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Odessa – bedrohtes Kulturerbe der Ukraine

Liberal, multikulturell, weltoffen und tolerant: Das sind die Attribute, mit denen man die am Schwarzen Meer gelegene ukrainische Stadt Odessa jahrzehntelang bedachte. Wie viel sich die kulturträchtige Metropole davon im aktuellen Krieg und danach noch bewahren kann, bleibt abzuwarten. Aber wie kam es überhaupt zur Entwicklung Odessas zu einer der beliebtesten Städte der Ukraine?
JFR, 28.03.2022
Odessa

GettyImages, bergamont

Die Stadt Odessa liegt am Schwarzen Meer und ist die größte und wichtigste Metropole der südlichen Ukraine. Dies liegt nicht zuletzt am strategisch wichtigen Hafen, über den ein Großteil des Seehandels der Ukraine abgewickelt wird. Doch Odessa ist noch viel mehr als das. In ihrer kurzen, aber glanzvollen Geschichte hat die Stadt ein reiches kulturelles Erbe angehäuft.

Von der Zarinnenstadt bis zum Zweiten Weltkrieg

Odessa wurde 1794 von der russischen Zarin Katharina der Großen gegründet, mit dem Ziel, einen leistungsfähigen Militärhafen für den Schwarzmeermittelraum zu schaffen. Die Stadt schwang sich innerhalb weniger Jahrzehnte zur modernen Hafenmetropole auf und zog durch ihre internationalen Verbindungen und ihren Wohlstand auch viele Künstler, Dichter und Architekten an. Dadurch, dass man allen Konfessionen das Erbauen religiöser Gebäude erlaubte, herrschte in Odessa bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ein Klima der Toleranz und Offenheit.

Auch aus anderen Teilen Europas zog es viele Menschen in die "Perle am Meer", denn Katharina die Große sprach den Siedlern eine Reihe von Privilegien zu, wie die Befreiung vom Militärdienst oder Steuerfreiheit. Dies legte den Grundstein für die Entstehung der multinationalen Stadt, zu der Odessa sich entwickelte.

Die weitgehende Religionsfreiheit und das liberale gesellschaftliche Klima der Stadt zogen auch viele Menschen jüdischen Glaubens  an, so dass sie um 1900 mehr als ein Drittel der Bewohner Odessas ausmachten. Doch mit dem Zweiten Weltkrieg und der Besetzung weiter Teile der Ukraine durch die Armeen des nationalsozialistischen Deutschen Reiches endete diese Ära: Die jüdische Gemeinschaft in Odessa wurde durch Pogrome, Ermordungen und Deportationen stark dezimiert. Heute fällt der Anteil der Juden an Odessas Bevölkerung kaum mehr ins Gewicht.

Potemkinsche Treppe in Odessa
Die berühmte Potemkinsche Treppe führt vom Hafen hinauf zu dem Hochplateau, auf dem sich weite Teile Odessas erstrecken.

GettyImages, Diego Fiore

Nadelöhr des ukrainischen Handels

Odessa war zwar bei seiner Gründung Teil des russischen Zarenreichs, dies blieb aber nicht immer so. Zu  Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte die Stadt zur kurzlebigen, von 1917 bis 1920 bestehenden Ukrainischen Volksrepublik. Dann jedoch wurde Odessa, wie auch der Rest der ukrainischen Gebiete, in die Sowjetunion eingegliedert. Der langjährige russische Einfluss während dieser Ära führte dazu, dass in Odessa heutzutage hauptsächlich Russisch gesprochen wird. Nachdem die Sowjetunion zerfallen war, wurde Odessa 1991 ein Teil der unabhängigen Ukraine.

Nachdem Russland im Jahr 2014 die Krim und damit auch die Hafenstadt Sewastopol annektierte, wurde Odessa zum Hauptquartier der ukrainischen Seestreitkräfte. Die Schwarzmeer-Metropole besitzt außerdem den größten Hafen des Landes und ist der wichtigste Standort für den internationalen Handel. Über den Hafen wird der größte Teil des ukrainischen Imports und Exports abgewickelt. Die Ukraine stellt 15 Prozent der globalen Getreideausfuhr, aber exportiert auch große Mengen an Stahl und Eisen.

Opernhaus, Odessa
Das Opernhaus zählt zum glanzvollen Erbe aus der Belle Epoque, als sich Odessa geschmacklich an Paris und Wien orientierte.

GettyImages, Multipedia

Reich an Kultur und Kunst

"Dort wehen schon Europas Lüfte, dort streut der Süden Glanz und Düfte. Pulsiert das Leben leichtbeschwingt, Italiens holde Sprache klingt", schrieb der russische Dichter Alexander Puschkin über Odessa, welches später auch als das "russische Italien" bezeichnet wird. Und tatsächlich galt Odessa schon früher als stark europäisch orientiert und zog auch Freidenker und Oppositionelle aus dem streng regierten Zarenreich an.

Die Stadt liegt auf einem Plateau etwa 40 Meter über dem schwarzen Meer, an das die Stadt grenzt. Die Odessiten gelangen zum Hafen über die große Potemkinsche Treppe. Die Bauweise der Treppe erzeugt absichtlich eine perspektivische Verzerrung, die sie wesentlich länger erscheinen lässt - fast so als würde sie direkt in den Himmel führen. Durch Szenen aus dem Film "Panzerkreuzer Potemkin" von 1925 wurde die Anlage auch international bekannt und ist heute eines der Wahrzeichen der Stadt.

Ein weiteres architektonische Highlight aus Odessas Glanzzeit ist das Opernhaus, das 1883 von zwei Wiener Architekten erbaut wurde. Der dreistöckige Rundbau beeindruckt mit seiner prunkvollen Ausstattung und soll mit einer der besten Akustiken der Opernhäuser dieser Welt ausgestattet sein.

Zwischen Europa und Russland

Obwohl Odessa nun seit über 30 Jahren zur Ukraine gehört, bilden die russischsprachigen Ukrainer hier die Mehrheit. Dennoch orientieren sich die Einwohner stärker zur Ukraine als die Bevölkerung der östlichen Regionen oder der Krim. Dies führt aber auch dazu, dass die Beziehungen zwischen den Menschen, die sich eher nach Europa oder aber eher nach Russland orientieren, viel Raum für Konflikte bieten.

Die Identitätssuche Odessas mündete 2014 in gewaltsamen Auseinandersetzungen. Nach der Annexion der Krim gab es sowohl pro-russische als auch pro-ukrainische Demonstrationen in der Stadt, die bei Auseinandersetzungen zwischen den beiden Seiten etwa 50 Menschenleben forderten. Heute allerdings hat der Angriff Russlands auf die Ukraine die Bevölkerung eher geeint: Die Bürger Odessas bereiten sich gemeinsam und geschlossen auf die Abwehr einer Invasion der russischen Armee vor.

 

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