Guten Tag. Ich bin’s, der anonyme Wähler. Ich werde erforscht, analysiert und in Statistiken zusammengefasst, aber so richtig erkannt fühle ich mich nicht. Ich bin sprunghaft, schwer einzuschätzen und alles in allem ganz schön unberechenbar. Strategen fürchten mich, Parteilobbyisten gehen mir aus dem Weg. Ich bin das Sandkorn im Getriebe und das gestellte Bein, das die schönste Kampagne zum Scheitern bringt. Wie es mir dabei geht? Lassen Sie mich davon erzählen.
Am Wahlsonntag
Wahlsonntag, kurz vor 11 Uhr. Wenn wählen gehen einfach wäre, hätte ich die beiden Kreuze schon mit dem Besorgen der Frühstücksbrötchen erledigt. So habe ich es früher immer gemacht, als mir die Verhältnisse noch klar waren und ich mich nicht nur für eine Partei entscheiden, sondern ihr als Stammwähler auch über Jahre die Treue halten konnte. Damals habe ich sogar über eine Parteimitgliedschaft nachgedacht. Ja, das waren noch Zeiten! Heute wundert es mich überhaupt nicht, wenn die Parteien an der Basis immer mehr ausdünnen und die Leute ihr Mitgliedsbuch zurückgeben. Die haben schließlich auch besseres zu tun. Aber wählen gehen ist für mich immer noch Pflicht. Dazu erinnere ich mich einfach noch zu gut an Willy Brandt und seine berühmten Worte „Wir wollen mehr Demokratie wagen“. Wie soll das klappen, wenn keiner hingeht? Na eben. Also gehe ich hin – nach dem Frühstück und nur mit einer ungefähren Ahnung, wen ich eigentlich wählen will.
Die Partei als Supermarkt
Schon die Plakate am Wegesrand sind mir keine gute Hilfe. Phrasen, Phrasen, nichts als Phrasen, dazwischen keck inszenierte Gesichter. Natürlich will jede Partei wirtschaftlichen Aufschwung, niedrige Steuern, gebildeten Nachwuchs und ökologisch tragbare Verhältnisse. Das ist ja eben mein Problem – dass alle irgendwie dasselbe wollen, und dass es trotzdem nicht anders wird im Land. Welche Ansicht soll ich nun unterstützen? Ich schwanke eigentlich täglich. Mir kommt es mehr und mehr vor, als wären die Parteien Supermärkte geworden, wo es eigentlich alles für alle gibt. Die SPD als Vertretung der Arbeiter und die CDU als Bastion der Arbeitgeber – Pustekuchen. Nicht erst Gerhard Schröder hat als der „Genosse der Bosse“ gezeigt, welcher Seite er sich nahe fühlt, und die CDU wird zu einem nicht geringen Teil von Arbeitslosen gewählt – einer Klientel, die sie vor dreißig Jahren nicht eben umarmt hätte. Und wer die FDP als „Partei der Besserverdienenden“ begreift, verkennt, wie sehr dies unterdessen ausgerechnet Die Grünen geworden sind. Tja, „früher dagegen und heute dafür“ ist nicht unbedingt eine Losung, die nur für Töchter und Söhne aus gutem Hause gilt. Mein Onkel sagte immer „Wer in seiner Jugend nicht links war, der hat kein Herz. Und wer im Alter immer noch links ist, der hat kein Hirn.“ Den Spruch scheinen sich alle Parteinen auf die Segel geschrieben zu haben!
Stichwort Bildungspolitik
Ein schönes Beispiel für die allgemeine Ratlosigkeit, mit deren Auswirkungen ich beständig zu kämpfen habe, ist die Bildungspolitik. Ein ewiger Zankapfel. Konzepte von links, Konzepte von rechts. Mal soll das dreigliedrige Schulsystem beibehalten werden, dann wiederum gilt die Abschaffung von Haupt- und Realschule eigentlich als abgemacht. Stimmt, eigentlich sollten alle Kinder vom ersten Tag an aufs Gymnasium gehen – wenn dieses bis dahin nicht auf zehn Schulklassen zusammengestrichen wurde. Denn so ernst ist es unseren Politikern mit der Bildung nun auch wieder nicht. Unter dem Abitur nach 12 Klassen stöhnt nunmehr eine ganze Generation, der statt Bildung früheres Steuerzahlen verordnet worden ist. Welche Partei setzt sich für eine Rückkehr zum bisherigen System ein? Ist eine in Sicht? Traut sich jemand, wirklich auszuscheren? Momentan sehe ich nur grinsende Gesichter auf zuckerbunten Plakaten, die Jugendnähe suggerieren und ihre Kinder auf Privatschulen schicken Ganz ähnlich das Tohuwabohu um die Studiengebühren. Dass Deutschland keine natürlichen Ressourcen wie Erdöl oder Edelmetalle besitzt, ist bekannt; sicherheitshalber wird aber nun auch das geistige Potenzial zusammengestrichen, damit bloß keiner auf den Gedanken kommt, schlau genug werden zu wollen, um die Parteienlandschaft in Frage zu stellen. [[Oft denke ich mir, dass Verordnungen wie diese von Politikern kommen, die die Universität nur vom Mensabesuch her kennen. Oder wenn sie doch studiert haben, dann ist ihnen der Praxisbezug unterdessen komplett verlorengegangen. Bei denen kann ich mich jedenfalls nicht wiederfinden.
