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Minderheitsregierung in Deutschland – Zukunft oder Ding der Unmöglichkeit?
Zurzeit liegt die CDU in den Umfragen zur Bundestagswahl mit 30 Prozent vorne. Eine Koalition mit der AfD schließt Parteichef Friedrich Merz aus. FDP, BSW und Linke könnten es womöglich nicht über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen. Dann blieben Merz nur SPD und Grüne – eine Koalition mit Konfliktpotenzial. Würde Merz‘ Regierungsbildung scheitern, könnte es zu einer Minderheitsregierung kommen. Seit dem Bruch der Ampelkoalition regiert Kanzler Olaf Scholz ebenfalls ohne Mehrheit. Aber was bedeutet das konkret?
Was ist eine Minderheitsregierung?
Um Gesetze beschließen zu können, braucht es eine Mehrheit im Parlament. Bei einer Minderheitsregierung benötigt die Regierungspartei also die Unterstützung der Opposition, um diese Mehrheit zu erreichen. Sie muss daher entweder Stimmen aus den anderen Parteien gewinnen oder Teile davon zur Enthaltung bewegen. Eventuell muss sich die Regierungspartei auch immer wieder auf Kompromisse einlassen, um den Zuspruch ihrer „Unterstützungsparteien“ nicht zu verlieren.
„Die Unterstützungspartei verzichtet zwar auf den Amtsbonus, hat dadurch aber mehr Freiheitsgrade, sich als unabhängige, kritische Reformkraft im Parteienwettbewerb und in der Öffentlichkeit zu profilieren“, erklärt Politikwissenschaftler Sven Jochem von der Universität Konstanz. „Durch das Bündnis mit der Regierung kann sie zugleich aus der Opposition heraus ihren Einfluss auf das Regierungshandeln maximieren und so ihre politischen Ziele besser durchsetzen.“
Wie funktioniert eine Minderheitsregierung in Deutschland?
Damit eine solche Minderheitsregierung in Deutschland funktionieren könnte, bräuchte es bestimmte Rahmenbedingungen: Bis jetzt werden Stimmenthaltungen – beispielsweise im Bundesrat – als Nein-Stimmen interpretiert. Für eine funktionierende Minderheitsregierung müssten Stimmenthaltungen jedoch auch als „neutrale“ Stimmen akzeptiert werden. Experten bezeichnen dieses Prinzip als „negativen Parlamentarismus“.
„Ein Wandel vom positiven hin zum negativen Parlamentarismus würde in Deutschland das Regieren ohne feste Mehrheit erleichtern – vor allem für die Unterstützungspartei, die nicht mit einer Ja-Stimme ihre Position klar ausdrücken muss, sondern sich hinter einer neutralen Enthaltung verstecken darf“, erklärt Jochem. Die Regierung braucht somit keine absolute Mehrheit an Ja-Stimmen und kann ein Gesetz auch dann noch verabschieden, wenn die Mehrheit nicht gegen das Gesetz stimmt.
Gibt es Länder, in denen eine Minderheitsregierung funktioniert hat?
In den skandinavischen Ländern Dänemark, Norwegen und Schweden hat es bereits Minderheitsregierungen gegeben oder sie sind dort gar der Normalfall. In letzter Zeit scheinen diese Regierungen jedoch nicht mehr so häufig ständig wechselnde Bündnisse mit verschiedenen Parteien einzugehen.
„Die Minderheitsregierungen in Nordeuropa schließen zunehmend formalisierte Abkommen mit festen Partnern in der Opposition, durchaus vergleichbar mit den Koalitionsverträgen einer Mehrheitsregierung“, sagt Jochem. „Daraus formieren sich Bündnisse, die durchaus für die gesamte Legislaturperiode stabil bleiben können.“ Erst Ende Januar zerbrach jedoch die norwegische Minderheitsregierung wegen Differenzen über eine Annäherung an die europäische Energiepolitik.
Das verdeutlicht, dass Minderheitsregierungen nicht ohne Risiko sind. „Es besteht immer die Gefahr, dass die Opposition gegen die Minderheitsregierung Gesetze auf den Weg bringt“, sagt Jochem. Er betont, dass die Regierungspartei dann ein Druckmittel braucht, um sich nicht von der Opposition erpressbar zu machen – zum Beispiel die Auflösung des Parlaments. In den skandinavischen Ländern ist die Auflösung der Parlamente oft einfach geregelt – in Deutschland bislang jedoch nicht. Eine Minderheitsregierung würde daher hierzulande viele Herausforderungen mit sich bringen.