Eine Welt bricht zusammen: Die über 40 Jahre lang festzementierte Nachkriegsordnung in Europa ist binnen weniger Monate vollkommen über den Haufen geworfen. In allen Ostblockstaaten wird der Drang nach Freiheit und Demokratie so stark, dass am Ende des Jahres keines der kommunistischen Regime mehr fest im Sattel sitzt. Für die Deutschen geht das Jahr mit Jubel und Freudentränen zu Ende. Über 28 Jahre lang hat die Mauer die Deutschen in Ost und West getrennt, seit 40 Jahren gibt es zwei deutsche Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen. All das wird binnen weniger Wochen durch die mutige Protestbewegung in der DDR, aber auch durch die Massenflucht vieler Bürger hinweggefegt. Als SED-Politbüromitglied Günther Schabowski am 9. November eher beiläufig mitteilt, dass die Ostdeutschen künftig ohne besonderen Anlass in den Westen reisen dürfen, spielen sich in Berlin und an den Grenzübergängen zum Bundesgebiet unbeschreibliche Szenen ab. Kaum mischt sich in die Begeisterung die Frage, wie es mit der DDR weitergehen soll, nachdem der „antifaschistische Schutzwall“ gefallen ist. Klar scheint nur zu sein, dass die SED endgültig abgewirtschaftet hat: Egon Krenz, der nach dem erzwungenen Rücktritt von Staats- und Parteichef Erich Honecker am 16. Oktober die höchsten DDR-Ämter übernommen hat, kann sich gerade sechs Wochen an der Macht halten. Anfang Dezember tritt er während eines Parteitags zurück, auf dem die SED nicht nur auf ihren in der Verfassung garantierten Führungsanspruch verzichtet, sondern sich auch einen neuen Namen gibt: SED-PDS. Über die Zukunft gibt es danach gegensätzliche Vorstellungen. Während die einen die Eigenstaatlichkeit der DDR aufrechterhalten und eine sozialistische Demokratie errichten wollen, mehren sich zum Jahresende die Stimmen derjenigen DDR-Bürger, die ein »einig Vaterland« fordern.
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