Stichwort Ernährung und Gesundheitsreform
Da wir gerade vom Essen reden: Mein Frühstück war prima. Ich hab allerdings auf zwei Marmeladensorten vergeblich nach Hinweisen gesucht, was ich da eigentlich genau esse. Sie wissen schon – diese interessante Auflistung, die einem sagt, wie viel Zucker, Fett usw. vom Tagesbedarf man da gerade in sich hineinfuttert. Steht unterdessen auf jeder Pizza, aber deswegen noch lange nicht auf jeder Marmelade. Die einfachste Kennzeichnung ist dabei die mit den Farben Rot, Gelb und Grün. Schade nur, dass die EU-Kommision dagegen ist – und Ministerin Ilse Aigner (CSU) ebenso. Denen ist es offenbar lieber, wenn wir weiter Kalorienbomben futtern und dick werden. Da hat die Lobby der Lebensmittelindustrie wahrlich ganze Arbeit geleistet. Nur, was sagt Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) dazu? Der wäre es doch lieber, wenn wir alle etwas fitter und ergo schlanker wären. Die Damen sollten sich mal einigen. Oder Frau Aigner gründet eine eigenen Partei, die LDMUMS – „Lasst dicke Männer um mich sein“. Parteiaustritte sind in Bayern doch Mode. Mir aber hilft das nicht weiter, wenn sich eine Ministerin so unverhohlen als verlängerter Arm der Industrie begreift.
Apropos: Bei dem Thema ist natürlich die Gesundheitsreform nicht weit. Doch dieses Fass mache ich jetzt nicht auf. Nur soviel: Stellen Sie sich einen Zug vor, in welchem die Leute, die in der 1. Klasse fahren, den Sitzkomfort der Reisenden in der 2. Klasse bestimmen. Ist klar, dass man da auf Polsterung verzichten kann. Teppiche sind auch entbehrlich. Und mal ehrlich, die Sitze müssen auch nicht im Boden verschraubt werden … Klappstühle tun es ähnlich gut. Und im Stehen lässt es sich übrigens auch reisen. Schlussendlich wird sich der Eindruck verstärken, dass ein Abhängen der Waggons mit der 2. Klasse das ehrlichste und sparsamste Modell für die Weiterfahrt ist. Schließlich sitzen alle Leistungsträger in der 1. Klasse, und die letzten beißen sowieso die Hunde. – Fragen Sie doch mal, welche unserer Politiker denn noch (freiwillig) gesetzlich krankenversichert sind. Dazu fällt mir bloß noch ein Brecht-Zitat ein: „Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber.“ Genau so ist das!
Kein klares Wort
Inzwischen bin ich im Wahllokal angekommen. Ich muss noch einen Moment anstehen und merke, dass ich noch immer nicht schlauer bin als zuvor. Nehmen wir die Koalitionsaussagen. Gut, die CDU möchte am liebsten mit der FDP, und umgekehrt sieht es genauso aus. Aber man scheint sich ein Hintertürchen offen zu halten und koaliert notfalls eben doch wieder mit der SPD. Und die möchte am liebsten mit den Grünen, aber mit der FDP ginge es notfalls auch, und auf Länderebene ebenso mit der Linken. Also kann offenbar doch jeder mit beinahe jedem; nur eine Koalition zwischen CDU und Der Linken kann man ausschließen – zumindest bis jetzt. Entsprechend lau geriet der Wahlkampf. Wer sich nach allen Seiten hin offen halten will, kann gar nicht kompromisslos Position beziehen; schließlich sind Wahlergebnisse denkbar, die zu unliebsamen Konstellationen nötigen. Da darf es sich niemand mit niemandem verderben.
Ausklang
In der Wahlkabine hantiere ich nervös mit dem Bleistift, der mit einem Tüdelband gesichert wurde. Ich überfliege die auf gräuliches Papier gedruckte Liste und überlege immer noch. Die einen – oder die anderen? Oder eine dritte Seite?
Ich bin der anonyme Wähler. Ich bin aufgeschlossen, interessiert und nicht von gestern, aber das Wahlkreuz zu machen, fällt mir schwer. Wie könnte eine Alternative aussehen? Ganz sicher müssen dazu die Parteien ihre Positionen wieder schärfen und eine klarere Sprache sprechen. Ihre Akteure müssten mehr mit meiner Lebenswirklichkeit zu tun haben und nicht einfach von oben herab bestimmen. Das ist nicht wirklich in Sicht … aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben. In diesem Sinne: Gute Wahl!