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Weltflüchtlingstag 2017: Wie steht es heute um die Willkommenskultur?
Über 65 Millionen Menschen befinden sich nach Angaben der Vereinten Nationen weltweit auf der Flucht - so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. "Eine Kehrtwende der drastisch steigenden Zahl derer, die vor Krieg, Konflikten, Verfolgung und Hunger fliehen, ist bisher nicht absehbar", sagt Inga Schwarz von der Forschungsgruppe Cultures of Mobility in Europe am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.
Nachdem die ersten größeren Gruppen von Flüchtlingen im Sommer 2015 Zentraleuropa erreichten, seien die Themen Flucht und Migration auch in Deutschland verstärkt in den Fokus des gesellschaftspolitischen Interesses gerückt. Angela Merkels "Wir schaffen das" und das unglaubliche Engagement ungezählter ehrenamtlicher Helfer machten damals Schlagzeilen. Sie zeigten: Deutschland und seine Bevölkerung stehen den ins Land kommenden Flüchtlingen grundsätzlich positiv und hilfsbereit gegenüber.
Weniger Flüchtlinge, weniger Aufmerksamkeit
Doch wie sieht es heute, knapp zwei Jahre später aus? Unter anderem durch die Blockade der Balkanroute und den umstrittenen Abschluss des EU-Türkei-Abkommens im vergangenen Jahr ist die Zahl der bei uns ankommenden Geflüchteten inzwischen deutlich gesunken: Suchten 2015 insgesamt noch 890.000 Menschen in Deutschland Schutz, waren es laut Bundesinnenministerium 2016 nur noch 280.000 - die meisten von ihnen kamen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.
Dieser Trend setzt sich offenbar fort. So sind in der Zeit von Januar bis Mai 2017 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Asylanträge von 95.134 Personen eingegangen - ein Rückgang von rund 69 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Einhergehend mit diesem Einbruch der Flüchtlingszahlen scheint auch die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema nachzulassen - und nicht nur die.
Tschüss, Willkommenskultur?
Auch die einst so gefeierte Willkommenskultur in Deutschland ebbt augenscheinlich ab. Viele Bürger stehen Menschen mit Fluchterfahrung längst nicht mehr so positiv gegenüber wie noch vor einigen Monaten. So attestiert eine jüngst von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte Studie den Deutschen zwar, eine offene und gereifte Einwanderungsgesellschaft zu sein. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse jedoch, dass sich die Stimmung nach der Aufnahme von bisher etwa 1,2 Millionen Flüchtlingen verändert hat.
"Die Bereitschaft, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, geht deutlich zurück", heißt es in der Untersuchung. 54 Prozent der für die Studie Befragten geben demnach an, es sei eine Belastungsgrenze erreicht - vor zwei Jahren empfanden dies nur 40 Prozent. 81 Prozent sprechen sich dafür aus, dass es in der EU eine fairere Verteilung von Flüchtlingen geben müsse. "Die Menschen in Deutschland blicken selbstbewusst darauf zurück, so viele Flüchtlinge so freundlich empfangen zu haben. Sie sagen aber auch: Jetzt sind andere Länder an der Reihe", sagt Stiftungsvorstand Jörg Dräger.
Strengeres Asylrecht
Möglicherweise spielen darüber hinaus auch die Ereignisse der letzten Monate eine Rolle für die gekippte Stimmung. Die Angst davor, dass Terroristen als Asylbewerber nach Deutschland einreisen, könnte nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 gestiegen sein. Der Täter Anis Amri kam 2011 als Flüchtling nach Europa - zunächst nach Italien, später reiste er mit dem Beginn der Flüchtlingskrise Anfang Juli 2015 illegal nach Deutschland ein.
Als Folge des Attentats hat der Bundestag inzwischen eine Verschärfung des Asylrechts beschlossen. Demnach sind eine Verlängerung der Abschiebehaft für sogenannte "Gefährder", die Überwachung per Fußfessel und die Auswertung von Handydaten zur Identitätsfeststellung von Flüchtlingen nun zulässig - aus der Sicht von Menschenrechtsorganisationen ein Eingriff in die Grundrechte.