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Moderne Glaubensformen – Modelle individueller Sinnfindung

Wenn die christlichen Kirchen in den westlichen Industrienationen über Mitgliederschwund klagen, so bedeutet das nicht, dass die Menschen die Suche nach spiritueller Orientierung aufgegeben und das Bedürfnis nach einem übergeordneten, nicht durch die Vernunft erfassbaren Sinn verloren hätten. Vielfach hat sich nur die Form des Glaubens geändert.

Der Glaube an den Fortschritt, ob materiell oder moralisch, hat sich als Aberglaube erwiesen. Der Mythos der Moderne ist zerbrochen, sein optimistisches Versprechen auf eine bessere, selbst gestaltete Zukunft überzeugt nicht mehr. In dieser Situation wird offenbar, dass die Antworten der Religionen auf die Fragen nach Sinn und Orientierung, nach Halt und Perspektive ihre Geltung und Aktualität nicht verloren haben.

Die Moderne hat den Einzelnen seiner tradierten Gewissheiten beraubt und ihn, jedenfalls in den pluralistischen Gesellschaften, in die Freiheit individueller Verantwortung entlassen. Diese Selbstbestimmung zeigt sich auch in Glaubensdingen. Die früher selbstverständliche Übernahme der Religion der Eltern tritt zurück zugunsten der bewussten Annahme einer religiösen Überzeugung, und zwar in Übereinstimmung mit den individuellen Bedürfnissen.

Individuelle Voraussetzungen sind entscheidend für die Frage, warum sich Menschen im Westen einer asiatischen Meditationsbewegung oder neuheidnischen Ritualgruppen anschließen, die charismatische Gotteserfahrung in Freikirchen suchen oder sich in die strengen Hierarchien von Sekten einordnen, oder eben nach wie vor an den hergebrachten, »ererbten« Formen der Religiosität festhalten. Hinzu kommt die Freiheit, verschiedene Religionen für verschiedene Bedürfnisse zu nutzen und die religiöse Haltung im Verlauf des Lebens zu wechseln. Nicht alle Gesellschaften folgen diesem »modernen« Muster in gleicher Weise, in einigen zeigt sich sogar wieder ein Fundamentalismus, der ein festgefügtes religiöses System anstrebt.

New-Age-Bewegung: Praktiken der Selbstfindung

Was hat es mit dem Zeitalter des Wassermanns auf sich?

Es ist das Zeitalter, in dem Harmonie, Zusammenarbeit und Frieden die alten, auf Konfrontation ausgerichteten Wege der Konfliktlösung ersetzen sollen. Das Musical »Hair« feierte in den 1970er Jahren mit großem Erfolg den Eintritt ins New Age, das neue Zeitalter des Wassermanns. Befreit will man sein von allen Äußerlichkeiten wie Institutionen, Kirchen, Normen und Regeln. Alles Wichtige, so wird geglaubt, findet man in sich selbst: Wahrheit, Freiheit, Spiritualität, ja sogar Gott. New Age selbst bleibt dabei eine uneinheitliche Bewegung, die unterschiedlichste Erscheinungsformen hat und sich durch Publikationen und Bildungsveranstaltungen fortentwickelt. Ganzheitliche Heilmethoden wie Reiki stehen neben Schamanismus-Workshops, Gaia-Spiritualität und Erhard-Seminaren, in denen Manager großer Firmen lernen, ihren Erfolg zu steuern.

Welche Entwicklungen brachten die New-Age-Bewegung in Gang?

Immer mehr Menschen im Europa und Amerika des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wandten sich sowohl vom als dogmatisch verhärtet empfundenen traditionellen Christentum als auch vom rein kognitiven Denken der Aufklärung ab. Auf der Suche nach »ursprünglicher« und »natürlicher« Religion interessierte man sich für den Fernen Osten, suchte aber auch den von Dogma und Äußerlichkeiten befreiten Kern der eigenen Tradition. In bestimmten gutbürgerlichen Gesellschaftskreisen wurden spiritistische Zirkel modern. Helena Blavatsky (1831–1891) gründete die Theosophische Gesellschaft, der auch Rudolf Steiner (1861–1925) angehörte, bevor er etwas später die Anthroposophische Gesellschaft gründete. In Paris entstand das »Institut für die Harmonische Entwicklung des Menschen« des Russen Gurdjieff (um 1866–1949).

