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Der Chatroom ist tot – es lebe der Chat
„Schnucki80“ und „DJ-Andy2000“ tauschten Telefonnummern – natürlich Festnetz, denn Handys waren kaum verbreitet. Gleich nebenan wurde das neue Video von Britney Spears ausdiskutiert, dazwischen servierten Bedienungen Cola und Limo.
Aus heutiger Sicht mag es fast schon rührend amüsant wirken, aber so sah es Ende der 90er bis einige Jahre nach dem Jahrtausendwechsel tatsächlich aus. Nicht zuhause, sondern dort, wo der für die meisten Menschen (noch) einzige internetfähige Rechner stand, in Internet- bzw. Chat-Cafés. Nicht nur sie waren ein für einige Jahre aufflackerndes Strohfeuer. Auch Chatrooms, einst die vielleicht wichtigsten Webseiten für all jene Freizeit-Netzuser, sind kaum noch vertreten.
Allerdings gilt das nicht für den Chat, der feiert derzeit ein quicklebendiges Dasein – bloß viel spezialisierter.
Wo sind sie nur hin?
Vielleicht wird sich an dieser Stelle der eine oder andere Leser fragen, warum die Chatrooms und Internet-Cafés verschwanden. Beides ist letztendlich eine logische Folge der Weiterentwicklung des Internets.
Als die Cafés aufblühten, war der Computer in jedem Haushalt noch ein Wunschtraum. Zudem wurden selbst dort, wo er stand, Internetverbindungen entweder via schon damals enorm langsamem 56k-Modem oder ISDN-Leitungen realisiert – in beiden Fällen erfolgte die Abrechnung taktgenau und sorgte für unzählige Streits wegen hoher Telefonrechnungen.
Cafés boten da eine sinnvolle Alternative für diejenigen, die keinen Computer hatten oder etwas günstiger surfen wollten. Doch sie funktionierten nur so lange, bis um den Jahrtausendwechsel zunächst die ersten Flatrates eingeführt wurden und dann rasch in normalverbrauchertaugliche Preisregionen sanken.
Damit brachen schon diejenigen Kunden weg, die nur wegen der Verbindungskosten gekommen waren. Als sich dann in den ersten Jahren der 00er auch die Computerpreise im Sturzflug befanden, brach auch die verbliebende Kundschaft weg. Heute sind die Cafés deshalb aus vielen Städten verschwunden – einige wenige halten sich noch, bieten aber meist zusätzliche Services an, um über die Runden zu kommen.
Auch die Chatrooms haben einen ähnlichen Parabelflug hinter sich: Für viele Menschen begann die Internetwelt damals noch auf der Einwähl-Startseite ihres Providers – nicht vergessen, damals war Google nur eine Suchmaschine unter vielen. Und diese Provider zwischen AOL, Netscape und Freenet integrierten oft genug Chatprogramme in ihre Seiten, aus einfachen Gründen:
- Hoher Unterhaltungswert
- Simpel zu programmieren
- Praktisch kein Mehraufwand für den Betrieb (ungleich etwa zu Nachrichten)
- Kaum benötigte Bandbreite, daher auch für User mit langsamsten Verbindungen geeignet
So wurden die Räume zu dem Schlüsselnutzen für eine ganze Generation von Internet-Usern.
Das Ende läuteten Messengerdienste wie ICQ ein. Dann kamen Myspace, Wer-kennt-Wen: die erste Generation von sozialen Netzwerken. Sie machten alles einfacher, boten gleichzeitig jedoch auch die Möglichkeit, sich neben der reinen Kommunikation selbst zu präsentieren – im Gegensatz zu den Chats, ohne dass die Gespräche nach einer bestimmten Anzahl neuer Nachrichten gelöscht wurden, was gerade in vollen Räumen die Kommunikation zweier Menschen stark verkomplizieren konnte.
