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“Ein unfassbares Naturereignis“
Heinz Brandt (44), Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin für Agitation und Propaganda, unterstützt während des Aufstandes die Anliegen der streikenden Arbeiter. Er verliert daraufhin seine Parteiämter und flieht 1958 in die Bundesrepublik Deutschland. Er schildert die Ereignise aus der Sicht eines Parteifunktionärs:
Hilflose Parteiagitatoren
“Am
Dienstag, dem 16. Juni, kamen am frühen Morgen Parteiagitatoren
sie sollten die Bauarbeiter an der Stalinallee politisch aufklären
und sie vor unüberlegten Handlungen warnen fluchtartig
zur Bezirksleitung zurück... Sie waren verstört, ja niedergeschlagen:
Zum ersten Mal erlebten diese jungen Menschen meistens Kursusteilnehmer
der Kreis-Parteischulen, die nun in der Praxis hatten beweisen sollen, was
ihnen an Theorie gelehrt worden war eine echte Aktion der Arbeiterklasse.
Ihnen war unfassbar, dass sie gegen die Partei der Arbeiterklasse
gerichtet war...
Elementare Gewalt
Alle diese Menschen
[führende Parteifunktionäre] überkamen die Geschehnisse, die
jetzt anhuben, wie ein unfassbares Naturereignis. Auf die rettende Formel
vom Tage X, der von außen her den
Imperialisten angezettelt sei, verfielen sie erst, als die russischen
Panzer sie aus ihrer hilflosen Lage befreit hatten...Als ich die Demonstration
erreichte, war sie bereits am Alexanderplatz, dem Zentrum Ostberlins, angelangt
und auf viele tausend Menschen angewachsen. Sie erhielt ständig Zustrom
aus den anliegenden Betrieben, Läden, Verwaltungsstellen und durch Straßenpassanten.
Gerade dadurch bewegte sie sich sehr langsam vorwärts aber mit
unbeirrbarer Stetigkeit und elementarer Gewalt... Zur Regierung, zur
Leipziger Straße, war das Losungswort, das sich nach allen Seiten
fortpflanzte. Die verkehrsregelnden Volkspolizisten standen reglos und verwirrt,
umbrandet von Menschen, die selbst nicht glauben wollten, noch gar nicht begriffen,
was hier geschah. Die Demonstration weitete sich zusehends zu einer allgemeinen
Erhebung aus...
Die Anführer... der Demonstration waren keineswegs
mehr Herr der Situation; sie führten eine Aktion, die in Stunden, ja
in Minuten über ihre ursprünglichen Ziele hinausgewachsen war.
Meine
Mitteilung, dass die Normenerhöhung inzwischen vom Pol-Büro der
SED zurückgenommen worden sei, übte keinerlei Wirkung aus: Das
wollen wir von der Regierung selber hören lautete die Antwort...
[Die Mitteilung] hatte das Gegenteil von dem zur Folge, was Walter Ulbricht
von ihr erhofft hatte. Die Demonstranten gingen nicht nach Hause, sondern
schritten nur entschlossener ihrem Ziel zu. Ihr Kraftbewusstsein hatte sich
erhöht...
Ausnahmezustand
Am Morgen des 17. Juni
stand Ostberlin, stand die DDR im Zeichen der Volkserhebung. Es kam zu tumultartigen
Szenen in den Straßen Ostberlins. Ich sah, wie Funktionärsautos
umgeworfen, Transparente und Losungen, auch Parteiabzeichen abgerissen und
verbrannt wurden...
Als ich kurz vor 13 Uhr in der Bezirksleitung eingetroffen
war, teilte mir Bruno Baum [Sekretär für Wirtschaft der berliner
SED-Bezirksleitung] triumphierend mit, dass unsere Freunde endlich
ein Einsehen gezeigt und die Sache in die Hand genommen hätten: In
wenigen Minuten haben wir den Ausnahmezustand, und dann wird aufgeräumt...
Wehe uns, wenn wir... uns die Macht aus den Händen winden lassen. Jetzt
hat die Sowjetmacht zugeschlagen, und der ganze Spuk ist vorbei... Und tatsächlich,
vom Fenster aus sahen wir die Panzer, die unter den Linden in Richtung Brandenburger
Tor rasselten, um die Sektorengrenze hermetisch abzuriegeln und die Unruhen
im Keime zu ersticken...
In wenigen Stunden waren die Gefängnisse
Ostberlins überfüllt. Sinnigerweise wurden Lagerräume im zentralen
Schlacht- und Viehhof sie standen leer, denn an Fleischvorräten
mangelte es mit verhafteten Streikenden vollgepfercht...“