Was einte die Vorläufer?

All diesen Bewegungen vor New Age war gemein, dass sie den Menschen im religiösen Sinn eine evolutionäre Entwicklung zusprachen und der Einzelne Gott in sich selber suchen sollte. Der religiösen Evolution entsprach eine westliche Wiedergeburtslehre, die Wiedergeburt aber nicht als grundsätzlich leidvoll, wie in den alten fernöstlichen Religionen, sondern als Chance zur weiteren Entwicklung des Menschen betrachtet. Eine gemeinsame Sprache für die neue religiöse Bewegung lieferte der Tiefenpsychologe C. G. Jung. Er sah sein Ziel der Individuation – die Verschmelzung der äußeren Person des Menschen mit seinem innersten Selbst – in den fernöstlichen Religionen verwirklicht.

Welche Geisteshaltung zeichnet New-Age- Anhänger aus?

Die New-Age-Bewegung hat den Impuls der in den 1960er und 1970er Jahren herrschenden gesellschaftlichen Aufbruchstimmung aufgenommen. Man wollte neben den gesellschaftlichen Utopien auch die religiöse Utopie einer Welt schaffen, in der die Menschen in gleichberechtigter Freiheit, Liebe und Selbstverwirklichung leben können. Dabei war im religiösen Leben nicht mehr der Glaube an eine himmlische Macht, sondern erfahrbare Spiritualität gefragt. Der traditionelle Glaube an eine oder mehrere Gottheiten wird als von außen verordnete Religion abgelehnt. Im Zentrum der verschiedensten Richtungen der neuen Bewegung steht ein monistisches – also nichtdualistisches – Weltbild. Keine äußere Kraft bewegt das Universum, sondern eine alles durchdringende Einheit, die letztlich mit dem eigenen Selbst identisch ist. Dabei versteht sich das Denken des New Age nicht statisch, sondern evolutionär. Ein Quantensprung der spirituellen Entwicklung wird erwartet und damit eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft zum Positiven.

Wussten Sie, dass …

der Physiker Fritjof Capra mit Büchern wie »Das Tao der Physik« (1975) und »Wendezeit« (1982) viele Leser in der New-Age-Szene hat? Capra selbst distanzierte sich ausdrücklich von dieser Bewegung.

sich die Weltsicht des New Age auch Erkenntnisse der modernen Physik wie Quantentheorie und postmoderne Gesellschaftstheorien zunutze macht?

Wie entwickeln sich die individualistischen Tendenzen?

Es gibt vereinzelte, in ihrer Wirkung begrenzte Ansätze, die Bewegung zu sammeln, wie etwa die Findhorn-Community in England. Das Element, das alle Menschen verbindet, die man zum New Age zählen könnte, bleibt wohl das Esoterikregal des Buchhändlers. Einzelne Bestseller, wie die »Celestine Prophecy« eines James Redfield, finden zwar millionenfachen Absatz, doch treten die Leserinnen und Leser kaum miteinander in Verbindung.

Sekten: Heilssuche abseits anerkannter Pfade

Was sind Adventisten?

Das sind Gruppierungen, die die Wiederkunft Christi erwarteten. Viele davon entstanden seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Amerika, wo die sozialen Verwerfungen des beginnenden Industriezeitalters viele Menschen die Orientierung verlieren ließen. Die adventistischen Gemeinschaften wollten hier Abhilfe schaffen. Zur Vorbereitung auf die Wiederkehr Christi forderten sie klare, biblische Maßstäbe in der Lebensführung der Gläubigen.

Woher kamen die Zeugen Jehovas?

Die Zeugen Jehovas gingen aus einer dieser Endzeitgemeinschaften hervor. Sie wollen möglichst viele Menschen auf die bereits begonnene Endzeit hinweisen und sie zu einem gottgefälligen Leben führen. Aus den ehemaligen »Ernsten Bibelforschern« ist eine exklusive Heilsgemeinschaft geworden. Die bestehenden Kirchen befinden sich nach Ansicht der Zeugen Jehovas – wie die weltlichen Organisationen auch – auf der Seite des Widersachers, der die Menschen vom Glauben abhalten will. Daraus erklärt sich die weitgehende Vermeidung von Kontakten außerhalb der Gemeinschaft. Seit einigen Jahren werden keine konkreten Angaben mehr über den Termin der Wiederkunft Christi gemacht – das Ausbleiben dieses mehrfach prognostizierten Ereignisses hatte für Irritationen gesorgt. Mittlerweile öffnet man sich vorsichtig der Gesellschaft.