Ideale Helfer bei Fragen
Heute sind das Internet, die dazugehörige Hard- und Software und die sozialen Netze so omnipräsent, dass die Chat-Cafés überflüssig wurden.
Der Chat selbst findet jedoch seit einigen Jahren eine enorm bedeutungsvolle Nische – beim Onlinekauf bzw. beim Kundendienst. Denn obwohl das Internet sehr erwachsen geworden ist, obwohl es dank hochauflösender (3D-)Fotos, Videos, simpel zu erstellenden Grafiken usw. enorm viele Möglichkeiten hat, trotz der virtuellen Umgebung fast so gut wie ein Vor-Ort-Besuch zu erklären, kann es eben doch nicht alles.
Genau hier setzt der Chat an. Er ermöglicht es, in Echtzeit Fragen zu beantworten. Das können schlichte Zusatzfragen zu irgendeinem Produkt sein. Ebenso kann es aber auch eine ganz neue Art des Online-Service ermöglichen: Den der persönlichen Zusammenstellung von Dingen. Einige Kleiderhändler bieten beispielsweise an, dass man per Kamera seine Körpermaße einscannt. Via Chat offeriert einem ein Kundenberater dann live Dinge, die dazu passen könnten.
Hier zeigt sich einer der wichtigsten Vorteile des Chats: Er läuft in Echtzeit ab, ganz ähnlich wie ein Telefongespräch.
Schlüpfrige Direktkontakte
Etwas, das auch zu den späten 90ern und frühen 00ern gehörte, war Telefonsex. Allerdings hatte der den für die meisten Menschen untragbaren Nachteil, dass er enorm teuer war.
Dann kam schließlich das Internet und mit ihm die bekannte Welle der Tauschplattformen und Videoportale mit schlüpfrigen Inhalten. Das wiederum nutzen heutige Chats aus. Denn sie verstehen es, die Vorteile des einstigen Telefonspaßes mit denen der Videoplattformen zu vereinen, dabei aber sämtliche Nachteile beider Formate zu vermeiden. Es beginnt damit, dass man sich in diesen Chats vollkommen gratis anmelden kann, wie erwähnt einer der ärgsten Nachteile von Telefonsex.
Und im Gegensatz zu den Filmen hat man hier auch „echte“ Menschen als Gegenüber, mit denen man sich in Echtzeit austauschen kann, statt einfach nur dem zuzuschauen, was „unerreichbare“ Personen auf dem Bildschirm treiben – verstärkt wird letzteres dadurch, dass am Ende ein echtes Treffen mit entsprechend möglichem „Spaß“ winkt.
Simples für Senioren
Auch diejenigen, die heute im Seniorenalter sind, haben schon um die 20 Lebensjahre aktiv in einem digitalisierten Umfeld buchstäblich erlebt. Ja, aber dadurch, dass sie Anfang der 2000er zumindest schon im gesetzteren Alter waren, haben sie vielfach nicht so sehr bei den damaligen Angeboten zugegriffen oder aber sich zumindest an irgendeinem Punkt der Weiterentwicklung der Angebote nicht mehr mitgenommen gefühlt.
Die Folge: Viele der heutigen Angebote sind für Senioren überflüssig komplex. Sie müssen sich mit komplexen Datenschutzproblemen auseinandersetzen, müssen Profile bestücken, Funktionen erlernen. Mit ein Grund dafür, warum Rentner eine der kleinsten Gruppen auf Facebook sind – obwohl von manchen Stellen das Gegenteil behauptet wird, weil sich die ganz Jungen anderen Plattformen zuwenden.
Mittlerweile gehört deshalb zu vielen Seniorenportalen ein Chatroom nach klassischem Muster. Hier hat sich noch am allerwenigsten zu den alten Zeiten geändert. Man tauscht sich aus, muss nur schreiben, nicht auf irgendwelche Profile achten und sich teilweise nicht mal anmelden.
Schön simpel also – eine der Stärken, die der Chat immer schon hatte.