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Interview: Wie der Tourismus erfunden wurde
Im Urlaub zu verreisen, gehört für viele Deutsche einfach dazu. Über 54 Millionen gönnen sich mindestens einmal im Jahr einen Tapetenwechsel. Am liebsten erkunden sie Gegenden im eigenen Land, aber auch Spanien, Italien und Skandinavien stehen aktuell hoch im Kurs. Kaum vorstellbar, dass es Zeiten gab, in denen der Tourismus, wie wir ihn kennen, noch gar nicht existierte. Doch tatsächlich kam die Idee zur privaten Vergnügungsreise hierzulande erst im 19. Jahrhundert auf. Historiker Mathias Häußler von der Universität Regensburg erzählt im Interview, wie die Tourismusbranche im Kaiserreich aussah.

Herr Häußler, gab es tatsächlich keine Reisen vor dem 19. Jahrhundert?
Natürlich haben sich die Menschen schon immer auf unserer Erde bewegt, etwa wenn sie Arbeit suchten, Hungersnöte litten oder auf der Flucht waren. Es gab auch bereits vor dem 19. Jahrhundert gewisse „vortouristische“ Praktiken, wie die großen Weltreisen der Entdecker, religiöse Pilgerreisen oder auch die bekannte „Grand Tour“ junger Adeliger. Aber das Reisen zum rein persönlichen Vergnügen – quasi als Selbstzweck – einer größeren Masse an Menschen, das war tatsächlich ein neues Phänomen des 19. Jahrhunderts.
Wie kam es damals zur Idee des privaten Reisens?
Der Tourismus ist letztendlich ein Produkt der Umwälzungen der Moderne. Die Entstehung der Eisenbahn, die stetige Erweiterung des Schienennetzes und die Dampfschifffahrt schufen neue Möglichkeiten; Reisezeiten schrumpften dramatisch. Im Gegensatz zur Fahrt mit der Kutsche nur wenige Jahrzehnte zuvor konnte man plötzlich bequem, schnell und sicher reisen.

Wer konnte sich das touristische Reisen überhaupt leisten?
Zu Beginn waren das vor allem die Aristokratie und das Großbürgertum. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kamen dann das Groß-, Mittel- und teilweise auch das Kleinbürgertum dazu. Doch es blieb bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein bürgerliches Phänomen, denn für die Arbeiterklasse waren Reisen schlichtweg nicht finanzierbar; außerdem gab es im 19. Jahrhundert meist auch keinen Urlaub.

Wohin reisten die Menschen damals und woher wussten sie über mögliche Reiseziele Bescheid?
Genau wie heute war der moderne Tourismus schon im 19. Jahrhundert ein mediales Phänomen. Durch Reiseführer, Illustrierte oder Postkarten wurden Bilder, Erwartungen und Sehnsüchte erweckt – und somit erst der Wunsch, bestimmte Orte oder Ziele überhaupt bereisen zu wollen. Das Paradebeispiel hierfür ist der berühmte und zu dieser Zeit erfundene Baedeker-Reiseführer, der mit dem Verteilen von „Sternen“ auch gewisse touristische Hierarchien erschuf. Er bestimmte, was im wörtlichen Sinne als sehenswert galt.
Und da gab es ein breites Spektrum: Neben dem Großstadttourismus in Berlin, Dresden oder Köln standen auch klassische – oftmals national aufgeladene – Landschaftsziele wie der Rhein oder der Harz hoch im Kurs. Dazu kamen große Kurstädte wie Wiesbaden oder Baden-Baden, eine Vielzahl von Seebädern an Nord- und Ostsee und natürlich zahllose sogenannte „Sommerfrischen“ auf dem Land. Auch der Wintersport-Tourismus erlebte gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Boom.

Wurde der Tourismus denn von staatlicher Seite gefördert?
In Nachbarstaaten wie Österreich, Frankreich oder der Schweiz schon; im Kaiserreich hingegen höchstens von einzelnen Bundesstaaten wie Bayern oder den föderal organisierten Eisenbahngesellschaften. Für die Tourismusförderung waren eher private Akteure entscheidend: frühe Profiteure wie Hoteliers oder Gastronomen, die sich meist zivilgesellschaftlich auf lokaler Ebene in sogenannten „Verkehrsvereinen“ oder „Vereinen zur Hebung des Fremdenverkehrs“ zusammenschlossen. Fast 300 gab es hiervon im Kaiserreich. Hinzu kamen dann Zusammenschlüsse auf Landesebene, etwa in Sachsen oder Bayern. Im Jahr 1902 wurde schließlich der „Bund Deutscher Verkehrsvereine“ als nationaler Dachverband gegründet, der schnell zum entscheidenden Akteur der Tourismusförderung im Kaiserreich wurde.
Gab es auch damals schon Schattenseiten des Tourismus?
Ja, bereits im Kaiserreich funktionierten touristische Ziele oftmals nur aufgrund von prekär beschäftigten und gering entlohnten Dienstleistern wie Laufburschen und Zimmermädchen. Im Kaiserreich finden wir schon Diskussionen über die ökologischen Kosten des Tourismus oder auch über „Overtourism“, wenn beispielsweise kleinere Sommerfrischen von Horden Großstädter überschwemmt wurden. Außerdem finden wir schon im Tourismus des Kaiserreichs soziale Ausgrenzung und Rassismus. Besonders drastisch zeigt sich das im sogenannten „Bäder-Antisemitismus“ in den Seebädern der Nord- und Ostsee, wo sich einzelne Bäder als „judenfrei“ bewarben.