Auf welche Glaubensinhalte beziehen sich die Mormonen?

Eigentlich heißen sie »Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage« und sie berufen sich auf die Offenbarungen, die im Buch »Mormon« veröffentlicht wurden. Den Mormonen gilt Amerika als das Land, in dem die Wiederkehr Jesu erfolgen wird. Darüber hinaus unterscheiden sich die Mormonen durch weitere Sonderlehren von den christlichen Kirchen und Freikirchen. So glauben sie etwa daran, das Heil für bereits verstorbene Familienangehörige durch eine stellvertretende Taufe erlangen zu können, und pflegen das Selbstverständnis als wiederhergestellte Kirche, die bereits zu Zeiten des Alten Testaments bestanden haben soll. Die Mormonen nehmen aktiv am gesellschaftlichen Leben teil.

Wofür stehen die Gurus aus Indien?

Gurus treten als heilige Lehrer auf, die religiöse Erkenntnisse asiatischer, meist indischer Herkunft vermitteln. Sie hatten zunehmend Erfolg im Westen. Im Mittelpunkt der im Jahr 1966 in New York von Srila Prabhupada initiierten Hare-Krishna-Bewegung (International Society for Krishna-Consciousness, ISKCON) steht die liebende Verehrung der Gottheit Krishna. Allein das Singen (»chanten«) des Krishna-Mantras soll den Einzelnen und die Welt aus der materialistischen Verderbtheit führen.

Der indische Philosophieprofessor Rajneesh Chandra Mohan wiederum hat die hinduistische Religiosität und die westliche humanistische Psychologie miteinander verknüpft. Um die verfestigten psychischen Strukturen des Einzelnen aufzubrechen, entwickelte der seit 1971 als »Bhagwan« (»Erhabener«) bezeichnete Rajneesh verschiedenste Meditationstechniken. Im Zuge der Verbreitung von AIDS trat der sexuelle Aspekt dieser Techniken schrittweise zurück. Kurz vor seinem Tod im Januar 1990 änderte Bhagwan seinen Namen in »Osho« (»Priester«).

Welche Ziele verfolgt Scientology?

In der Praxis versucht Scientology, durch mentales Training die psychischen Eigenschaften eines Menschen zu verbessern. Der Scientology-Gründer L. Ron Hubbard (1911 bis 1986) hat die grundlegenden Prinzipien bereits 1950 in seinem Buch »Dianetik« beschrieben und im Lauf der Jahre auf andere Bereiche (Erziehung, Bildung, Wirtschaft) übertragen. Dabei vertritt Scientology ein stark auf Erfolg, Leistung und Überlegenheit bezogenes Menschenbild, das von einem rigiden Freund-Feind-Denken durchzogen ist. Daraus ergeben sich auch die übermäßige Vereinnahmung von Anhängern sowie die Aggressivität, mit der Scientology Kritikern begegnet. Ob Scientology als Religionsgemeinschaft gelten kann, wird sehr unterschiedlich beurteilt.

Wussten Sie, dass …

die 1954 von dem Koreaner San Myung Mun gegründete Vereinigungskirche die Verbindung von Mann und Frau als Keimzelle für die geistige Erneuerung der Welt ansieht? Diese Idee findet Ausdruck in den spektakulären Massenhochzeiten, die die Mun-Sekte regelmäßig veranstaltet. Neuerdings können daran auch Paare teilnehmen, die nicht Mitglied der Vereinigungskirche sind.

Wodurch erlangten die Davidianer traurige Berühmtheit?

Bei einer spektakulären Polizeiaktion kamen 1993 über 80 Sektenmitglieder auf ihrer Ranch im texanischen Waco um. Die Davidianer, eine seit den 1930er Jahren bestehende Splittergruppe der Siebenten-Tags-Adventisten, wurden in ihrem Zentrum durch die US-Bundespolizei FBI wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt belagert. Die Sekte deutete dies als Beginn der apokalyptischen Auseinandersetzung zwischen Gott und Satan. Bei der Erstürmung des Geländes brach dann aus nicht geklärter Ursache das tödliche Feuer aus, das über 80 Opfer forderte.

