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Interview: 65 Jahre Antibabypille – zwischen Revolution und Risiko

Seit 65 Jahren ermöglicht die „Antibabypille“ Frauen eine der sichersten Verhütungsmethoden. Galt „die Pille“ anfangs noch als Symbol der Emanzipation, hat sich der Blick auf sie in den letzten Jahren zunehmend gewandelt. Wie nahm die Gesellschaft die Pille zunächst wahr? Und warum lehnen sie heute so viele Frauen ab?
SSC/Universität Siegen, 18.08.2025
Feau liest den Beipackzettel einer Antibabypillenpackung

© AntonioGuillem, iStock

Heute vor 65 Jahren, am 18. August 1960, feierte die Antibabypille ihre Premiere und kam als „Enovid“ in den USA auf den Markt. Mit einem Pearl-Index von 0,1 bis 0,9 gilt „die Pille“ als eines der zuverlässigsten Verhütungsmittel. Zum Vergleich: Das Kondom hat einen Pearl-Index von zwei bis zwölf, die Kupferspirale von 0,3 bis 0,88. Die Zahl gibt an, dass von 100 Frauen, die mit der Pille verhüten, weniger als eine ungewollt schwanger wird. Trotz dieser hohen Sicherheit stieß die Antibabypille von Anfang an auch auf Kritik, sowohl von Frauen als auch von Ärzten – bis heute.

Uta Fenske vom Zentrum für Gender Studies der Universität Siegen erklärt die Rolle der Pille als Tabubrecher und die gesellschaftliche Entwicklung rund um das Verhütungsmittel.

Welche Rolle spielte die Pille als Motor der sexuellen Revolution in den 60er- und 70er-Jahren?

Uta Fenske: Die Pille hat das Sexualleben der heterosexuellen Frauen im gebärfähigen Alter verändert. Denn die Pille war viel sicherer als andere Verhütungsmittel. Sie verringerte das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft. Das hatte zur Folge, dass junge Frauen ohne Angst vorehelichen Sex haben konnten. Außerdem waren Frauen, die die Pille einnahmen, nicht mehr darauf angewiesen, dass der Mann die Verantwortung für die Verhütung übernahm oder eben auch nicht.

Und die Pille ermöglichte eine zuverlässigere Familienplanung als andere Verhütungsmittel wie Kondome, Diaphragmen oder die Temperaturmethode, um nur einige zu nennen. Damit ging auch eine bessere Lebens- und Karriereplanung einher. Während man in der Bundesrepublik von der „Anti-Baby-Pille“ sprach, wurde sie in der DDR als „Wunschkindpille“ positiv etikettiert. Beide Bezeichnungen verdeutlichen, dass es sich bei diesem neuen hormonellen Arzneimittel für Frauen um ein Medikament zur Empfängnisverhütung beziehungsweise zur Lebensplanung handelte.

Nun könnte man meinen, dass viele Frauen im gebärfähigen Alter die Markteinführung der Pille als Befreiungsschlag gefeiert hätten. Insgesamt dauerte es aber gut zehn Jahre, bis sich die Pille in der Bundesrepublik durchsetzte. Erst Anfang der 1970er Jahre war die Pille das am häufigsten verwendete Verhütungsmittel: 1973 nahmen 38 Prozent der 15- bis 44-jährigen Frauen die Pille.

Hat die Pille dabei geholfen, das Tabu rund um Sexualität aufzubrechen?

Uta Fenske: Anfang der 1960er-Jahre war Verhütung noch ein großes Tabuthema. In Familien wurde in der Regel nicht über Sexualität geredet. Die Einführung der Pille hat maßgeblich dazu beigetragen, dass öffentlich über Verhütung diskutiert wurde.

Die einen sahen in ihr den Weg zu einer befreiten weiblichen Sexualität und ein Mittel, um die hohe Zahl der Abtreibungen zu senken. Die anderen fürchteten einen Sittenverfall, insbesondere bei jungen Frauen, oder warnten vor medizinischen Risiken wie Thrombosen oder Krebs. So kontrovers diese Diskussionen auch geführt wurden: Sie trugen wesentlich dazu bei, die Verklemmtheit der Nachkriegszeit aufzubrechen.

Wie reagierte die Frauenbewegung auf die Pille – Befreiung oder neue Abhängigkeit?

Uta Fenske: Interessanterweise war die Neue Frauenbewegung, die Ende der 1960er Jahre entstand, gespalten. Während einige Gruppen forderten, dass die Krankenkassen die Pille bezahlen sollten, formulierten andere Anfang der 1970er Jahre eine radikale Kritik. Sie warnten vor den Folgen für die Gesundheit. An die Stelle der Angst vor ungewollter Schwangerschaft trat die Angst vor gesundheitlichen Risiken. Sie fragten, wo denn die Pille für den Mann bleibe und ob die Pille nicht dazu führe, dass Frauen nun als jederzeit verfügbar angesehen würden.

Einig waren sich die Gruppen jedoch darin, dass die Pille nicht per se als Befreiung angesehen werden könne. Eine befreite Sexualität sei nur in einer gleichberechtigten Gesellschaft möglich, in der Männer und Frauen gleichermaßen Verantwortung für Verhütung übernähmen.

Warum kehren heute so viele Frauen der Pille den Rücken?

Uta Fenske: Es ist richtig, dass viele Frauen sich von der Pille abgewendet haben. 2007 haben noch 55 Prozent der verhütenden Frauen die Pille genommen. Heute sind es noch knapp 38 Prozent. Dafür wird das Kondom beliebter, inzwischen wird es häufiger als die Pille zur Verhütung benutzt.

Die Gründe, warum Frauen die Pille nicht nehmen, sind sicher vielfältig. Insbesondere seit 2018 lässt sich bei Frauen eine sehr kritische Einstellung zur hormonellen Empfängnisverhütung beobachten. Diese resultiert aus dem Nachdenken über die tägliche Medikamentennutzung. Schließlich sind sie es, die tagtäglich Hormone schlucken und unter Nebenwirkungen wie Verstimmungen, Depressionen, Kopfschmerzen, Libidoverlust – um nur einige zu nennen – leiden können.

Bemerkenswert ist, dass sich die kritische Haltung gegenüber der Pille bei sexuell aktiven Männern ebenfalls sehr verändert hat. Eine Studie zum Verhütungsverhalten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 2023 hat ergeben, dass 64 Prozent der sexuell aktiven Männer der Aussage zustimmen, dass die Pille „negative Auswirkungen auf Körper und Seele“ hat. Die Tatsache, dass sich die Ansichten von Frauen und Männern bei der Beurteilung der Pille stark angenähert haben, ist meines Erachtens ein Zeichen dafür, dass unsere Gesellschaft gleichberechtigter wird.

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