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Verursachen Soziale Medien „Brainrot“?
Fiktionale Charaktere wie „Tralalero Tralala“ und „Skibidi Toilet“ und Begriffe wie „rizz“ und „sigma“ gelten als Inbegriff des Brainrots. Gemeint sind Inhalte auf Social Media, die angeblich den geistigen oder intellektuellen Zustand ihres Konsumenten verschlechtern. Doch nicht nur solche konkreten Inhalte, sondern auch soziale Medien im Allgemeinen stehen immer wieder im Verdacht, uns – und insbesondere Kinder und Jugendliche – zu „verdummen“ oder sogar krank zu machen.
Krank durch Social Media?
Dass sich soziale Medien auf unsere Gesundheit auswirken können, bestätigt ein Phänomen namens „mass social media-induced illness“ (MSMI), eine durch Social-Media-Konsum ausgelöste Krankheit. Dabei entwickeln Jugendliche durch das Betrachten von krankheitsbezogenen Inhalten, die von Influencern in sozialen Medien gepostet wurden, selbst diese Symptome. Forschende beobachteten das besonders bei dem Tourette-Syndrom und der dissoziativen Identitätsstörung.
Fälle von MSMI gibt es auch in Deutschland: Zwischen 2019 und 2021 berichteten 86 Menschen in Deutschland von abrupt auftretenden Tics oder Lautäußerungen. Bei 33 von ihnen vermuten Forschende eine tourette-artige MSMI. In den USA nahmen Tic-ähnliche Störungen während der Coronapandemie um 60 Prozent zu. Forschende gehen davon aus, dass dafür mehrere Faktoren verantwortlich sind – insbesondere die psychische Belastung durch die Pandemie sowie die intensive Nutzung sozialer Medien.
Zusätzlich stehen lange Bildschirmzeiten bei Kindern mit Angststörungen, somatischen Beschwerden und vor allem Depressionen in Verbindung – wenn auch nur in geringem Maße. Auch kann eine intensive Social-Media-Nutzung zu Schlafstörungen führen, wie eine Studie mit über 12.000 Jugendlichen im Alter von elf bis 17 Jahren belegt. „Das ist ein Aspekt, den wir im Blick behalten müssen, denn wir wissen, dass Schlaf gerade auch für die lebenslange Hirngesundheit enorm wichtig ist“, erklärt Lars Timmermann von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
Veränderungen im Gehirn
Sich von Inhalten auf Social Media berieseln zu lassen, wirkt sich nachweislich auch auf die Struktur unseres Gehirns aus. Koreanische Forschende haben die Interaktionen einzelner Hirnregionen bei 39 jungen Erwachsenen mit problematischem Social-Media-Gebrauch und 39 Gesunden untersucht. Das Ergebnis: Bei den Dauernutzern arbeiteten die Gehirnregionen, die für das Sehen und die räumliche Orientierung zuständig sind, enger zusammen. Verbindungen zu Hirnregionen, die für soziale Einordnung, Bewertung von Informationen und Selbstkontrolle wichtig sind, waren hingegen geschwächt. Diese Verbindungen waren umso schwächer, je stärker die Social-Media-Sucht ausgeprägt war.
In einer anderen Studie haben Forschende Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren untersucht, die pro Tag im Durchschnitt knapp fünf Stunden mit digitalen Medien verbrachten. Dabei zeigte sich: Kinder, die mehr Social Media benutzten, hatten ein kleineres Kleinhirn. Dieses ist für die Koordination und Feinabstimmung von Bewegungsabläufen zuständig. „Das ist eine Einzelstudie und eine Momentaufnahme, eventuell holen die Betroffenen in der Pubertät auf“, erklärt Timmermann. „Der Unterschied war zudem geringfügig, auch ist er per se kein pathologischer Befund.“
Dennoch ist der Befund nicht unwichtig. Für die Forschenden unerwartet war daran vor allem, dass nicht die für Denken, Sprache oder Motivation typischen Hirnregionen betroffen waren, sondern das Kleinhirn. „Hier könnte sich womöglich der Kreis zu der beobachteten Zunahme von funktionellen Bewegungsstörungen und Tics schließen“, sagt der Neurologe.
„Bad Guy“ versus „Good Guy”
Viel wichtiger als ein in seiner Struktur verändertes oder kleineres Hirn ist laut Timmermann allerdings die neuronale Plastizität – die Fähigkeit des Gehirns, sich laufend anzupassen, neue Verbindungen zu knüpfen und alte abzubauen. Dabei kann Social Media je nach Nutzungsverhalten ein „Bad Guy“ oder ein „Good Guy“ sein, so der Neurologe. Neue Herausforderungen, Reize und ungewohnte Eindrücke können diese Plastizität fördern. Menschen, die sich mit neuen Gedanken und gegenläufigen Meinungen auseinandersetzen, gelten als „geistig beweglich“.
Doch die Algorithmen in sozialen Medien spülen ihren Nutzern vor allem Inhalte in den Feed, von denen sie ausgehen, dass sie den Nutzern gefallen. In der Folge bekommen sie nur das präsentiert, was sie kennen und mögen. Algorithmen halten so das Gehirn von gegenläufigen Meinungen und anderen Erfahrungswelten fern – Stimuli für die neuronale Plastizität bleiben aus. „Das sollte uns bei der Nutzung der sozialen Medien bewusst sein und man ist gut beraten, Social Tracker weitgehend zu blockieren“, sagt Timmermann.
Beachten sollten Nutzer laut Timmermann ebenso, dass Social-Media-Content vor allem mit Emotionen statt mit Informationen arbeitet. Emotionale Inhalte können uns anfälliger für Desinformation und Fake News machen und unsere Fähigkeit herabsetzen, die Seriosität einer Quelle zu prüfen und kritisch einzubeziehen. Zusammengefasst seien die sozialen Medien jedoch weder ein „Good Guy“ noch ein „Bad Guy“, so Timmermann. Sie machen richtig angewendet weder krank noch „dumm“ – oder lassen unser Gehirn faulen.