Farbfreude des Rokokos. Im 19. Jahrhundert ließ sich der französische Maler Eugène Delacroix von Rubens anregen und griff in seinem Werk dessen Verbindung von Farbigkeit mit einem dramatischen Erzählstil wieder auf.

Warum wurde der »Frauenraub« zum Mythos?

Rubens' Bildthema des »Frauenraubs« konnte nur in einer patriarchalen Welt zum Gegenstand von Mythos und Kunst werden. Die Frau stand damals entweder unter der Vormundschaft des Vaters oder des Ehegatten. Ein »Frauenraub« verletzte die Rechte der Familie und wurde schwer bestraft. Was in der sozialen Realität nicht erlaubt war, fand sich aber in den antiken Mythen als Tat von Helden und Göttern vielfach und meist wohlwollend beschrieben. Auch Castor und Pollux galten als Helden und Halbgötter, deren Tat nicht negativ bewertet wurde.

Wurde das Thema öfter behandelt?

Die Kunst der Neuzeit griff das Thema des Frauenraubs in zahlreichen Werken auf. Zweifellos schmeichelte es den männlichen Auftraggebern, eignete sich aber stets auch zum Zwecke allegorischer Aufwertung: Frauenraubdarstellungen aus der Zeit des beginnenden Absolutismus konnten den mit Gewalt durchgesetzten Anspruch von Fürsten auf Herrschaft über ihr Land oder ihre Stadt demonstrieren.

Was inspirierte das Gemälde?

Der »Raub der Töchter des Leukippos« könnte auch von einer für heutige Ohren provokanten Stelle in der »Liebeskunst« des römischen Dichters Ovid, geschrieben um Christi Geburt, angeregt worden sein (1,673 bis 680): »Du magst es Gewalt nennen, willkommen ist diese den Mädchen; was sie freut, wollen sie oft nur widerwillig hergeben. (…) Phoebe erlitt Gewalt, Gewalt wurde der Schwester angetan; jedoch beiden Geraubten waren die Räuber erwünscht.« Wahrscheinlich gibt es noch eine allegorische Sinnebene, die bislang nicht entschlüsselt werden konnte.

War Peter Paul Rubens nur als Maler tätig?

Nein, er wirkte auch als Architekt und Diplomat. Der Flame Peter Paul Rubens, geboren 1577 in Siegen in Westfalen, gestorben 1640 in Antwerpen, zählt zu den Begründern der Barockmalerei. Umfassend gebildet, im Kontakt mit bedeutenden Gelehrten seiner Zeit, war er neben seiner umfangreichen künstlerischen Tätigkeit auch als Diplomat im Dienst der Erzherzogin Isabella, Statthalterin der spanischen Niederlande, tätig. Zu seinen Auftraggebern zählten die Fürsten Europas. Er schuf zahlreiche religiöse und mythologische Bilder, umfangreiche Gemäldezyklen für Schlösser und Kirchen, Porträts und Landschaften, entwarf Titelblätter für Bücher und war sogar als Architekt tätig.

Dank seines Erfolgs konnte er sich schließlich in der Nähe von Mecheln einen Landsitz zulegen. Der Maler starb 1640 wahrscheinlich an Gicht. Der Verkauf seines Nachlasses brachte über eine Million Gulden ein.

Wussten Sie, dass …

das Bild als Allegorie auf die Doppelhochzeit zwischen den spanischen und französischen Thronfolgern Ludwig XIII. und Philipp IV. mit Prinzessinnen aus dem jeweils anderen Haus gesehen werden kann? Beim feierlichen Vertragsschluss 1612 wurden die Prinzen als Castor und Pollux gefeiert.

Rubens in seinen letzten Jahren nur noch Skizzen anfertigte? Die Ausführung überließ er seinen Schülern.

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