Okkultismus: Beschäftigung mit unerklärlichen Phänomenen

Was behaupten Anhänger okkulter Praktiken?

Neben unserer »normalen« Welt mit ihren rationalen Gesetzen soll es eine Parallelwelt geben, in der andere Gesetze gelten, deren Funktionsweise man heute nur noch nicht kenne. Dieser wollen die Parapsychologen mit Hilfe der Erkenntnisse von Gehirnforschung und Psychologie auf die Spur kommen.

Morde und Selbsttötungen mit satanistischem Hintergrund, schwarze Messen oder Berichte über Erfolge von Hellsehern bei der Aufklärungsarbeit der US-Armee sorgen immer wieder für Schlagzeilen. Die tatsächliche Existenz der behaupteten verborgenen Kräfte soll durch Erklärungsversuche bewiesen werden, die sich einer Wissenschaftssprache bedienen und etwa Parapsychologen als Zeugen anführen. Die außergewöhnlichen Ereignisse, mit denen diese Wissenschaftler sich beschäftigen, werden »paranormal« oder auch Psi genannt.

Wer kann Übersinnliches wahrnehmen und wo wird es verortet?

Jeder Mensch kann angeblich von Natur aus Außersinnliches wahrnehmen. Wie das Auge als Organ zur Aufnahme des Lichts und das Ohr zur Aufnahme des Schalls, so sei der »sechste Sinn« im menschlichen Gehirn zur Aufnahme elektromagnetischer Felder im Universum entstanden. Statt von elektromagnetischen Feldern sprechen andere Parapsychologen von einem »Etwas«: Weit voneinander entfernte Regionen des Universums seien durch ein »unbekanntes Etwas« verbunden, das Entfernungen von Milliarden von Lichtjahren, ja überhaupt Raum und Zeit überbrücken könne. Mit dieser Vermutung lassen sich Prophetie und Präkognition (ein Wissen um die Zukunft) ebenso plausibel machen wie der Blick in die Vergangenheit.

Wie sprach man früher vom Übersinnlichen?

Was heute »unbekanntes Etwas« genannt wird, hieß in antiken Weisheitslehren »Energie«, »höhere Intelligenz«, »Äther«, »Lebenskraft« oder »Geist«. Man nahm an, dass eine Energie die Urmaterie durchströme und von der untersten Stufe immer höher bis zur höchsten, dem Göttlichen, aufsteigen würde. Im Christentum wurden solche Lehren unterdrückt. Erst der Theologe Agrippa von Nettesheim (1486–1535) machte sie mit seinem Buch »De occulta philosophia« (wörtlich: »Über die verborgene Philosophie«) im Jahre 1531 für die Gelehrtenwelt akzeptabel. Das Hauptkennzeichen seiner Philosophie war das Experiment, das zur Beweisführung einer Hypothese auch für die damalige Naturwissenschaft charakteristisch war.

Wann wurde das Okkulte ins Abseits verbannt?

Mit dem Sieg der empirischen Naturwissenschaften und dem Rationalismus seit dem 18. Jahrhundert wurden Phänomene, die nicht mit den rationalen Gesetzen der Naturwissenschaft erklärt werden konnten, ins Irrationale verwiesen oder als Scharlatanerie und Betrug bewertet. Dies widerfuhr auch der Religion insgesamt, insbesondere religiösen Erscheinungen wie Wunderheilungen, dem Geisterglauben, magisch-religiösen Riten und vielen anderen Glaubenswundern. Rationalisten bestritten ein Weiterleben nach dem Tod. Mit dem Zweifel daran war auch die Existenz Gottes und des Jenseits angegriffen.

Was ist Spiritismus?

Der Spiritismus, der Geisterglaube, ist 1848 in den USA entstanden: In Séancen lässt ein so genanntes Medium, dem die Fähigkeit nachgesagt wird, mit dem Jenseits in Kontakt treten zu können, Seelen Verstorbener »erscheinen«. Mit diesen okkultistischen Praktiken glauben die Spiritisten, den Beweis für ein Weiterleben nach dem Tod und die Existenz eines Jenseits erbracht zu haben.

