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Der Schrei von Edvard Munch: Entladung der Seele

Was ist auf dem Bild des Norwegers zu sehen?

Schräg zieht sich eine dunkle Brücke tief in das Bild hinein, unter ihr dunkelblaues Wasser. Der Himmel färbt sich im Abendrot in leuchtenden Farben. Ganz vorn auf der Brücke steht ein Mädchen, dem Betrachter zugewandt. Sie hat die Hände an den Kopf gelegt und schreit, schreit laut mit weit aufgerissenem Mund – oder ist es ein lautloser, erstickter Schrei in letzter Ausweglosigkeit?

»Der Schrei« entstand 1893 nach einem Spaziergang mit einem Freund: »An einem Abend ging ich auf einem Weg. Auf der einen Seite lag die Stadt, unter mir der Fjord. Die Sonne ging gerade unter, die Wolken färbten sich rot wie Blut. Ich empfand das alles wie einen Schrei, der durch die Natur ging. Ich glaubte, einen Schrei zu hören. Ich malte die Wolken wie richtiges Blut, die Farben schrien.«

Welchen Stellenwert hat das Gemälde in der Kunstgeschichte?

Munchs Bild zählt zu den berühmtesten Bildern der Kunstgeschichte. Es hat seit seiner Entstehung nicht an Faszination verloren und fesselt selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch den Blick des Betrachters. Das Bild schildert den Zustand von Angst und Entsetzen. Es tut dies mit aller Heftigkeit und zugleich auf eine Weise, die ohne jedes Pathos auskommt. Munch konfrontiert uns mit einem Schrei, der seine gesamte Bildwelt durchzieht; die Welt als solche scheint einzig psychisches Erleben. Körper, Holzbrücke, Wasser und Himmel, alles ist verzerrt, gezogen und verschlungen zu einer einzigen Aussage: dem Schrei. Die arabesken Linien und Formen werden noch intensiviert durch die Farbe. Kräftige, kontraststarke Töne spiegeln die entsetzliche Angst; nicht Gegenstandsfarben, sondern vor allem Schwarz mit Orange und Blau in einem kräftigen Komplementärkontrast symbolisieren Entsetzen. Der Betrachter des »Schreis« kann nicht anders als zusammenzuschrecken vor der ausweglosen Dramatik einer offengelegten Seele.

Wie autobiografisch ist das Werk?

Edvard Munchs Bilder sind malerische Verarbeitungen persönlicher Erlebnisse oder psychologischer Grenzsituationen, wie er sie seit seiner Kindheit erlebte. Er wuchs in Kristiania, heute Oslo, in einer protestantischen Arztfamilie einflussreicher Wissenschaftler und Künstler auf. Als er fünf war, starb seine Mutter, elf Jahre später auch seine Schwester Sophie an Tuberkulose. Sein Vater litt unter Depressionen und starb ebenfalls früh. Die beherrschenden Themen von Munchs frühen Bildern waren Krankheit und Tod. »Das kranke Kind« malte er 1885 und wiederholte es noch mehrfach als Radierung und Lithografie. Streng komponiert, liegt das Gewicht des Bildes auf dem Ausdruck der Gefühle, es markiert in seiner Vereinfachung Munchs Abkehr vom Naturalismus – nicht die direkte Darstellung der Wirklichkeit interessiert ihn fortan, sondern das subjektive Erleben.

Welchen Sujets widmete sich Munch außerdem?

Den Maler beschäftigte vor allem auch das Thema der weiblichen Sexualität. Edvard Munch hatte ein äußerst ambivalentes Verhältnis zu Frauen. Er schwankte zwischen der Anerkennung der weiblichen Persönlichkeit und dem Gefühl, ihr durch seine sexuellen Bedürfnisse ausgeliefert zu sein.

»Pubertät«, das Bild eines Mädchens, das sich seiner Sexualität bewusst wird, malte er 1894. Das Mädchen ist keine Verführerin, es hat Angst und ist verunsichert. Sexualität und Angst – das Verhältnis von Mann und Frau als Bedrohung sind immer wiederkehrende Motive des Künstlers. Das Bild »Pubertät« gehörte wie die verführerische »Madonna« und der »Schrei« zum Lebensfries, einer seit 1892 ständig erweiterten Werkgruppe.

Wie ließ sich der Maler am Oslofjord inspirieren?

Seit 1889 verbrachte Munch viele Sommer in dem kleinen Fischerort Asgårdstrand am Oslofjord, wo er eine kleine Hütte besaß. 1902 malte er vier kleine Mädchen, die ihm bei einem Spaziergang in ihren Sonntagskleidern aufgefallen waren. Auch dieses Thema beschäftigte ihn längere Zeit. 1920 etwa variierte Munch das Bild mit den kleinen Mädchen am Strand für ein Wandgemälde der Osloer Schokoladenfabrik Freia.

Wussten Sie, dass …

eine Liebesbeziehung des Malers zu Tulla Larssen 1902 damit endete, dass Munch angeschossen wurde? Er verletzte sich dabei an der linken Hand.

Munchs Bearbeitungen des »Schreis« als Lithografie und Radierung heute zu den wichtigsten Druckgrafiken der Moderne zählen?

die Gemälde »Der Schrei«, von dem es mehrere Versionen gibt, und »Madonna« 2004 aus dem Munch-Museum in Oslo gestohlen wurden? Sie sind im August 2006 nahezu unbeschädigt wieder aufgetaucht.

Was für ein Leben führte der norwegische Maler?

Munchs Biographie ist geprägt von schöpferischen Höhenflügen und deprimierenden Abstürzen. Nach den Katastrophen seiner Kindheit – dem Tod der Mutter und der Schwester – litt Munch wie sein Malerkollege van Gogh an einer manisch-depressiven Erkrankung.

Nach einer ersten Ausbildung in Oslo ging Munch nach Paris, wo er durch die Symbolisten stark geprägt wurde. Ausstellungen in seiner Heimatstadt verliefen recht erfolgreich.

1892 zeigte Munch seine Bilder in Berlin. Wegen heftiger Proteste des konservativen Publikums wurde die Ausstellung schon nach einer Woche wieder geschlossen. Der Skandal verhalf dem Maler aber zu einer gewissen Berühmtheit. Nach einem weiteren Paris-Aufenthalt und Reisen durch Europa übersiedelte Munch 1909 nach Norwegen. Als er 1944 starb, vermachte er seine Bilder seiner Heimatstadt Oslo. Im 1963 eröffneten Munch-Museum sind sie bis heute zu sehen.

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