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Spitzenkandidaten - die Gesichter zum Wahlprogramm
Der Schulz-Hype zu Beginn des Jahres, der darauffolgende Absturz des SPD-Frontmanns und die Konzentration der CDU auf ihre Staatsdame Angela Merkel: Zumindest bei CDU und SPD stehen die Spitzenkandidaten im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Und auch die FDP setzt ganz auf ihren Vorsitzenden Christian Lindner. Grüne, Linke und die AfD treten hingegen jeweils mit einem Spitzen-Duo an.
Wie sinnvoll ist das und welchen Einfluss haben die Frontleute der Parteien wirklich? Anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahl spricht der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim in Stuttgart über die Rolle von Spitzenkandidaten und Themen im Wahlkampf.
Ist die Personalisierung von Wahlkämpfen ein neues Phänomen?
Nein. Die Personalisierung von Wahlkämpfen hat es schon immer gegeben. Die CDU rückte in den fünfziger Jahren Konrad Adenauer in den Mittelpunkt, die SPD in den sechziger und siebziger Jahren Willy Brandt. 1969 plakatierte die CDU "Auf den Kanzler kommt es an"; es ging um Kurt Georg Kiesinger. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Der Grund ist einfach: Kandidaten verleihen dem Programm ihrer Partei Gesicht und Stimme. Erfolgreich sind Parteien dann, wenn der Kandidat zu den Themen der Partei passt. Willy Brandt und Helmut Schmidt hatten jeweils große polarisierende Themen vor sich: die Ostpolitik, den Terrorismus und den Nato-Doppelbeschluss. Bei Helmut Kohl war es die Wiedervereinigung. Mit diesen Themen sind auch die Personen gewachsen, mit den Themen haben sie ihr Profil geschärft.
Solche grundsätzlichen und polarisierenden Themen werden immer seltener. Die Agenda 2010 und die Flüchtlingspolitik waren die vorerst letzten Themen dieser Art. An der Agenda 2010 ist Schröder gewachsen – und die SPD fast gescheitert. Und mit der Flüchtlingspolitik aus dem Jahr 2015 hat Angela Merkel an Profil gewonnen – aber auch einige traditionelle CDU-Wähler an die AfD verloren.
Orientieren sich Wählerinnen und Wähler eher an Parteien oder an Kandidaten?
Nach wie vor orientieren sich viele Wählerinnen und Wähler in Deutschland an ihrer langfristigen Parteibindung. Der Anteil dieser Stammwähler wird aber immer kleiner. Der Anteil der Wechselwähler wächst. Sie bewerten Kandidaten anhand mehrerer Dimensionen: Themenkompetenz, Integrität, Leadership-Qualitäten und unpolitische Merkmale.
Die Wahlanalysen für die letzten 50 Jahre zeigen: Am wichtigsten sind – alles in allem – die wahrgenommene Themenkompetenz und die Integrität. Am unwichtigsten sind die unpolitischen Merkmale. Über sie reden die Menschen zwar gerne am Grillabend, am Stammtisch oder im Gespräch mit Nachbarn – in der Wahlkabine spielen sie aber keine Rolle.
Welche Themen im Mittelpunkt der Wahlentscheidung stehen, hängt stark von der Medienberichterstattung ab. Jene Themen, über die unmittelbar vor der Wahl häufig berichtet wird, werden dann auch von vielen Wählerinnen und Wählern als wichtig und relevant eingestuft. Die Wählerinnen und Wähler ziehen dann die vermeintliche Kompetenz der Kandidaten und Parteien bei genau diesen Themen heran, wenn sie sie bewerten.
Anders formuliert: Den Grünen nützt es, wenn unmittelbar vor der Wahl häufig über Umweltthemen berichtet wird. Das ist derzeit kaum der Fall und für die Grünen ein großes Problem. Der SPD nützt es, wenn häufig über soziale Gerechtigkeit berichtet wird. Der CDU nützt es, wenn häufig über Sicherheit, Wohlstand und Stabilität berichtet wird. Der AfD nützt es, wenn viel über Zuwanderung berichtet wird.
Welche Rolle spielen konkrete Themen für die Wahlentscheidung?
Konkrete Inhalte mit eindeutigen Aussagen kommen im Wahlkampf eher selten vor – man findet sie in den Wahlprogrammen. Aber auch dort legen sich Parteien nicht immer fest. Das hat mehrere Gründe: Zum einen wollen sich Parteien möglichst viele Optionen für die Zeit nach der Wahl offenhalten – man weiß ja nie, mit wem man eine Koalition eingehen muss.
Zweitens werden die Wählerschaften immer fragmentierter. Das heißt, für Parteien genügt es nicht, in erster Linie ihre Stammwähler zu überzeugen. Sie müssen gleichzeitig auch noch viele parteipolitisch ungebundene Wähler überzeugen. Mit konkreten Aussagen können zwar bestimmte Wählergruppen gewonnen, andere aber auch abgestoßen werden. Daher drücken sich vor allem die Volksparteien aus wahltaktischen Gründen oft vor sehr konkreten Forderungen. Drittens kaschieren sie mit unkonkreten Aussagen innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten. Aussagen werden dann so unverständlich formuliert, dass sich alle Parteigliederungen darin wiederfinden.