Aus dem Spiritismus ging die so genannte Theosophie (griechisch »Gottesweisheit«) der Spiritistin Helena Blavatsky (1831–1891) hervor, die auch in Europa große Erfolge hatte. Das okkultistische Gedankengut der Theosophie existiert bis heute in der Anthroposophie weiter, war aber auch für die rassistische Ariosophie des 20. Jahrhunderts wichtig.

Welche Vorläufer des modernen Satanismus gibt es?

Einer der ersten Satanisten war der Engländer Aleister Crowley (1875-1947): Er wollte von einer jenseitigen Intelligenz in Ägypten die Offenbarung seiner Lehre empfangen haben, in deren Zentrum Satan als befreiende Macht verehrt wird. Andere Vorläufer sind die okkultistischen Orden »Golden Dawn« und »Ordo Templi Orientis« sowie der literarische Satanismus des frühen 19. Jahrhunderts. Die von ihnen veranstalteten schwarzen Messen gehen auf Verhörprotokolle der Inquisition zu Vorgängen in Nonnenklöstern des 17. Jahrhunderts zurück. Bei diesen Messen las ein geweihter Priester, dem der Körper einer entblößten Frau als Altar diente, Satansbeschwörungen. Oft kam es dabei zu Hostienschändung, Sexualakten und Blutopfern.

Schwarze Messen und schwarze Magie werden als mediale Inszenierung konsumiert. Dennoch ist der Okkultismus insgesamt als marginal einzustufen. Er kommt dem uralten Bedürfnis nach Außergewöhnlichem und Wundern nach.

Wussten Sie, dass …

das Irrationale und Okkulte ab dem 18. Jahrhundert zunehmend zum Thema der Kunst, Dichtung und Musik sowie des Films des 20. Jahrhunderts wurde? Zahlreiche Hollywoodfilme bedienen sich aus diesem Motivspektrum.

der Spiritismus weltweit 15 Millionen Anhänger haben soll? Am verbreitetsten ist er in Südamerika. In Brasilien etwa ist er als Religion anerkannt und hat dort mehr als 4 Millionen Anhänger.

Aktuelle Entwicklungen: Säkularisierung und Fundamentalismus

Ist die Religion ein Auslaufmodell?

Wer Aussagen über die Zukunft der Religionen im 21. Jahrhundert machen will, legt bestimmte Vorstellungen über das Wesen von Religion wie auch über die globalen Triebkräfte der Entwicklung in den einzelnen Gesellschaften zugrunde. Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass Religion ihre Funktionen der gesellschaftlichen Integration verliert, weil sie vom modernen wissenschaftlichen Denken und dem ökonomischen Prinzip der Zweckrationalität abgelöst wird. Religion würde deshalb aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Als umfassendes System der Sinngebung und Lebensbewältigung hätte sie nur noch für das Individuum Bedeutung. Alle Theorien aber, die von einer zunehmenden Säkularisierung infolge der globalen Verbreitung von »Moderne« ausgehen und damit das Verschwinden von Religion prognostizierten, haben sich als unzureichend erwiesen.

Welcher Trend zeichnet sich bei den Kirchen ab?

Die großen Kirchen als historisch gewachsene Organisationsformen von Religion weisen Anzeichen der Krise auf. Allerdings sind Kirchenaustritte, der Rückgang des Gottesdienstbesuchs oder die nachlassende moralische Bindekraft der Kirchen in den westlichen Industrienationen nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite zeigt sich die Entwicklung der Volkskirchen hin zu Bekenntniskirchen, zu Gemeinschaften von Menschen, die ihren Glauben ernsthaft bekennen.

Auch entstehen im Zeichen von Individualisierung und Pluralisierung andere Formen religiöser Gemeinschaftsbildungen – weniger dauerhaft, stärker auf bestimmte Zwecke hin orientiert, mit häufigeren Ein- und Austritten von Anhängern und mit der wachsenden Bereitschaft, für spezifische religiöse Dienstleistungen zu bezahlen. Gleichzeitig überträgt sich Religion aber in den säkularen Bereich.

Wie wirkt Religion in den weltlichen Raum hinein?

