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So kam es zum Anschlag auf Charlie Hebdo
Seit 1970 publiziert die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo vor allem politische Karikaturen. Dabei fällt die Zeitschrift immer wieder durch Provokation und kontroverse Themen auf. Am 7. Januar 2015, auf den Tag genau vor zehn Jahren, wird einigen Redakteuren und Karikaturisten von Charlie Hebdo genau das zum Verhängnis. Aber wie kam es an diesem Tag überhaupt zu dem verheerenden Anschlag?
Eine erste Klage nach Mohammed-Karikaturen
Im Jahr 2006 druckte Charlie Hebdo Karikaturen des islamischen Propheten Mohammed ab, die zuvor in der größten dänischen Tageszeitung „Jyllands-Posten“ erschienen waren, und ergänzte sie um weitere Karikaturen über Muslime. „Die Redaktion [von Jyllands-Posten] hat damals Karikaturisten in Dänemark angeschrieben und sie gebeten, den Propheten so zu zeichnen, wie sie ihn sehen“, erklärte Journalistin Jana Sinram dem Deutschlandfunk im Jahr 2015. „Hintergrund war, dass ein als islamkritisch bekannter Autor angeblich keinen Illustrator gefunden hatte für ein Kinderbuch über das Leben Mohammeds.“
Obwohl der Koran kein Bilderverbot ausspricht, lehnen viele Muslime eine bildliche Darstellung Mohammeds ab. Der Verband islamischer Organisationen in Frankreich und die Große Moschee von Paris klagten die Satirezeitschrift daher für den Nachdruck der Karikaturen an. Die 17. Pariser Strafkammer wies die Klage letztendlich jedoch ab.
100 Peitschenhiebe
2011 veröffentlichte Charlie Hebdo im Zuge des Wahlsiegs der islamistischen Nahda-Partei in Tunesien eine Sonderausgabe unter dem Namen „Scharia Hebdo“, in der sie den Propheten Mohammed zum Chefredakteur ernannte. Die Titelseite zierte eine Mohammed-Karikatur des Karikaturisten Rénald Luzier. Dazu eine Sprechblase mit den Worten „100 Peitschenhiebe, wenn Sie sich nicht totgelacht haben“. In der Nacht nach der Veröffentlichung der „Scharia Hebdo“ landete ein Molotow-Cocktail im erst neu bezogenen Redaktionsgebäude der Satirezeitschrift und richtete Brandschäden an.
Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte Charlie Hebdo erneut Mohammed-Karikaturen. Schon bald nahm die französische Polizei einen Mann fest, der zur Ermordung des damaligen Herausgebers Stéphane Charbonnier aufgerufen haben soll. Er hatte auf einer islamistischen Website dazu aufgefordert, den Redakteur wegen der Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen zu überwachen und zu köpfen.
In nur fünf Minuten
Am schicksalhaften 7. Januar 2015 beschäftigt sich die neueste Ausgabe von Charlie Hebdo mit einem am gleichen Tag erschienenen Buch des Schriftstellers Michel Houellebecq. Houellebecqs Roman mit dem Titel „Unterwerfung“ spielt im Jahr 2022 und handelt von der Übernahme Frankreichs durch einen muslimischen Politiker, der das Land islamisiert.
Noch am selben Tag stürmen zwei vermummte und mit Sturmgewehren bewaffnete Attentäter die Redaktionsräume. Im Gebäude treffen sie auf eine Karikaturistin Charlie Hebdos und verlangen von ihr den Türcode für die Redaktionsräume – sie bleibt unverletzt. Innerhalb von nur fünf Minuten töten die Attentäter zehn Personen, darunter auch Herausgeber Charbonnier, und verletzen weitere elf Personen.
Zwei radikalisierte Brüder
Die Täter sind die damals 32- und 34-jährigen Brüder Chérif und Saïd Kouachi, die zwei Tage nach dem Anschlag am Ende ihrer Flucht durch die Polizei erschossen werden. Die Eltern der Brüder stammten zwar aus Algerien, doch sie selbst wuchsen in Paris auf, nach dem frühen Tod der Eltern zunächst in einem Heim.
„Das Leben der Brüder Kouachi liest sich wie die beispielhafte Geschichte einer Radikalisierung“, schreibt die Süddeutsche Zeitung kurz nach dem Anschlag. „Der erste Einschnitt war für beide das Zusammentreffen mit Farid Benyettou, der von der Adda'wa Moschee in der Nähe der Metro-Station Stalingrad aus junge Männer um sich versammelte, die bereit waren, als Dschihadisten in den Irak-Krieg zu ziehen.“ Chérif Kouachi war 2006 für mehrere Monate in Untersuchungshaft, wo er sich einer Gruppe Salafisten anschloss. Saïd Kouachi soll 2011 in einem Ausbildungscamp der al-Qaida im Jemen gewesen sein.
Beide Brüder standen auf der allgemeinen französischen Terror-Beobachtungsliste TIDE, im Schengener Informationssystem zur verdeckten Beobachtung sowie auf der sogenannten No-Fly-Liste der Vereinigten Staaten.
Eine Welle der Solidarität
Im Zuge des Anschlags solidarisierten sich Menschen auf der ganzen Welt mit der französischen Satirezeitschrift mit dem Slogan „Je suis Charlie“ („Ich bin Charlie“). „Der Dreiwortsatz […] meint: ‚Ich protestiere gegen die Gewalt als Antwort auf Karikaturen‘. ‚Ich bin mit gemeint, wenn das Recht auf freie Meinungsäußerung angegriffen wird‘“, erklärt Journalist Lothar Müller damals in der Süddeutschen Zeitung.
Die erste Ausgabe Charlie Hebdos nach dem Anschlag zierte erneut die Mohammed-Karikatur von Luzier, die 2011 Grund für den Brandanschlag war. Diesmal jedoch nicht mit einer Sprechblase, die vor 100 Peitschenhieben warnt, sondern ein Schild mit der Aufschrift „Je suis Charlie“ haltend.
„Ich zeichnete diesen kleinen Kerl. Und als ich diesen kleinen Kerl sah, sprach ich mit ihm: ‚Armer alter Kerl, ich habe dich 2011 zum ersten Mal gezeichnet, wir hatten eine Menge Ärger wegen dir‘“, erklärt Luzier in einem Interview mit VICE. „In gewisser Weise war es eine Vergebung auf Gegenseitigkeit. Als dein Schöpfer tut es mir leid, dass ich dir das alles angetan habe, und er als Figur hat mir vergeben. Er sagte: ‚Es ist okay, du lebst, du kannst mich weiter zeichnen.‘“ Luzier verließ Charlie Hebdo im Mai 2015.