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Mehrgenerationenhäuser: So wohnen Menschen aller Altersstufen zusammen
Noch vor wenigen Generationen war es üblich, dass alle unter einem Dach lebten: Die Eltern haben geschuftet, also das Feld bestellt, einen eigenen Laden gehabt oder vielleicht sogar als Oberschulrat ihre Brötchen verdient. Oma und Opa waren nicht nur weise und konnten gut stricken beziehungsweise werkeln – sie konnten auch auf die Kinder aufpassen, während die Eltern aus dem Haus waren. Und die Kinder wiederum brachten neben Dreck von draußen auch Fröhlichkeit und Energie mit ins Haus und gaben allen das Gefühl, gebraucht zu werden.
Was ist Mehrgenerationen-Wohnen?
Diese althergebrachte Lebensweise könnte jetzt durch das Mehrgenerationenwohnen zurückgebracht werden: Das Wort Mehrgenerationenhaus ist dabei eigentlich schon selbsterklärend – es ist ein Haus oder eben ein Wohnprojekt, in dem Menschen unterschiedlicher Altersstufen zusammenwohnen. Dabei leben aber nicht nur Blutsverwandte unter einem Dach. Stattdessen sind es mehrere Generationen unterschiedlicher Familien, die sich den Lebensraum teilen. Und es existieren noch weitere Unterschiede zur Großfamilie: Häufig besitzen die verschiedenen Parteien in einem Mehrgenerationenhaus ihre eigenen, individuellen Wohnungen.
So auch im Projekt „Gemeinschaftswohnen im Wedding“. Das große Holzhaus besteht aus Wohnungen mit mehreren Wohnungen mit Bad und Küche. Diese sind über Gemeinschaftsflächen wie Wohnflure, Balkone oder Terrassen zu sogenannten Wohnungs-Clustern zusammengefasst. Das gemeinschaftliche Leben ist vielfältig: Es gibt regelmäßige gemeinsame Abendessen, zwei Bands und einen Chor, für die gerade ein Proberaum im Keller geplant wird. In Haus befinden sich außerdem im Erdgeschoss eine Kita, eine Station der Obdachlosenhilfe sowie eine WG für Menschen mit Demenz.
Gemeinsam Leben lohnt sich
Derartige Wohnprojekte gibt es in Deutschland einige, bundesweit existieren rund 530 Mehrgenerationenhäuser. Häufig sind die Projekte genossenschaftlich organisiert. So auch „Gemeinschaftswohnen im Wedding“: Dort gehört den Bewohnern des Hauses auch das Gebäude an sich. Dementsprechend können alle Wohnenden mitbestimmen, wie der gemeinsame Alltag aussehen soll, aber etwa auch – anders als beispielsweise Menschen in Mietwohnungen – ob und welche baulichen Änderungen am Haus vorgenommen werden sollen. Also ob eine Wand eingerissen werden soll oder ob man besser in eine zweite Gemeinschaftsküche investieren sollte.
Gerade der oder die einsame Großstädterin sehnt sich vielleicht nach dieser Art von Gemeinschaft. Man kommt nach der Arbeit nach Hause und will erst mal kurz in Ruhe verschnaufen. Also ab in die eigene Wohnung, Tiefkühlpizza in den Ofen, Abendessen und kurz Nachrichten lesen, dösen oder Yoga machen. Doch nach der kurzen Atempause dürstet es einen doch wieder nach Gesellschaft. Im Mehrgenerationenhaus kein Problem – man kann einfach in den Gemeinschaftsraum gehen und dort essen Leute und spielen Kinder.
Und auch auf gegenseitige Unterstützung kann man bei den komplexen Wohnprojekten zählen: Kleine Ärgernisse wie „Schon wieder den Haustürschlüssel in der Wohnung vergessen“ oder „Mist, es ist Sonntag und ich habe kein Salz mehr“ sind leicht zu lösen. Doch auch im größeren Stil unterstützen sich die Bewohner häufig untereinander. Die Familien kennen sich gegenseitig und passen auf die Kinder der anderen auf. Für die Senioren im Haus erledigen die fitteren Jungen den Einkauf mit. Diese überlassen dann bei Abwesenheit eventuell mal gestressten Eltern mit Besuch ihre Wohnung.
Sozialleben muss man wollen
Doch es ist nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen im Mehrgenerationenhaus: Überall dort, wo Menschen eng zusammenleben, müssen Absprachen getroffen werden und es kann zu Konflikten kommen. Konkret heißt das: Es muss viel Zeit in Dinge wie Planungstreffen und Konfliktlösung investiert werden. Und man muss zurückstecken können. Wenn beispielsweise der Kindergeburtstag oder die Studentenparty das Bedürfnis nach Ruhe bei den Seniorinnen und Senioren stört, müssen beide Parteien kompromissbereit sein.
Auch die Integration von Senioren oder anderen Gruppen ist nicht immer so reibungslos wie vielleicht erwartet. Denn wer kümmert sich um die Älteren, wenn sie beispielsweise Krankheiten wie Demenz entwickeln und pflegebedürftig werden? Natürlich können sich die Mitbewohner kümmern. Die Frage, wie man in diesem Fall vorgehen will, könnte beispielsweise vorab von allen Beteiligten geklärt werden. "Das braucht aber professionelle Unterstützung", sagt Sabine Eyrich von der Netzwerkagentur "GenerationenWohnen" gegenüber dem rbb. Deswegen ist es wichtig, sich vorab zu informieren, welche nahegelegenen Pflegedienstleistungen existieren.
Wer in einem solchen Mehrgenerationen-Wohnprojekt leben will, muss zudem viel Geduld und Engagement mitbringen. Zwar kann man in einem solchen Projekt theoretisch einfach einziehen. Die meisten Mehrgenerationenhäuser sind, wie auch die meisten anderen Formen von Wohnprojekten, jedoch überfüllt und haben eine lange Warteliste. Das berichtet auch die Wohnungsbaugenossenschaft Berlin auf ihrer Webseite. Dort heißt es: „Leider haben wir viel mehr Interessenten als Wohnungen und viele Genossenschaften nehmen deshalb auch keine neuen Mitglieder mehr auf“. Deshalb entstehen Mehrgenerationen-Wohnprojekte häufig durch die Eigeninitiative von Gruppen, die sich einen Träger oder ein Architekturbüro suchen, um ihre Idee in einem arbeitsintensiven Prozess umzusetzen.