Die Sprache ist mit zahlreichen religiösen Bildern behaftet, religiöse Themen werden in neuen Zusammenhängen – zum Beispiel im Film oder in der Politik – aufgenommen. Das Schlagwort »civil religion« umschreibt so eine religiös aufgeladene und mit eigenen Ritualen versehene Wertegemeinschaft in modernen, ihrer Verfassung nach säkularen Gesellschaften. Religion bleibt daher auch in der Moderne lebendig.

Welche Erklärung gibt es für Fundamentalismen?

Religiöse Fundamentalismen, gleich ob sie jüdisch, christlich oder islamisch geprägt sind, gleich ob sie sich in der so genannten Dritten Welt oder in Industrienationen formieren, stellen keine Bewegungen gegen die Moderne an sich dar. Kaum eine religiös-fundamentalistische Bewegung lehnt beispielsweise die technischen Errungenschaften ab. Die radikale Rückbesinnung auf religiöse Wurzeln ist vor allem als Kritik an gesellschaftlichen Ordnungen und Werteorientierungen zu verstehen, die nicht im Einklang mit der eigenen Kultur gesehen werden.

Welche Probleme birgt der Fundamentalismus?

Fundamentalismus wird zum aktiven Protest, wenn der soziale Zusammenhalt zerstört und die Erwartung auf wirtschaftliche Entwicklung enttäuscht werden. Die zunehmende Globalisierung lässt erwarten, dass der fundamentalistische Protest in Zukunft nicht mehr auf einzelne Länder beschränkt bleibt. Die nicht zuletzt religiös motivierten Terroranschläge in New York und Washington am 11. September 2001 können als – extreme – Vorboten einer weltweit geführten Auseinandersetzung gedeutet werden.

Welche globalen Tendenzen sind erkennbar?

Durch die ausgesprochen enge Verknüpfung von Religion und Politik scheinen die islamisch-fundamentalistischen Bewegungen am ehesten dazu geeignet, das Interesse der Weltöffentlichkeit auf sich zu ziehen und auch weitere Anhänger zu bekommen. Als langfristig charakteristische Entwicklung kann aber auch der stetige Erfolg der evangelikalen Mission in Lateinamerika und Afrika gelten. Das Leben in einer als ungerecht empfundenen Wirklichkeit wird von diesen Gemeinschaften als spiritueller Kampf zwischen Gut und Böse gedeutet, wobei die Entlohnung erst im Jenseits erfolgt – angesichts erfolgloser Bürgerkriege, Armut und Hunger für viele Menschen eine hoffnungsvolle Perspektive.

Was versteht man unter dem Kampf der Kulturen?

In den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts hat der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington seine These vom Zusammenprall der Kulturen vorgestellt. In der öffentlichen Rezeption wurde daraus ein Kampf zwischen westlicher, säkularer Moderne und fundamentalistischem Islam. In der globalisierten Welt, in der wir heute leben, gibt es aber keine abgeschlossenen Kulturräume mehr. Trotzdem ist richtig: Toleranz und Respekt vor dem Anderen haben in den verschiedenen Religionen unterschiedliche Gesichter, genauso wie alle Religionen gezeigt haben, dass sie Ursache von Konflikten sein können.

Wie wird eine friedliche Koexistenz möglich?

Zunächst durch die Erkenntnis, dass die Trennlinie von Miteinander und Gegeneinander nicht zwischen einzelnen Religionen, sondern quer durch alle Religionen hindurch verläuft. Im 21. Jahrhundert wird es darauf ankommen, einen produktiven gegenseitigen Lernprozess zu organisieren, in dem sich alle Beteiligten ihrer eigenen Verantwortung bewusst sind und für die friedliche Entwicklung der Menschheit arbeiten. Die Zukunft der Religionen wird nicht vom Gegeneinander der Kulturen, sondern vom Kampf um Kultur bestimmt sein.

Wussten Sie, dass …

die großen Probleme, die der massive Traditionsverlust in Deutschland sowie in einigen Staaten West- und Mitteleuropas für die Kirchen aufwirft, in anderen Weltgegenden überhaupt nicht auftreten? So sind zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika keinerlei Anzeichen für eine abnehmende Beteiligung der Christen am kirchlichen Leben zu verzeichnen.

weltweit gesehen die Zahl der Christen sogar beständig weiterwächst?

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